24.04.2009 / 18:12 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Das universale Subjekt (133-161)


Hinter'm nassen Stein der Wirklichkeit lauert der Weltgeist. (Bild: KhayaL, Lizenz.)
Angenommen, wir befinden uns in der Zukunft und die Hirnforschung hat einen Apparat entwickelt, mit dem man alle Gedanken eines Menschen lesen und sie in das eigene Gehirn übertragen lassen kann. Ich könnte also z.B. alle mentalen Zustände von Aleks Scholz haben. Ich wüsste damit komplett, wie es ist, Aleks Scholz zu sein. Aber ich wüsste nur, wie es für mich ist, Aleks Scholz zu sein und nicht, wie es für Aleks ist, Aleks zu sein. Dafür müsste ich selbst Aleks werden und wäre nicht mehr ich – dann würde ich es aber nicht mehr wissen, da es mich gar nicht mehr gibt. Selbst ein kompletter Scan und eine komplette hirnphysiologische Aufschlüsselung seines ganzen Bewusstseins ändert daran nichts.

Niemand kommt aus seinem eigenen Ich heraus. In der Philosophie wird dieses Phänomen mit dem Satz von der Bewusstseinsimmanenz ausgedrückt: Alles, was ich weiss, ist in meinem Bewusstsein. Denn ausserhalb meines Bewusstseins wäre es nicht mehr ich, der es weiss. Das Paradoxon daran ist, dass ich aber, um etwas über die Gedanken anderer Leute und über die Welt zu wissen, aus meinem Bewusstsein heraus muss – denn ich will etwas über die Welt ausserhalb wissen und nicht nur die Inhalte meines eigenen Bewusstseins. Aber wie bitte kann ich aus meinem Ich raus oder wie können umgekehrt die Dinge der Welt Teile meines Bewusstseins werden, wenn sie doch nicht ich sind? Sie müssten auf irgendeine Weise durch die Bewusstseinsschranke durchtunneln. Wie das möglich sein soll, daran haben sich in der Neuzeit Generationen an Philosophen abgerackert, von Descartes über Kant und Hegel bis zu den modernen Pragmatisten.

Puntel löst dieses Problem nun in einem astreinen fadeaway jumpshot: Dass wir etwas wissen, setzt Sprache voraus, denn Wissen ist uns nur in sprachlicher Form gegeben. Subjekte werden bei ihm von der Sprache her bestimmt und nicht umgekehrt die Sprache von den Subjekten. "Sprache" ist für Puntel nicht einfach ein Kommunikationssystem von Subjekten, sondern Sprache ist – und das ist nun der Skyhook seiner Argumentation – in einem universalen Sinn zu verstehen als diejenige Instanz, welche die Ausdrückbarkeit (Intelligibilität) der Welt auch tatsächlich ausdrückt: Die ganze Welt ist sprachlich-propositional strukturiert. Je mehr sich unser Wissen einklinkt in diese propositionale Struktur der Welt, je mehr wir die Welt selbst in uns sprechen lassen, desto näher ist unser Geist bei der Wirklichkeit. Im Grenzfall geht unsere partikuläre Subjektivität über in das universale Subjekt (S)U, welches mit der objektiven Dimension der Welt koinzidiert:

[(S)ΦI,W/ETp → Tp] ↔ [(S)UTp → Tp]1

Zwischen dem universalen Subjekt und der objektiven Dimension der Wirklichkeit gibt es zwar eine Distinktion, aber keine Distanz mehr: Es ist die Welt aus der Perspektive der Welt. Jede Aussage, die im Bereich des Theoretizitätsoperators (T) liegt, ist eine Selbstartikulation des Seins.

Das ist allerdings schon wieder so ein Punkt, wo mir unheimlich wird: Ist das universale Subjekt nur der Grenzfall einer Idealisierung, eine nur hypothetische Idee, die aber nicht real ist? Unsere wissenschaftlichen Idealisierungen konvergieren zur Perspektive des universalen Denkers, aber das tun sie immer nur relativ zu ihrem Theorierahmen. Wie können sie dann aber zu einem gemeinsamen Punkt konvergieren, wenn es diesen nicht tatsächlich gibt? In irgendeiner Weise muss der universale Denker existieren.

Aber wer ist das? Der Weltgeist?

1 Vgl. S. 155 – 161.

161 von 687 Seiten

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27.03.2009 / 20:04 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Theoretizitätsdimension (99-133)


The unboundedness of being.
(Bild: Image Editor, NASA, ESA and the Hubble Heritage (STScI/AURA)-ESA/Hubble Collaboration, Lizenz.)
Der moderne Antirealismus behauptet, wir könnten die Welt niemals so erkennen, wie sie wirklich ist. Denn wenn wir – auf welche Weise auch immer – den Realitätsbezug unserer Sprache untersuchen wollen und darüber dann eine Theorie formulieren, setzen wir wieder das voraus, was wir eigentlich untersuchen wollen: Dass die Sprache der Theorie die Realität richtig wiedergibt. Wir befinden uns also in einem Teufelskreis. Der Antirealist sagt deshalb: Reden wir nicht mehr über diese Realität jenseits unserer Sprache, das erspart uns die Peinlichkeit. Alles was wir haben können, ist die Welt, wie sie unsere Sprache uns präsentiert.

Der knallharte metaphysische Realismus hält dagegen: Natürlich gibt es eine sprachunabhängige Welt und es ist auch prinzipiell möglich, sie adäquat sprachlich abzubilden. Aber diese adäquate Theorie ist nur möglich aus der Perspektive eines perfekten Denkers ("God's Eye View"). Für uns Menschen liegt das ausserhalb unserer epistemischen Reichweite. Zwischen unserem Denken und der Welt liegt eine abgründige, unüberspringbare Kluft.

Für Puntel ist das alles Quatsch. Denn Sprache und Theorien auf der einen, und die Welt auf der anderen Seite gehören schon längst einer gemeinsamen Dimension an: Der Dimension des Seins. Die Sprache ist nicht begrenzt auf den Bereich des Denkens, die Welt und das Sein liegen nicht ausserhalb der Sprache ("the unboundedness of the conceptual") – und die Sprache liegt nicht ausserhalb des Seins, das Sein ist nicht begrenzt auf die Welt ("the unboundedness of being"). Zwischen der Welt und ihrer theoretischen Darstellung herrscht eine immanente Beziehung. Wenn der Mathematiker, der Logiker, der Theoretische Physiker und der Metaphysiker voll theoretisieren, dann denken sie nicht in einer abgeschlossenen Sphäre vor sich hin, dann sind die Strukturen ihrer Theorien identisch mit den Strukturen der Welt. Es kommt nur darauf an, dass sie wirklich voll theoretisieren, d.h. je kohärenter, je intelligibler und je vollständiger ihre Theorien werden, desto mehr stabilisieren sie sich hin zur Struktur des Universums selbst.1

Und überhaupt: Indem wir Sein und Existenz als solches erfassen, erfassen wir schlechthin alles, was ist, das ganze Universum und das Sein im Ganzen. Dann gibt es nichts und kann es nichts geben, was für unsere Theorien grundsätzlich niemals erfassbar wäre. Denn alles ist seiend, auch die Entitäten, von denen wir sonst keinerlei Ahnung haben, ja nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt. Wenn wir also die immanenten Strukturmerkmale des Seins selbst erfassen, erfassen wir die innersten Strukturmerkmale von schlechthin allem, was existiert. Eine voll durchgezogene Seinstheorie ist semantisch koextensional mit dem Universum als Ganzen.

Nichts anderes schwebt Puntel vor: Eine universale Seinstheorie. Und wie der Mathematiker und Physiker ihre theoretischen Sprachen haben, so braucht auch der Seinstheoretiker eine adäquate Sprache für sein Unterfangen. Diese wird bestehen in einem semiotischen System mit überabzählbar unendlich vielen Ausdrücken. Und genau dieser Wahnsinn wird jetzt Stück für Stück auf uns zukommen im Fortgang von "Struktur und Sein".

1) Hier spielt vorallem rein, was in Kap. 2.2.3.1 steht. Das ist besonders wichtig für das ganze Buch. Das syntaktische Kriterium für die Theoretizität von Sätzen ist, dass ihnen der Theoretizitätsoperator (T)φ vorangestellt werden kann. Das semantische Kriterium ist, dass es sich nur um Sätze handelt, die auf objektive Wahrheit abzielen. Es ist dann auch eine Kombination von Operatoren möglich, z.B. theoretische Aussagen über pragmatische, ästhetische oder ethisch-praktische Aussagen, z.B. (T)(P)φ. Der Theorieoperator (T)φ kann selbst aber nicht mehr im Skopus anderer Operatoren stehen.

133 von 687 Seiten

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13.03.2009 / 19:04 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Intelligibel, intelligabel, intelligubel (70-98)


Intelligibilität und Kohärenz sind des Glückes Unterpfand. (Bild: lambda_X, Lizenz.)
Lazarus-Zeichen in der Lesemaschine. Es geht hier mal wieder im Schneckentempo weiter. Aber ein Werk, dass man in 200 Jahren noch lesen wird, kann man ruhig auch mal über 200 Jahre hinweg durchbesprechen. Vielleicht setzen sich dann ein paar Dinge dieses ausgesprochen verzwickten Textes ein bisschen besser. So wie hier bei Kap. 1.5, das fand ich ja schon wieder richtig anstrengend.

Anstrengend, aber auch spannend: Denn es geht darum, wie man philosophische Theorien eigentlich begründet. Wirklich keine schlechte Frage. Wenn ich mich an meinen geliebten Monsieur Descartes erinnere, dann drehte sich da alles darum, dass ein absolut gewisser Punkt gefunden wird, von dem aus man sich alles weitere zusammenbaut. Fast die ganze Neuzeit ab Descartes versucht es auf diese Tour: Man sucht nach absolut wahren Axiomen, die das Gebäude der Philosophie als unerschütterliches Fundament tragen (der sog. Letztbegründungsimpetus).

Aber schon bei Descartes schien das nicht so richtig zu klappen. Er hatte alles, ausnahmslos alles in Zweifel gezogen, bis zu dem Punkt, wo sich der Spaten der Reflexion umbiegt: Cogito, ergo sum. Daran kann man nicht mehr zweifeln, das ist absolut sicheres Wissen, selbst wenn alles andere drumherum falsch ist. – Das Problem ist aber leider, dass es überhaupt keine solchen völlig isolierten Erkenntnisse geben kann (zumindest wären sie dann inhaltlich leer). Wissen bedeutet immer, etwas in Beziehung zu anderem zu setzen: Es geht darum, wie die Dinge untereinander zusammenhängen. Erkenntnis ist immer ein Netzwerk, kein System von jeweils für sich wahren Einzelsätzen. Man kann aus solchen isolierten Erkenntnissen auch keine Folgerungen ziehen, denn schlussfolgern kann man nur als allgemeinen Zusammenhängen. Zudem setzt jede Erkenntnis einen ganzen Sack von Sachen voraus, z.B. eine Sprache, eine Logik, usw., in Puntels Worten: Einen Theorierahmen.1

Genau das war dann auch bei Descartes das Problem: Er musste, um von seinem Cogito, sum wegzukommen, ein paar allgemeine Wahrheiten voraussetzen, wie z.B. das Nichtwiderspruchsprinzip und das metaphysische Kausalprinzip. Descartes' radikaler Zweifel selbst setzte sogar diese Prinzipien voraus. Von daher ist es mir sehr verständlich, wenn Puntel sagt: Leute, so absolut wahre Axiome, das geht schonmal echt gar nicht; Theorien sind keine Gebäude, die auf so Axiomen-Fundamenten aufruhen, sondern sie sind holistische Netzwerke. Die Frage nach der Wahrheit der Theorie stellt sich nicht am Anfang bei den Axiomen, sondern erst danach, wenn das ganze Netzwerk halbwegs schön zusammengebaut ist.2

Die Philosophie von "Struktur und Sein" ist so ein Netzwerk. Sie ist (um ein Bild von Alan White zu verwenden) wie eine Raumstation, die ihre Stabilität nicht von Fundamenten erhält, sondern davon, wie stark ihre Bauteile miteinander verankert sind. Und die Puntel-Raumstation schwebt auch nicht isoliert im leeren Weltall, sondern sie spannt sich wie ein Spinnennetz über das gesamte Universum, von Unendlichkeit zu Unendlichkeit; denn sie erfasst das Sein als solches und als Ganzes – jedoch in ihrer Struktur recht lückenvoll und nicht so feinmaschig wie das Universum selbst (remember: Das universe of discourse ist die vollkommene unendliche Struktur selbst).3

Doch bis diese unfassbare Raumstation fertig ist, muss noch viel gesponnen und vernetzt werden. Dabei kann es hier nicht ohne Puntel und Komma weitergehen, sondern wie gehabt in Abschnitten und mit Kaffeepausen.

1) Damit steht Puntel auch hier (wie schon in Sachen universaler Ausdrückbarkeit des Seins) dem Mittelalter näher als der Neuzeit. Auch die Scholastiker sahen Theorien mehr als Netzwerke.

2) Kriterien für die Güte einer Theorie sind dann ihr Grad an Kohärenz und Intelligibilität, wobei letztere ein Massstab für erstere ist. Allerdings finde ich 'Kohärenz' bis jetzt einen recht unklaren Begriff in dem Werk: Sie steht irgendwo in der Mitte zwischen Ableitbarkeit zweier Subtheorien auseinander (T0 ⊨ T1) und ihrer Widerspruchsfreiheit (¬(T0 >−< T1)).

3) Das schlägt sich auch im Aufbau des Buches selbst nieder. Wird vielleicht schon dem einen oder anderen aufgefallen sein, dass die Kapitel alle total miteinander verwoben sind, und nicht stur linear fortfahren. "Struktur und Sein" hat kein continuity editing, sondern ist eher der Atom-Egoyan-Film unter den Philosophiebüchern.

98 von 687 Seiten

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01.02.2009 / 16:51 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Puntel reloaded (55-70)


Im Fiat Puntel auf dem Highway durch das noch nebulöse universe of discourse.
(Bild: Boby Dimitrov, Lizenz).
Was das vorzügliche, aber leicht harzige Werk Lorenz Puntels angeht, so habe ich jetzt einen Monat hier den Schlendrian raushängen lassen. Zu viele andere Dinge wollten gelesen werden. Zudem besitze ich jetzt ein Banjo1, und ich konnte vorher auch nicht wissen, dass dieses Instrument ungefähr soviel Aufmerksamkeit kostet wie eine Freundin oder aber ein Puntelbuch. Ich habe den Brocken in Zwischenzeit zwar einmal ganz durchgelesen, aber das nur mit wenig Konzentration und noch weniger Verstand.

Zudem habe ich auch noch jemand anderes gelesen, nämlich Hegel. Zumindest ein wenig in der Phänomenologie des Geistes und in Wissenschaft der Logik.2 Das ist in Bezug auf Puntel wirklich sehr interessant, denn irgendwie scheinen mir doch ziemlich viele Denkfiguren Hegels auch bei Puntel vorzukommen. Sowohl was das Kluft-Problem angeht als auch so Sachen wie die Kontextualität der Sprache und dass die Wirklichkeit kein isoliertes Ding hinter unserer Erfahrung ist, sondern einen riesigen kohärenten Zusammenhang bildet und dass die Wahrheit das Ganze ist.

Puntel ist natürlich modern und von hoher formaler Klarheit. Es wird insbesondere nicht einfach drauf los philosophiert und im Nebel herumspekuliert, sondern erstmal wird in 1.4 die Methode geklärt, nach der philosophiert werden soll. Allein da dampft mir aber schon das Hirn. – Puntel bringt vier notwendige Stufen zur Bildung einer (struktural-philosophischen) Theorie:

1. Aufbau und Inventivmethode: Es gibt irgendwelche Daten im universe of discourse (oder das universe of discourse selbst), und die werden gemäss der Kohärenzmethodologie in einer minimal geordneten Theorie als Theorienmaterial bereitgestellt.
2. Theoriekonstitutive Methode: Das Theorienmaterial aus 1. wird in eine strenge struktural-philosophische Theorie eingepflegt, d.h. die Ordnung der Daten wird umfassend expliziert (in einer kohärenzial-netzstrukturalen Theorieform mit evtl. axiomatischen Subtheorien).
3. Systemkonstitutive Methode: Die in 2. entstandenen einzelnen Theorien werden wieder kohärenzial in ein holistisches Ganzes eingebettet, ein Theoriennetzwerk als Struktur von Strukturen.
4. Prüfung der theoretischen Adäquatheit und des Wahrheitsstatus ("inference to the best systematization").

Dahinter steckt eben wieder der Grundgedanke des universalen Zusammenhangs von allem mit allem: Alle Entitäten involvieren sich gegenseitig. Ihre Relationen untereinander haben zyklischer Charakter, daher ist die Netzwerkform von Theorien angemessener, je umfassender die Theorie sein soll. Die Wahrheitsfrage wird dann an das Theoriennetz als Ganzes gestellt (S. 68f.), die Wahrheit einer einzelnen Aussage kann nur relativ zu einem ganzen Theorierahmen festgestellt werden: Die Wahrheit ist das Ganze.

Hegel lässt grüssen.

____

1 Möchte irgendwer mit mir mal eine Bluegrass-Band gründen?

2 Ein schönes Reclam-Bändchen ist übrigens: Gerhard Gamm, "Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling", Stuttgart 1997.



Tolle Ausdrücke, die ich mir merken sollte: Theoretizität, Systematizität, Kohärenzmethodologie, holistisch-netzwerkstrukturale kohärenziale Methode, Explizitprädikat, kognitive Systematizität, "eine Möglichkeit explizit implizieren", subsystematische Ebene.
Dinge, die ich mir nie merken werde: Die vier Bedeutungen von "Axiom" (S. 63) und der Begriff des Modells in der informellen und formalen Hilbertschen Axiomatik im Unterschied zum Modell in informellen mengentheoretischen Axiomatik. Ächz.

70 von 687 Seiten

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13.01.2009 / 01:16

Wo rohe Kräfte sinnlos walten

Wo in meinem letzten Beitrag die Rede von Erkältungsnasen war, trifft es sich, dass die Erkrankung Ihres geschätzten Lesemaschinisten auch die Lektüre eines weiteren Buchs ermöglichte:
Heinz Strunks Roman-Zweitling »Die Zunge Europas«, der wie schon die »Whalestoe Letters« dank weihnachtlicher Schenkungsfreude den Weg in meinen Schoss fand. Nach »Fleisch ist mein Gemüse« war die Vorfreude nicht gering – und nun versuche ich mit Hängen und Würgen auch »Die Zunge Europas« toll zu finden. Oder es wenigstens sortiert zu bekommen.

Hauptperson und Ich-Erzähler ist Markus Erdmann, ein nicht berauschend erfolgreicher Gagautor, der auf der Habenseite ein mittelmässig erfolgreiches Bühnenprogramm hat, mit dem ein mittelmässig erfolgreicher Kabarettist durch die Gegend tingelt. Die Beschreibung von Programm und Bühnenfigur erinnert mich an Dirk Bielefeldt alias Herr Holm, aber das mag unbegründete Paranoia sein.

Relativ schnell kommt man auch dahinter, warum M. Erdmann derart ausgesprochen nicht-so-erfolgreich ist. Er ist über weite Strecken damit beschäftigt, seine Umwelt scheisse zu finden. Sich selbst irgendwie auch, aber letztlich doch noch lang nicht so scheisse wie zum Beispiel die Gagschreiber der diversen deutschen Comedy-Phänomene, die Honks im Tanzschuppen oder die ausführlich beschriebenen ungepflegten Dicken und Arbeitslosen in der Strassenbahn und an der Frittenbude1. Obwohl auch Erdmann seinerseits grosser König im Herumgammeln und Unterschichtenfernsehengucken ist. Ich bin zwiegespalten. Einerseits sind die Beschreibungen einiger Sendungen wie »Britt« oder »RTL Shop« treffend und amüsant. Andererseits auch ausgesprochen unaufregend, weil ich das Gefühl habe, dass für mich das weite Feld der TV-Untaten in Gesprächen im Bekanntenkreis bereits seit einiger Zeit ausführlich abgegrast ist und letztgültig ad acta gelegt wurde. Ja, TV ist zwischendurch ganz schön schlecht und in dieser Schlechtheit oft auf seine Art lustig. Aber wem erzählt Strunk das? Die Nicht-Honks, die er erklärtermassen gern zum Publikum hätte (wofür auch die Gagschreiberschelte in »Die Zunge Europas« ein weiterer Beleg ist), wissen das doch längst.

Ich habe meine liebe Not mit diesem Buch, vor allem, weil mich das Gefühl beschleicht, dass es eine Restesammlung ist. Ich glaube nämlich: Diverse Notizen aus der Vergangenheit – »überlegenes Material« – die in Hörspielen nicht zur Verwendung gebracht werden konnten, wurden hier mal mehr mal weniger passend aneinandergeklatscht. Dazu passt die banale Tiefschürfigkeit von Ende und Moral: Nachdem er lange Zeit um sich und die Nervigkeit seiner Umwelt kreiste, will Markus Erdmann nun etwas ändern – ein Buch schreiben, sich aus der öden Beziehung verabschieden, so Sachen. Schliesslich hat er nur ein Leben. Da hatter natürlich Recht.

1 Derart detailreich ist Strunks Erzählweise wenn es darum geht, schwitzende speckige Menschen zu beschreiben, dass mich nicht weiter wundert, dass die Aufmachung seines in Kürze erscheinenden Werks »Fleckenteufel« die Vermutung nahe legt, dass es sich um eine Antwort auf Charlotte Roches »Feuchtgebiete« handeln wird.

André Fromme / Dauerhafter Link


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