27.06.2010 / 09:05 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010

Nicht sprechen aber schreiben

Gleich das Eichendorff Zitat zu Anfang von Peter Wawerzineks Text "Rabenliebe" ("Verschneiet liegt rings die ganze Welt, ich hab nichts, was mich freuet, verlassen steht der Baum im Feld, hat längst sein Laub verstreuet, der Wind nur geht bei stiller Nacht, und rüttelt an dem Baume, da rührt er seinen Wipfel sacht und redet wie im Traume") spaziert bei mir mitten in eine treffliche Bildungslücke hinein, will sagen, ich habe es natürlich nicht erkannt und erst mal gedacht: Alter, wie schreibt der denn?
Später kommen noch andere, nicht sofort und ohne Weiteres zu identifizierende Zitate, aus alten Kinderliedern oder von Eduard Mörike, im Text vor. Bei Helene Hegemann hat man sich über derartiges sehr echauffiert. Nun gut, aus dem bildungsbürgerlichen Kanon darf man sich eben ungestraft bedienen. Wenn man als Leser das Zitat dann als solches nicht erkennt, ist man selbst der Depp und denkt ständig: Alter, wie schreibt der denn? Zum Glück gibt es in Klagenfurt eine Jury, die einem da ein bisschen auf die Sprünge hilft.
Nachdem diese Hürde genommen ist, kann der Text einen durchaus kriegen. Es geht um die autobiografische Aufarbeitung der eigenen, in DDR-Waisenhäusern verbrachten, Kindheit des Autors.
Die Beschreibung der Anfahrt zum Heim, von Gedanken und besagten Zitaten durchsetzt und poetisch verbrämt, baut eine gewisse Spannung auf. Was erwartet den kleinen Jungen, der sich da aus der Realität hinaus phantasiert, am Ende des Weges in diesem unbekannten, hermetischen Reich namens Kinderheim? Und was liegt hinter ihm? Schlimmes ist zu befürchten, denn der Autor hat nicht nur Eichendorff, sondern auch Zeitungsmeldungen jüngeren Datums über grob vernachlässigte Kinder eingebaut. Dem Text tut das nicht unbedingt gut, diese Nachrichtenschnipsel hängen da eher unmotiviert drin.
Das Ende des Textes thematisiert die Sprechverweigerung des Kindes mittels einer ausführlichen Abhandlung über die Funktionsweise der menschlichen Sprechorgane, also der körperliche Erzeugung von Sprache. Möglich, dass der Autor schon als Kind Sprache lieber mittels Buchstaben erzeugt hätte.

Kleine Korrektur am Schluss: An einer Stelle benutzt Wawerzinek "im vierten Jahr sein" synonym zu "vier Jahre alt sein". Autoren können ja oft nicht so gut Mathe.

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