16.07.2010 / 20:05 / Kathrin Passig liest: Geschichte der Eisenbahnreise (Wolfgang Schivelbusch)

Das Internet von damals (1-9)


Einige Nachfolger der Dampfmaschine, Black Country Living Museum, Dudley. Vorne rechts junge Briten in einem "Little Willie"-Panzer (1915).
Foto: Franziska Leonsen
Wolfgang Schivelbuschs "Geschichte der Eisenbahnreise – Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert" fängt mit Newcomens atmosphärischer Dampfmaschine an. Die Newcomen Engine war die erste Dampfmaschine der Welt, und ich fühle mich ihr persönlich verbunden. Im Januar war ich zum Tough Guy Contest mit Angela, Franziska und Aleks nach Wolverhampton gereist, das im "Black Country" liegt, im 18. und 19. Jahrhundert eins der Haupt-Kohlereviere Grossbritanniens. Es heisst, das Black Country habe Tolkien als Vorbild für das Land Mordor gedient. Heute ist es dort wieder grün, und man kann die Mordorverhältnisse im Black Country Living Museum besichtigen. Wo andere Freilichtmuseen alte Schweinerassen und Wassermühlen enthalten, regieren hier die Industrialisierung und die Kohle auf einem Gelände, zu dessen Besichtigung man eigentlich den ganzen Tag bräuchte.

Weil wir nicht den ganzen, sondern nur einen halben Tag Zeit hatten, bevor wir uns auf der Mr. Mouse Farm For Unfortunates einfinden und registrieren mussten, warfen meine Mitreisenden nur einen Blick durch die Tür in den Raum, in dem eine working replica der nur ein paar Kilometer weiter erfundenen Newcomen Engine steht. Sie füllt ein ganzes Haus, das so aussieht. Manchmal läuft sie auch. Das sieht dann so aus. An diesem Tag stand sie jedoch still, und im Inneren des Hauses war ungefähr das hier zu sehen, nur viel mehr davon. Die Newcomen Engine wirkt wie vom Dorfschmied aus alten Zinkbadewannen zusammengeklopft, was im Grossen und Ganzen den Tatsachen entspricht. Sie ist ein enormes Ding in ihren Ausmassen wie in ihren Auswirkungen. Ich betrachtete sie eingehend und las alle Tafeln durch, falls ich eines Tages in eine Zeitmaschine geriete und dem Mittelalter die Dampfmaschine erklären müsste. Man will dann ja nicht nur mit Rindenboot, Teelicht und ausgeblasenem Ei dastehen. Den Tafeln war zu entnehmen, dass der Kolben sich in der Newcomen-Engine wieder zurück in die Ausgangsposition bewegt, weil man kaltes Wasser in den Zylinder spritzt. Heute gibt es dafür elegantere Lösungen, ich weiss zwar noch nicht, welche, aber gebt mir ein paar alte Badewannen und einen Dorfschmied, dann kommen wir klar, das Mittelalter und ich. Ich lief den anderen nach und sagte: "Das ist das Internet von damals! Und ihr geht einfach so dran vorbei!"

Bei Schivelbusch heisst es, die Newcomen-Dampfmaschine habe zum ersten Mal "im Kohlerevier von Newcastle" Anwendung gefunden. Aber das stimmt nicht. Es war genau dort, in Mordor, und ich war quasi dabei. Was sind schon 200 Jahre unter Freunden.


13.07.2010 / 18:13

Ratlosigkeit und Stagnation

Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Margarine Wal enthält. In den 1930er Jahren wurden 30-50 Prozent der europäischen Margarine aus Wal hergestellt. Besonders beliebt war Walmargarine in Deutschland, Grossbritannien und Holland. Dass das eklig ist, darauf wiesen bald auch die Nazis in einer Kampagne zur Stärkung der deutschen Butter hin. Dem Wikipediaeintrag "Deutscher Walfang" kann man Wörter wie "Speckschneidermaat" entnehmen.

"The Shock of the Old" ist ein Buch voller Zahlen, Daten und schöner Fakten, die aber die Grundidee nicht weiter voranbringen. In den letzten beiden Kapiteln geht es noch einmal zusammenfassend darum, dass und warum man Erzählungen von der Art und Logik des technischen Fortschritts skeptisch betrachten soll. Implizit kann man dem Buch auch entnehmen, dass es ratsam ist, erst Fakten zu sammeln und dann Dinge zu behaupten. Das macht mir Sorgen, denn ich halte es eigentlich meistens umgekehrt. Einmal in meinem Leben habe ich wirklich gründlich sämtliche Fakten zu einem Sachverhalt gesammelt. Das dauerte einige Jahre und kostete einen Grossteil meines damaligen Einkommens. Das Ergebnis interessierte niemanden; ich hätte eine Doktorarbeit daraus machen können, die dann auch keinen interessiert hätte. Was soll man daraus jetzt lernen?

Mit dem Vortrag bin ich auch noch keinen Schritt vorangekommen.

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09.07.2010 / 16:54 / Kathrin Passig liest: The Shock of the Old (David Edgerton)

Mühsame Fortschritte


Alles meins, meins!
Inzwischen besitze ich Haftmarker in mehreren Grössen und mit praktischem Lesezeichenclip, aber bei "The Shock of the Old" ist das alles keine grosse Hilfe. Auf jeder Seite stehen zahllose schöne Fakten über Atombomben, Ochsen, Spinnräder, Traktoren und Eternit, aber wenn ich am Ende der Kapitel versuche, eine zusammenhängende Idee dahinter zu erkennen, scheitere ich. Vielleicht ist es die Hitze, vielleicht liegt es an David Edgerton. Was ich bisher dazugelernt habe, ist bescheiden:

- Eventuell (d.h. wenn Edgerton recht hat) war der Einsatz von Atombomben im Zweiten Weltkrieg weder billiger noch effizienter als konventionelles Bombardieren. Eventuell wären die Deutschen besser beraten gewesen, zum Preis der V2 stattdessen 24.000 Kampfflugzeuge zu bauen. Eventuell stimmt auch die Geschichte von der Kriegsverkürzung durch den Einsatz von Atombomben in Japan nicht, aber da wüsste ich dann doch gern mehr, als Edgerton auf zwei Seiten erklärt, bevor ich mich mit Scot Stevenson von USA erklärt anlege.

- Im Zweiten Weltkrieg kostete es 500 Millionen US$, eine Stadt auf die eine oder andere Art zu zerstören. Ist ja auch nützlich, da mal konkrete Zahlen zu kennen, bevor man leichtfertig beschliesst, irgendwas zu bombardieren.

- Eine neue Technologie muss sich nicht an einem Paralleluniversum messen lassen, in dem gar nichts Vergleichbares existiert, sondern an ihren Alternativen. Im Vergleich zu diesen Alternativen sehen Technologien offenbar zu jedem Zeitpunkt nur wenige Prozent besser aus.

- Nach einer Studie von 2003 gab es zu diesem Zeitpunkt in Grossbritannien unbenutzte Haushaltsgeräte im Gegenwert von 3,2 Milliarden Pfund, darunter 3,8 Millionen brachliegende Fonduesets.

- "Much of the discourse on technology is a commentary on philosophical and other writings on technology. There is a danger that descriptions of technology turn into realities which are used to explain the nature of modern society."

- Es gibt ein Wort für "maintenance engineering": Terotechnology.

- Reparatur- und Wartungsarbeit existiert losgelöst von der Massenproduktion und hat wenig bis gar nichts mit ihr zu tun.

- Wenn eine Fertigungsanlage komplett durchautomatisiert wird, kann es passieren, dass die zusätzlich entstehenden Wartungskosten die Arbeitsersparnisse übersteigen. Vielleicht hat Michael Brake doch recht mit seiner Zukunftsvision einer Systemadministrokratie.

Nutzen für den Innovationsvortrag bisher: Keiner bzw. ein negativer, denn ich weiss jetzt weniger als vorher. Was natürlich immer gut ist, nur nicht gerade dann, wenn man einen halbstündigen Vortrag halten soll.

87 von 212 Seiten


08.07.2010 / 13:42 / Kathrin Passig liest: The Shock of the Old (David Edgerton)

Die neuen Dinge

Ich lese "The Shock of the Old – Technology and Global History Since 1900" auf Empfehlung von Philipp Albers zur Vorbereitung auf einen Vortrag über "Innovation", den ich demnächst halten soll, das Datum habe ich erfolgreich verdrängt, es ist jedenfalls weder heute noch morgen. Das Buch knüpft offenbar da an, wo meine Erkenntnisse aus dem Strombuch endeten: Unsere Wahrnehmung einer neuen Technologie hat wenig damit zu tun, was sie leistet und viel mit der Erzählung, die sie umgibt. Oft ist das eine Erzählung vom Weltfrieden, von der Emanzipation der Schwachen und vom Untergang alter Hierarchien zugunsten einer Meritokratie.

Den Vortrag habe ich freiwillig zugesagt, ich hätte gern mindestens ein zweites berufliches Standbein, besser noch ein drittes und viertes. Bis vor wenigen Jahren hatte ich alle diese Beine, und jetzt bin ich finanziell fast vollständig von der Verlagsbranche abhängig, einer Branche, deren Zukunft mir umso mehr Sorgen macht, als man dort offenbar immer noch ganz unbesorgt in die Zukunft blickt. So it goes. Für ein paar Wochen dachte ich "vielleicht Vorträge!", schliesslich werde ich regelmässig eingeladen, über irgendwas zu reden, wovon ich auch nicht weniger verstehe als andere. Ich halte sehr schlechte Vorträge, es sei denn, ich bin vorbereitet, dann halte ich mittelmässige Vorträge. Inzwischen glaube ich, Vorträge sind auch keine Lösung. Vielleicht macht es die Verlagsbranche ja auch noch eine Weile. Meine Vorstellungen davon, wie schnell sich die Welt durch Innovationen verändert, waren schon bisher nicht die präzisesten, warum sollten sie es diesmal sein?

"The Shock of the Old" ist, sagt der Autor, anders als andere Bücher über Technologiegeschichte nicht "for boys of all ages", sondern für Erwachsene geschrieben. Es wird um "use-centred history" gehen, um Dinge statt um Technologien, um die unordentlichen Wege des Fortschritts, die Überschätztheit von Innovationen und die gleichzeitige Existenz verschiedener Lösungen für dasselbe Problem. Auf den ersten Seiten altere ich wie vorgesehen um zwanzig Jahre, danach passiert erst mal nicht mehr viel.

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21.06.2010 / 12:02 / Kathrin Passig liest: Tagebücher Band 5, 1943-1945 (Joseph Goebbels)

Von Goebbels lernen heisst Optimismus lernen

Nur weil es an allen Ecken und Enden des Reichs brennt, muss man sich nicht gleich mädchenhaft anstellen. "Aber ziehen wir aus der gegenwärtigen Situation die nötigen Konsequenzen, so kann von einem Untergang überhaupt nicht mehr die Rede sein; im Gegenteil, wir werden dann in Bälde einen Aufstieg nehmen, wie wir ihn uns heute noch gar nicht vorstellen können. Der Krieg wird seinen kritischen Punkt bald überschreiten, und dann wird es zuerst in der Heimat und dann an den Fronten wieder vorwärtsgehen." (23.7.1944) Was soll schon passieren, schliesslich "stellt sich heraus, dass wir mit Ausnahme der Luftwaffe auf allen Waffengebieten unseren Feinden überlegen sind." (2.12.1944) und die Lage ist "für den Feind düster und ziemlich aussichtslos". (20.12.1944) Je schwieriger die Lage, desto besser steht man natürlich da, wenn man das Steuer herumreisst: "Sollte dem Führer eine Wendung der Dinge gelingen – und ich bin fest davon überzeugt, dass einmal die Gelegenheit dazu kommt –, dann wird er nicht der Mann des Jahrhunderts, sondern der Mann des Jahrtausends sein." (29.1.1945)

Wenn ich in den nächsten drei Runden immer nur auf meinen eigenen Strassen lande, aber alle anderen Mitspieler in jeder Runde in meinem Hotel in der Badstrasse wohnen müssen, bin ich saniert! "Das Programm, das der Führer mir hier entwickelt, ist grosszügig und überzeugend. Nur krankt es vorläufig daran, dass keine Möglichkeit zu seiner Verwirklichung gegeben ist. Diese Möglichkeit muss erst durch unsere Soldaten im Osten geschaffen werden. Wir haben als Voraussetzung dafür einige respektable Siege nötig; aber nach Lage der Dinge könnte angenommen werden, dass diese zu erreichen wären." (12.3.1945) Das leuchtet ein, aber was ist mit den Löchern im Westen? "Im übrigen ist der Führer der Überzeugung, dass er in etwa acht bis zehn Tagen die Löcher im Westen wieder notdürftig zuflicken wird." (31.3.1945) Ach so, na dann.

Schon am 28. März 1944 wurde zwar selbst Goebbels der Krieg "langsam etwas über", ein Jahr später klagte er "Angenehme Nachrichten erhält man fast gar nicht mehr", und am 8. April 1945 hatte er einen geradezu nachdenklichen Moment: "Man stellt sich manchmal verzweifelt die Frage, wohin das führen soll." Der ging aber gleich wieder vorbei: "Aber ich habe doch die Hoffnung, dass [der Führer] diese Situation meistern wird. Er hat es ja immer verstanden, mit einer souveränen Ruhe seinen Augenblick abzuwarten. Ist der Augenblick aber gekommen, dann pflegt er auch immer mit beiden Händen zuzugreifen."


Ohne den Krieg gäbe es diese Kletteranlage gar nicht (Berlin, RAW-Gelände. Foto: Passig)
Man muss einfach positiv denken: "Der Führer ist der Überzeugung, dass, so schlimm der feindliche Luftterror augenblicklich, insbesondere für unsere mittelalterlichen Städte, ist, er doch auch insofern etwas Gutes hat, als er diese Städte überhaupt für den modernen Verkehr aufschliesst." Überhaupt seien die zerstörten Kunstwerte gar nicht alle unersetzlich: "Wenn beispielsweise von der mittelalterlichen Schönheit des Kölner Doms gesprochen und geschrieben wird, so vergisst man meist, dass der Kölner Dom ja erst im 19. Jahrhundert das geworden ist, was er heute ist." (14.3.1944) Da gibt es sicher noch einige viel zu selten beachtete Aspekte, etwa den Kostenvorteil durch die Einsparung von Abrissunternehmen, die Belebung des Baugewerbes und auch die Tatsache, dass alte Gebäude und Kunstwerke oft ziemlich hässlich sind. Ein kleines Land ist ausserdem viel leichter regierbar als ein grosses, unpraktisches Imperium, Beispiel Römisches Weltreich. Und nicht zu vergessen: Das Geplünderte ist ja nicht weg! Es hat jetzt nur jemand anders.

Es ist wahrscheinlich alles eine Frage der richtigen Philosophie. "Wozu überhaupt aus dem Bett aufstehen", fragt sich der einfache Bürger, "wenn doch jederzeit ein Mondeinbruch in die Erde stattfinden und dieser ganze Planet in Feuer und Asche aufgehen kann?" Nicht so Hitler: "Er sagt mir zum Beispiel, dass es nötig sei, für sein Volk zu arbeiten, aber dass auch das nur begrenztes Menschenwerk sein könne. Wer wisse, wann wieder einmal ein Mondeinbruch in die Erde stattfinde und dieser ganze Planet in Feuer und Asche aufgehen könne. Trotzdem aber müsse es unsere Aufgabe sein, unsere Pflicht zu erfüllen bis zum Letzten." (28.2.45)

Obsolete Praktiken:
jemandem Korsettstangen einziehen
mit jemandem Fraktur reden
vom Führer völliges Vertrauen entgegengebracht bekommen und deshalb aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen brauchen
Wunder in der Wiederaufrichtung der Manneszucht vollbringen
jemanden niederlegen lassen

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