05.04.2010 / 00:14 / Kai Schreiber liest: The Science of Fear (Daniel Gardner)

Eine Liebe von Dan (11-86)


Oregon
Ich hatte ja keine Ahnung! Hätte ich gewusst, dass Daniel Gardner in Paul Slovic reinverliebt ist, ich wäre vorsichtiger gewesen mit meinem Spott in der letzten Folge. Die Wahrheit über Betrunkene und Verliebte ist ja schliesslich, dass man sie ihnen nicht sagen soll: wenn gefühlt jede zweite zitierte Studie im Buch von Paul Slovic ist, ist das vielleicht für mich eine interessante Beobachtung, aber Dan Gardner will das vermutlich gar nicht wissen. Und vielleicht irre ich mich ja auch, und Paul Slovic in Oregon ist der wichtigste Risikoforscher der Welt. Jemand also, der genau weiss, dass man zuerst Australien besetzt, weil es so einfach abzusichern ist, dass Asien in der Regel nicht zu halten ist, und dass man die Verbindung von Alaska nach Kamtschatka nicht vergessen darf. Und er muss deshalb eben so oft drinstehen im Buch.

Ausserdem verwirrend, abgesehen von dieser unter-, nein, das ist nicht mehr unter, dieser schwelligen Liebesgeschichte, ist, dass auf dem Cover als Untertitel, oder Obertitel, oder wie heisst das Kleingedruckte über dem eigentlichen Titel denn, dass da jedenfalls "How the Culture of Fear MANIPULATES YOUR BRAIN" steht. "MANIPULATES YOUR BRAIN" steht in einer Extrazeile und ist wirklich zwar in kleinen Lettern, aber sinnlos kapital geschrieben, sieht aber seltsamerweise trotzdem ganz vernünftig aus. Vielleicht habe ich mir sogar nur deshalb dieses Buch gekauft, in der Hoffnung, dass mir mal ordentlich das Hirn durchmanipuliert wird.

Dieser Obertitel steht da also, und bei "Fear MANIPULATES YOUR BRAIN" fiel mir altem Neurohasen natürlich sofort die Amygdala ein. Bestimmt gehts in diesem Buch um die Amygdala, dachte ich, endlich erfahre ich mal was über die Amygdala, und jetzt bin ich schon auf Seite 86 und bislang: mandelkernloses Rumgeeier. Der Mensch sei nicht rational, Entscheidungen fälle der Bauch und der Kopf fabuliere dazu, wir nutzten die Instinkte der Höhlenmenschen in dieser fabelhaften zukünftigen WELT DER ZUKUNFT, jaja, bla, bla. Schön und gut, stimmt sicher auch, wenn Paul Slovic das sagt, aber wo bleibt die bestellte Culture of Fear? Und wann MANIPULIERT SIE mir endlich MEIN bescheuertes GEHIRN auf links? Ich warte.

Kai Schreiber / Dauerhafter Link


21.03.2010 / 13:12 / Kai Schreiber liest: The Science of Fear (Daniel Gardner)

Fürchtet Euch (1-10)

Dieses Buch, das macht schon der Schmutztitel klar, muss toll sein. Denn Paul Slovic, Professor für Irgendwas an der Uni von Oregon, sagt "Some books can change the world. This one might", und der Verlag – statt das hübsche Stück Stacheldraht in einer Schublade verschwinden zu lassen – posaunt die Beleidigung furchtlos in die Welt hinaus. Nachdem ich dieses Buch gelesen habe, werde ich bestimmt genauso furchtlos sein. Das wird fein.

Und es geht auch gleich schön los, mit der originellen Umdeutung eines Stücks moderner Angstgeschichte. Knapp 3000 Menschen starben, als das World Trade Center zusammenbrach. Noch einmal geschätzte 1600 starben im Jahr danach auf den Strassen, über die durchschnittlichen Verkehrstoten der Jahre vorher und nachher hinaus, weil aus Angst ganz Amerika nicht mehr mit dem Flugzeug, sondern mit dem Auto Zigaretten holen ging. Angst machen Menschen tot, der Hook ist gesetzt, und dann, nachdem er Verbesserungen der Lebensqualität rund um den Globus gelistet hat, treibt Gardner ihn noch etwas tiefer rein: "We are the healthiest, wealthiest and longest-lived people in history. And we are increasingly afraid. This is one of the greatest paradoxes of our time."

Das wäre ein toller Aufhänger fürs Buch, wenn es denn stimmte. Aber Angst hat man, wenn man etwas zu verlieren hat, und wir haben, wie Gardner selbst grade bewiesen hat, mehr zu verlieren als je ein Mensch zuvor: Schmaradox. Ich hoffe, ich muss mich nicht bei Paul Slovic in Oregon beschweren.

Kai Schreiber / Dauerhafter Link


31.07.2008 / 06:37 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Macht macht mächtig (496-636)


"Give orange me give eat orange me eat orange give me eat orange give me you." – Nim Chimpskys längster Satz. Ob in Robert Moses' längstem Satz auch Orangen vorkamen, ist nicht bekannt.
Als wir Moses verlassen haben, wurde er grade vorausschauend für New Yorks Selbsterwürgung mit Autoschlangen verantwortlich gemacht. Das ist zwar ein angesichts seiner selbstherrlichen Strassenbauprojekte monströsen Ausmasses nicht ungerechtfertigter Vorwurf, aber so mächtig kann ein einzelner Mann doch nun auch wieder nicht sein, dass man ihm allein den Verkehrskollaps eines der grossen Zivilisationszentren anhängen könnte. Und was überhaupt konnte wohl noch Fürchterliches kommen, nachdem schon meilenweise böse Strassen gebaut waren? Das Buch bekam ein Lesezeichen reingeschoben, und einen Ehrenplatz.

Und während der dicke Ziegelstein neben dem Bett Staub ansetzte, wurde ich ihm mehrfach untreu – jedenfalls insofern ein Liebesverhältnis als Metapher fürs Lesen nicht sowohl zu dämlich als auch zu gegenseitig wäre. Unter anderem betrog ich Moses mit der Geschichte von Nim Chimpsky, dem Schimpansen, mit dem die Psychologie der Linguistik heimleuchten wollte. Am Namen, der dem Tier gegeben wurde, kann man sowohl ablesen, dass es gegen Chomskys These nur der Mensch habe die Fähigkeit zur Sprache gehen soll, als auch, dass das Tier eine abhängige Grösse ist, seine Individualität nur von Interesse, wo sie der Veröffentlichung und dem Argumentieren dient. Das Experiment war ein Fehlschlag, mit hunderten affenseits gelernter Vokabeln, aber keiner nachweisbaren Grammatik in ihrer Anwendung. Nach dem Ende wurde das jahrelang in einer Familie an der Upper West Side aufgezogene Tier, das sich selbst für einen Menschen halten musste, dann leidend und depressiv durch Käfig um Käfig geschleift, bis Nim Chimpsky endlich in einem verstarb. An einem Herzinfarkt im mittleren Schimpansenalter, als Inbegriff des ohnmächtigen Entmündigten.

Abgesehen von der Buchempfehlung, die im vorigen Absatz versteckt ist, nützt Chimpsky hier auch als Schablone für Moses, denn zu Beginn der zweiten Hälfte des nun wieder abgestaubten Ziegelsteins gelingt Moses ein Putsch beachtlichen Ausmasses. Einem Schimpansen gleich, der sich an die Spitze intrigiert, und doch ganz anders als Chimpsky, verwandelt Moses mit tief in Gesetzestexten versteckten juristischen Winkelzügen die Triborough Bridge Authority von einer Privatfirma mit quasistaatlichen Befugnissen, aber scharf begrenzter Lebensdauer, in ein kleines Privatkönigreich innerhalb von Stadt und Staat New York. Fortan kann Robert Moses Strassen bauen und Brücken, Parks und öffentliche Gebäude, er kann Wegzoll eintreiben, verfügt über eine Polizeitruppe und das Recht, eigene Quasigesetze zu erlassen, und niemand, nicht der Bürgermeister, nicht die Regierung, können ihm dreinreden. Und wenn Parlament oder Gouverneur später aufgehen sollte, was sie mit dem Erlass dieses harmlosen Gesetzes angerichtet haben, werden sie feststellen, dass eine Rücknahme dieser neuen Befugnisse nicht mehr möglich ist.

Wie ein Alpha-Schimpanse auf seinem Hügel hockt Moses nun in seiner neuen Burg auf Randall Island, wo ihn der East River als Wassergraben vor dem Rest der Stadt und ihrer armen Bevölkerung schützt. Der Weg zu dieser erstaunlichen Machtfülle führte über Sprache und ihre juristischen Subtilitäten: in your face, Mr. Nim Chimpsky.

636 von 1162 Seiten

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14.01.2008 / 15:51 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Verblendung (426-495)


Isst kein Gemüse, Riesenzähne. Noch Fragen?
An etwas noch festzuhalten, das einmal sinnvoll oder schön war oder erschien, nachdem die Umstände sich längst geändert haben, ist nicht nur stur, es erreicht auch oft das Gegenteil des Erhofften. Wenn man zum Beispiel ein dickes Buch anfängt, um Interessantes zu erfahren, und mitten drin zwar merkt, dass das Buch einen nicht will, aber trotzdem weiter liest, dann ist man ein Esel. Auch andere Autoren haben schöne Worte, manche sogar schönere. Zum Glück habe ich dieses Problem nicht.

The Power Broker wird stattdessen zunehmend interessanter und lockt mich mit Einsichtsgemüse. Fünfhundert Seiten lang zog mich eine Karotte durchs Buch, die Karotte des Untergangs, aufgehängt am langen Stab der Leistungen Moses, aber jetzt kommt sie näher, bald kann ich von ihr abbeissen, mit einem Geräusch, das mir selbst gefallen wird, meiner Umgebung aber nicht. Insofern sind Karotten ein bisschen wie Äpfel, es ist aber trotzdem besser, dass man nicht von der Karotte der Erkenntnis spricht.

Und dies steckt drin in dieser leckeren Karotte: als Moses auf Long Island mit Machenschaften und Manipulationen aus Landschaft Parklandschaft erzeugte, waren Autos Luxusgüter, auf denen man in Wochenendausflüge ruckelte, und unter Parks stellte der grosse Mann sich Baseballrauten und Badehäuser vor, Tischtennisplatten, Strandkörbe. Natur kam im Mosesschen Weltentwurf nur vor, wo man mit dem Auto durch sie durchfährt, um sie aus dem Fenster zu bewundern. Auf Long Island war das nicht weiter schlimm, denn Long Island ist riesengross, und selbst ein paar Hundert Baseballfelder müsste man ordentlich ausschildern, sonst fände sie niemand jemals wieder.

In einer Stadt jedoch ist jede Petunie kostbar. Zudem änderte sich parallel zu Moses Aufstieg die Rolle des Automobils in der Welt, und aus dem niedlichen mechanischen Pferd mit der Kurbel vorne dran wurde allmählich das eine Ding unter Millionen, aus dem hinten Gestank rauskommt. Moses aber, besoffen von Macht, und Kritik nicht mehr zugänglich, sieht keinen Grund, sich zu ändern. Und so baut er weiterhin Zugangsstrassen, Betonwege und Sportanlagen, als längst Auswege aus dem Verkehrskollaps und grüne Oasen im wachsenden Stadtmoloch gebraucht würden.

Denn Moses folgt seiner eigenen Karotte, einem Gemüse namens Macht, und ist blind geworden für alles andere. Und das ist eine schöne Lehre, liebe Kinder, die wir hier ziehen wollen, ehe wir im nächsten Abschnitt von der "Liebe zur Macht" lesen: Gemüse ist nicht gut für Euch. Meidet das Gemüse.

495 von 1162 Seiten

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31.12.2007 / 18:26 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Untergang (402-425)


So geht das, Herr Caro.
The Fall of New York heisst Caros Ziegel im Untertitel, das evoziert Gibbon und Shirer, und die Parallele zu Rom zog Caro selbst noch explizit im Vorwort, wo er das Coliseum erwähnt, mit dem Moses sich selbst in den Pantheon der Stadtplaner heben wollte. Grosse Töne sind das, bislang aber erscheint Moses zwar als persönlicher Unsympath und Leuteschinder, aber doch hauptsächlich als immens positiver Einfluss auf Stadt, Land und wohl auch Fluss New York, wenn es denn einen gäbe. Niedrige Brücken, um Busladungen armer Menschen aus seinen schönen Parks rauszuhalten, mögen auch moralisch niedrig sein. Und der Rauswurf von Hunderten von Leuten in einer Zeit, in der die hungernden Arbeitslosen überall in Zeltstädten hausen, und der Abriss von Wohnblocks im riesigen Massstab – ein Lieber ist Moses sicher nicht. Aber all die Parkrenovierungen und -gründungen, und nicht zuletzt der Bau des Brückenmonsters Triborough klingen eher wie der Anbruch einer goldenen Ära als der versprochene Anfang vom Ende.

Dabei wäre es doch so leicht. Ein Virus rafft die Bevölkerung hin, nur Will Smith und ein Schäferhund bleiben übrig und schlagen dann die Stadt kurz und klein. Oder, wenn das noch nicht apokalyptisch genug ist, ein Raumschiff kommt und schiesst der Freiheitsstatue den Hut vom Kopf, alle New Yorker sterben sofort vor Schreck, und die Bewohner New Jerseys ziehen stattdessen in Manhattan ein. Mietfrei! Grusel! Oder, noch anders, ein riesiger Müllsack fällt aus einem der oberen Stockwerke des Reichsstaatsgebäudes und begräbt den Rest der Stadt unter sich. Sowas wollen wir sehen. Stattdessen bietet Caro uns kläglich scheiternden Wahlkampf, und einen Moses, der sich offenbar nicht zum Gouverneur, wohl aber zum HB-Männchen eignet. Schade, denn als am Ende der Kandidat vor einem fast leeren Madison Square Garden schnarrend seine letzte Wahlrede hält, da hätte man sich gut Will Smith vorstellen können, der erst Moses den Hut vom Kopf, und dann alles mit einem Schäferhund kurz und klein schlägt. Untergang geht anders. Herr Caro, ich warte.

425 von 1162 Seiten

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