16.12.2007 / 23:01 / Julia Schulte-Ontrop liest: Trivialroman (Hans Joachim Schädlich)

Der von Tatsachen beeinträchtigte Lauf der Dinge (55-75)


Lose baumelnde Empfindsamkeit zwecks Erlebnisfokussierung
Folgende Szene: Eines Tages nimmt Qualle Feder mit den Worten: "Damit du nicht sagen musst, du hättest keine Ahnung", mit in die Katakomben der Firmenzentrale, in denen die gefoltert werden, die gegen die Sache ihres Chefs arbeiten so wie einst Feder und Viktor.

Weil Morde viel zu aufwendig und teuer seien, arbeite man
nach Grundsätzen, die Qualle als geschmeidige Sicherheitsdoktrin
erklärt, und die im Kern etwa das ist, was von Naomi Klein kürzlich unter dem Titel The Shock Doctrine globalisierungskritisch ausgearbeitet wurde: "Das wichtigste ist die Angst. Wir können nicht mit allen Leuten zusammenarbeiten. Das wäre viel zu aufwendig. Es genügt, dass die Leute Angst vor uns haben. Das ist unsere Philosophie. Wer Angst hat, der macht sich klein und hält den Mund. Na schön, manche kann man auch bestechen. Denk' doch an dich selber. Aber das Hauptprinzip lautet: Angst".

Deshalb lägen die Folterzellen auch direkt neben dem Schiessstand. Die Gefangenen sollten dauernd die Ballerei in den Ohren haben. Aus demselben Grund gebe es auch die Zelle für Scheinhinrichtungen. Die Leute würden dort an die Wand gestellt und die Schüsse gingen nur knapp an ihnen vorbei, so dass jedem dort Stehenden der Putz um die Ohren flöge.

Wer da dreimal an der Wand gestanden hat, der ist fertig. Fürs Leben. Der sagt nichts mehr gegen uns. Jedenfalls nicht laut. Der sagt höchstens seinen Kumpels wie es war. Die halten dann von selber die Schnauze. Geschmeidige Sicherheit, sage ich dir.


Warum Qualle ihm das erzähle, fragt Feder daraufhin. "Damit du Bescheid weisst. Wissen verbindet". "Das verbindet", sagt Feder, der diese Informationen aufnimmt, was aber erwartungsgemäss keine Verhaltensänderung hervorruft.

Jetzt sitze ich auch mit drin im Boot. Weiss jetzt auch alles. Nur nicht, was ich an Feders Stelle tun würde (ausser natürlich, es viiiieeel besser und absolut richtig zu machen). Und ganz sicher weiss ich, dass mir seine einzig von materiellen Verlustängsten getragene Angepasstheit immer mehr zuwider ist. Dieses "Mögen hätt' ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut".* Diese autoritätsfixierte Gehemmtheit, die danach lechzt korrumpiert, rundgeschliffen und indoktriniert zu werden. Bäh! Und weil die in mir rumorende Moralinsäure schon droht meine vorweihnachtlich-basische Gemütslage in Salzkristalle zu verklumpen, weiss ich nun auch wieder weshalb ich diesen schädlichen Trivialroman ein paar Tage nicht angefasst hatte.

Viel schöner war es, hier drinnen in der wirklichen Wirklichkeit meinen Erlebnisfokus in lose baumelnder Empfindsamkeit diffusieren zu lassen von Abenteuern mit Zimt und Samt und sonders.
Einfrieren werde ich sie, Feder, Dogge, Qualle, Biber, Aal, Natter – die ganze Bande – jetzt sofort in dieses Eis-Blog hier, auf dass die Schneekönigin sie holt. Ich setz' mich solange an mein Fenster und warte darauf, dass es von Eisblumen in ein Kaleidoskop verwandelt wird. Dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.

Psychologie Heute: Nach gruppenpsychologischem Gummitwist:
Das Milgram-Experiment.

*Karl Valentin

75 von 158 Seiten

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23.11.2007 / 17:56 / Julia Schulte-Ontrop liest: Trivialroman (Hans Joachim Schädlich)

To beast or not to beast (30-55)


Who's the black sheep?
"Have you seen the little piggies
Crawling in the dirt
And for all the little piggies
Life is getting worse
Always having dirt to play around in"
(George Harrison)

Ein Tag voll von Nichts neigt sich dem Ende entgegen. Ich giesse mir eine Tasse Teewurst ein, setze mich vor die knisternde Heizung und lasse meine Gedanken um das Szenario im Buch flackern:

Die Stimmung in der Bar ist zunehmend angespannt. Man wartet – bereits seit zwei Tagen – auf etwas von aussen Kommendes, das Befreiung oder das Ende bedeutet: Eine Information von Ratte, einen Hinweis von Wanze, eine Nachricht vom Chef, ein plötzlich auftauchendes Mordkommando, einen Wink des Schicksals, Fügung.

Eine Situation, in der niemand sagen kann, ob die Bar, in der man sitzt und die eigentlich ein Bunker ist, Schutzraum oder eine Falle ist. Eine missliche Lage also insgesamt, in der sich die Nervosität aller Anwesenden in die eingefahrenen Hierarchien frisst und sie zersetzt:

Dogge, eigentlich Bluthund und Kopf der Bande säuft sich in den Zustand einer wehleidigen Weinerlichkeit, legt sich auf den Boden und schläft ein wie ein Zerberus, der den Schwanz einzieht, statt die Zähne zu fletschen. Enttäuscht darüber sind Biber, Qualle und Feder einmal mehr mit ihrer Hilflosigkeit konfrontiert. Doch die Einsicht in die eigene Unfähigkeit zu handeln weicht bald dem Gefühl, dass man nur gemeinsam aus der Bar und voneinander loskommt. Und weil ein schwarzes Schaf die Moral der Truppe stärkt, wird Dogges Verhalten kurzerhand als disziplinloses Versagen und damit als Verrat deklariert. Der so ausgemachte, schlafende Verräter wird auf dem Boden gefesselt.

Interpretatorische Kurzfassung: Eine "geschlossene Gesellschaft" wartet auf Godot und vetreibt sich die Zeit mit gruppenpsychologischem Gummitwist. Feder, der Ich-Erzähler, erscheint dabei zunehmend als moralisches Leichtgewicht. Ein Ja-Sager, der nichts tut, aber auch nichts dagegen. Und wenn er zwischendurch einen Blick über die Schulter, in die Vergangenheit wirft, werden die Konturen seiner Profillosigkeit nur umso sichtbarer. Trotz aller unsympathischen Windigkeit ist er aber auch noch so stinknormal, dass nicht zu erwarten ist, dass seine Charaktermetamorphose in der kranken Wahnhaftigkeit eines Charles Manson endet. Beatles hin oder her!

55 von 158 Seiten

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15.11.2007 / 11:02 / Julia Schulte-Ontrop liest: Trivialroman (Hans Joachim Schädlich)

Trivialroman (1-30)

"As monsters, can we demonstrate another order of signification?" (D. Haraway).

Wenn jemand sein Buch "Trivialroman" nennt, umgeht er gleich das Problem, dass zu irgendeinem Zeitpunkt irgendein Unverständiger sich fragen könnte: "Was will mir der Künstler damit sagen?". Denn die Antwort ist implizit: Nichts! Und genau damit weist der Titel schon über sich selbst hinaus. Ich vermute also, dass sich die Satzreihen in diesem Buch hier und dort zu Horizonten krümmen werden, um den Blick auf hinter und zwischen ihnen Liegendes freizugeben. Vielleicht werde ich Sterne am Projektionshimmel sehen, die mir den Weg weisen werden in subtextuelle Welten. Auf den ersten Seiten des Buches werde ich für diese romantische Vorstellung allerdings erstmal abgewatscht. Tiernamen sind es, die mir um die Ohren fliegen. Dogge, Biber und Qualle unterhalten sich in einer Bar über Wanze, Ratte, Kralle, Aal und Natter. Aber während ich noch versuche, aus ihren Gesprächen für mich einen Handlungsfaden zu häkeln, beginnt der Ich-Erzähler, der ebenfalls in der Bar sitzt, mit einer ganz anderen Geschichte. Seiner. Und die beginnt von diesem Moment an zehn Jahre zuvor.

Er berichtet, wie Dogge ihn von seinem Redaktionsschreibtisch bei einer kleinen Zeitung weggeködert hat. "Du lässt eure Redaktion sausen und arbeitest für uns", hatte er gesagt. "Wir haben selbst eine Zeitung. Aber die ist mies" und "Du bringst unsere Zeitung auf Vordermann" und "Geld ist kein Problem. Wir wollen unsere Sache unter die Leute bringen und unsere Sachen an den Mann". Für das Versprechen eines Lebens voller Zucker willigte er ein und verriet seinen Freund und Kollegen Viktor, mit dem er zuvor gegen Dogge gearbeitet hatte. Bevor ich ein paar Seiten später erfahre, dass er seitdem den Decknamen Feder trägt, sitzen wir schon wieder in der Bar. Der Erzählstrang brennt also von zwei Seiten ab wie sonst nur Kerzen, was den Vorteil hat, dass niemand damit erhängt werden kann.

Die Handlung in der Bar erzählt sich entlang der Gespräche, die das dialogische Surrogat aus 1001 Ganovenfilm sind, selbst. Dogge, Biber und Qualle sind die mit spitzem Bleistift sehr genau gezeichneten Karikaturen mafiöser Schergen. Ihr Reden ein satter Remix in Stereotypie. Bisher hat der Titel also noch nicht zuwenig versprochen. Aber ich ahne, dass die parabolischen Momente in diesem Text sich bald schon so anhäufen werden, dass sich die Lesart einer umfänglichen Gesellschaftskritik nahezu aufdrängen wird.

30 von 158 Seiten

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