06.01.2008 / 22:07 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Wäre Schmidt eine Pflanze, dann wohl ein Kakteengewächs (25-27)


Schmidt. Anspruchslos genug, wildfremde Rechner für seine Arbeit zu akzeptieren.
Es kam mir der Gedanke während des Kuchenessens am ersten Weihnachtsfeiertag: vielleicht war bei Schmidt, wenn nicht allein, dann doch zumindest auch die Fixierung der Mutter auf Verdauungsvorgänge, wie sie für gewöhnlich nur gegenüber dem Kleinstkind beobachtbar ist, schuld an jenem Anflug von Lebensuntüchtigkeit, den er zuweilen ausstrahlte. Bislang hatte ich es ja immer für eine gepflegte Marotte gehalten, um Ladies mit Hang zum "Jochen, Du hast schon wieder zwei linke Schuhe an. Na komm her, ich mach das mal."-Sagen anzulocken, womöglich aber war dies eine Fehlannahme.

Während es in den vergangenen Jahren während der Feiertage vor den Mahlzeiten noch immer hiess: "Geht alle schnell aufs Klo, es gibt gleich Essen, Jochen warst Du auf dem Klo?", eine Formel, deren kausale Logik und Chronologie sich mir beim ersten Hören nicht sofort erschloss, so hiess es in diesem Jahr nun nur noch: "Ihr könnt aufs Klo gehen, Jochen geh schnell aufs Klo.", um zu Tisch zu bitten. Vielleicht ist es eine Art Lakonie, die sich beim Älterwerden einstellt, vielleicht aber auch die leicht autistische Perspektive, die, einmal eingenommen, die Möglichkeit ausschliesst, es könnte jemanden geben, der diesen Code nicht per se verstünde. Jedenfalls befolgte ich das Gebot nicht. Trotzig sprang ich vom Sofa auf und ging direkt zum Tisch, ohne mich zuvor noch einmal nach allen Regeln der Kunst auszuscheissen, ich hatte desweiteren nicht einmal vor, dies nach dem Essen zu tun, jedenfalls nicht hier. Ich hieb mit Messer und Gabel so lange rhythmisch auf den Tisch, bis mein Teller gefüllt würde. Und er wurde. Ein kindisches Aufbegehren, es war mir bewusst, dennoch fühlte ich mich dabei so frei und souverän, dass ich mit dem Gedanken spielte, Schmidt diesen Trick zu verraten. Andererseits wollte ich es ihm auch nicht zu einfach machen, sollte er doch selbst einen Weg finden, der ihn befreite von dem Phlegma, das ihn angesichts seiner Familie immer zu befallen schien. Noch schien er es ja nicht mal als solches zu erkennen, vielmehr spricht er von Anspruchslosigkeit, als handele es sich um etwas, was er selbst wählte oder entschiede, um in grösstmöglicher Freiheit zu leben.

Schmidts Anspruchslosigkeit eskaliert in der Vorstellung einer Kiste in einer stillen Ecke, die ihm als Lebensort genügte, bzw. einem permanenten Nomadisieren als ein unbemerkter Mitesser, -wohner und -leber. Die Idee des Outsourcing zeitweise nutzloser Körperteile bzw. deren Mehrfachnutzung, zur Strumpfpräsentation in Modegeschäften etwa (Bein), ist freilich reine Koketterie, denn selbst wenn Schmidt schreibt, sein Körper wäre nachts beispielsweise nutzlos, so muss er doch wissen, dass dieser sein Schmidtkörper selbst nach blossem Schlaf noch das Recht hätte, am Morgen die Kameradin, die ihm ihr Bett zur Mitnutzung zur Verfügung stellt, zu befragen: Und, wie war ich?

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12.12.2007 / 22:27 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Hormephobie. Oder: die Angst des Jochen Schmidt beim Schock (22-24)


Hier sieht man Schmidt von der Angst heimgesucht, als jemand gelten zu können, der gerade Wein trinkt und sich mit dem Ellenbogen knapp neben der Nachbarstuhllehne aufstützt
Sicherlich würde Schmidt es missverstehen, wenn ich ihm von den hervorragenden Mandelkern-Plätzchen zukommen liesse. Diese Verantwortungslosigkeit meinerseits könnte das Risiko einer Attacke direkt auf seine Amygdala bedeuten. Ich esse das Gebäck also besser allein, bei duftendem Punsch und einem Buch. Das muss ja nun mal sein.

Ängstlichkeit also ist Schmidts dritte von dreissig Körperfunktionen. So kurz wie möglich gesagt, geht es um Schmidts Ablutophobie, Acarophobie, Acerophobie, Achluophobie, Acidophobie, Acousticophobie, Acrophobie, Aelurophobie, Aeroacrophobie, Aeroacrophobie, Aeronausiphobie, Aerophobie, Agaraphobie, Agateophobia, Agliophobie, Agoraphobie, Agraphobie, Agrizoophobie, Agyrophobie, Aichmophobie, Ailurophobie, Akousticophobie, Albuminurophobie, Alektorophobie, Algophobie, Alliumphobie, Allodoxaphobie, Altophobie, Amakaphobie, Amathophobie, Amaxophobie, Ambulophobie, Amelophobie, Amnesiphobie, Amychophobie, Anablephobie, Ancraophobie, Anemophobie, Andraephobie, Androphobie, Anginophobie, Anglophobie, Angrophobie, Ankylophobie, Anophelophobie, Anthrophobie, Anthophobie, Anthropophobie, Antlophobie, Anuptaphobie, Apeirophobie, Aphenphosmophobie, Apiphobie, um seine seine Apotemnophobie und seine Aquaphobie. Letzteres ist übrigens die Angst davor, Wasser zu trinken, ferner um seine Arachibutyrophobie, seine Arachnaphobie, Arithmophobie, Arrhenphobie, Arsonphobie, Asthenophobie, Astraphobie, Astrophobie, Asymmetriphobie, Ataxiophobia, Ataxophobie, Atelophobie, Atephobie, Athazagoraphobie, Atomosophobie, Atychiphobie, Aulophobie, Auquaphobie, Aurophobie, Auroraphobie, Australophobie, Automysophobie, Autophobie und seine Aviophobie.

Während meiner Schmidt-Exegese bemerke ich eine Tendenz zur Angst vor dem Googeln von Phobien und desweiteren, dass es diese Angst anscheinend nicht gibt, jedenfalls ist sie nicht googlebar. Leide ich damit also gleichzeitig an einer Dreierkombination aus der Angst vor dem Googeln von Phobien, der, dass es diese womöglich gar nicht gibt, sowie an Xenoglossophobie? Beängstigend. Aber ich greife vor, weit vor sogar. Vermutlich wird es noch einiger Beiträge an diesem Ort bedürfen, um Schmidts dritter Körperfunktion in angemessenem Umfang Genüge zu tun.

Wenig täte ich lieber, als Schmidt die eine oder andere Angst zu nehmen, doch schon zwei Kapitel weiter naht Schmidts fünfte Körperfunktion: sein Geiz. Ich habe vor, mich nach Weihnachten diesem Kapitel zu widmen. Aber dazwischen liegt ja noch Schmidts vierte Körperfunktion: seine Anspruchslosigkeit.

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23.11.2007 / 02:52 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Schmidt hilft mit (17-21)


Hier verhilft Schmidt Mannheim zu einer attraktiven Stadtansicht, obwohl es keine echten Ostplattenbauten hat
Schmidt hatte mich nach seinem Training angerufen, um mir bei der Pflege der erkrankten Tochter zur Hand zu gehen. Er würde so um die Abendbrotszeit herum eintreffen. Seine Opferbereitschaft rührte mich immer wieder. Er hatte extra darauf verzichtet, sie diese Woche zu betreuen, um so die Gefahr zu vermeiden, die darin bestand, dass die Tochter sich nach Genesung in der kommenden Woche wegen verbliebener Bakterien in seiner Wohnung erneut infizieren könnte.

Es war wie Musik in meinen Ohren, als er gelangweilt die Ukulele der Tochter aus der Hand legte. Zuvor hatte er dem Kind ihretwegen eine halbe Stunde lang auf dem Krankenbett das Gesetz des Stärkeren zu erklären versucht und war erfolgreich dabei gewesen. Zumindest vermutete ich das; ich sass im Nebenzimmer und versuchte, mich auf die Beschreibung einer alpinen Landschaft mit See für eine Arbeit zu konzentrieren. Schmidt übte eine halbe Stunde lang Katjuscha oder wenigstens die ersten vier Akkorde des russischen Liedes, bis er hungrig davon wurde und die Tochter schickte, um Erkundungen bezüglich der Abendbrotzeit einzuholen. Ich verstand das nicht; seinen Erzählungen nach war er jahrelang in einer Band Gitarrist gewesen, was einer der Gründe dafür war, weshalb ich mir ein Kind von ihm erschlich. Ich selbst war ja von Kindesbeinen sehr unmusikalisch, hoffte aber wenigstens auf talentierten Nachwuchs, der dieses Bedürfnis in mir ersatzweise stillen könnte.

Die Tochter war nur schlecht zu verstehen, die Krankheit nahm ihr Atem und Stimme, aber mit mütterlichem Einfühlvermögen hörte ich heraus, dass ihr Vater momentan allergisch auf Teigwaren sei, auch Tomaten vertrüge er schlecht gerade. Da an Konzentration nicht zu denken war, nahm ich mir Meine Hilfsbereitschaft, die nächste Körperfunktion Schmidts, mit in die Küche. Das schmidtschste Problem schlechthin: der Undank der Welt, der ihm entgegenschlägt. Aus Kalkül und Eigennutz melden sich vermeintliche Freunde und angebliche Verwandte bei ihm, um ihn mit Wartungsaufgaben zu betrauen, während sie selbst in fernen Ländern in der Sonne faulenzen. Schmidt muss fremde Briefkästen leeren, Haustiere füttern, Pflanzen giessen und Strohwitwen sexuell befriedigen. Die Aufgaben werden zum Vollzeit-Marathon-Job. Schmidt hilft jedem. Wegen der weit voneinander entfernt liegenden Arbeitsorte schläft er nur noch in Parks, er ist ein Erniedrigter und Beleidigter, dem zu guter Letzt die Arme zerschlagen werden, weil er den übernommenen Aufgaben pflichtbewusst nachzukommen sucht. Sein einziger Trost ist das Lesen fremder Urlaubspost.

Mein Coq au vin war in der Tat angebrannt und vor allem: masslos versalzen. Mit dieser Kritik hatte Schmidt so recht, wie man dies nur irgend haben konnte. Es schien mir auch taktlos, dies mit meiner Mitgenommenheit aufgrund der Kochlektüre zu entschuldigen. Ich wollte nicht in alten Wunden bohren. Schliesslich: warum hatte sich Schmidt all dies von der Seele geschrieben? Wie jedem Künstler war mir natürlich bewusst, dass das eigene Werk nur einen einzigen Zweck verfolgt: die Therapie. Noch lange, nachdem Schmidt gegangen war, dachte ich über seine Abschiedsworte nach. "Du hast es gut, du kannst immerhin noch Köchin werden, wenn alles andere nichts wird. Ich kann gar nichts." Wenn es doch nichts mit der Musikalität der Tochter würde, dann doch gewiss in Sachen Lang- und Demut.

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14.11.2007 / 10:58 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Das Fest (12-16)


Schmidt hatte nur an etwas Obst für sich selbst gedacht
Fünf Seiten lang hatte ich mich auf die Folter spannen lassen. Vollkommen nutzlos, wie sich herausstellen sollte. Ob Schmidt seine Wohnung tatsächlich jemals verlässt, ist dem Text nicht zu entnehmen, auch nicht den letzten sechseinhalb Zeilen. Wer könnte ihn da besser als ich verstehen, wenn er das vielleicht einfach nicht möchte. In Schmidts Wohnung kann man gut wohnen. Ich selbst versuchte es zeitweise recht hartnäckig und, wie ich behaupten möchte, nicht ungeschickt. Ich lobte seinen Einrichtungsstil: die herrliche Keramikschale, die ich ihm einmal geschenkt hatte, die schönen Vorhänge (er hatte sich erst gegen sie gewehrt, aber die sollten mir schliesslich gen Morgen ein paar Minuten länger in seiner Wohnung verschaffen), das Körbchen für die Damenhygiene im Bad – alles nicht geschickt genug für Schmidt. Er schmiss mich immer wieder pünktlich bei Sonnenaufgang hinaus. Ich gerate in nostalgisches Fahrwasser. Der Zukunft jedoch gehört die Zukunft.

Schmidt listet seinen zweiten Streich unter Meine Einsamkeit. Ich hatte das Gefühl, er könnte ein wenig übertrieben haben, als ich las Das Kind schreit und tobt, es will mich partout nicht berühren. Dies will ihm passiert sein, als er sich im Streichelzoo unter die Schafe mischte, um sich so ein wenig Zuneigung zu erschleichen. Wüsste ich nicht, dass es gelegentlich des Stilmittels der Übertreibung bedarf, um komplexen Sachverhalten wie Schmidts Einsamkeit literarisch gerecht zu werden, riefe ich hier aus: ER LÜGT! ERST NEULICH SAH ICH, WIE SEINE TOCHTER NICHT DAVOR ZURÜCKSCHRECKTE, SICH VON IHM BEI DER HAND NEHMEN ZU LASSEN, ALS EINE BULLDOGGE AUF SIE ZUSTÜRMTE! UND DAS HATTE GEWISS NICHT MIT IHRER TIERPHOBIE ZU TUN, JEDENFALLS NICHT NUR, UND AUCH NICHT DAMIT ALLEIN, DASS ICH IHR EINE PACKUNG FREDFERKEL-GUMMITIERE FÜR DIESEN FALL VERSPRACH. SONDERN ES WAR EINE MISCHUNG AUS DIESEN ZWEI ASPEKTEN! Aber ich weiss um die Stilmittel, die es braucht in der Kunst, nur allzu gut. Jene der Typographie sind im übrigen zu stiefmütterlich behandelt. Meine Meinung. Auch auf dem Flughafen will sich Schmidt in der Erpressung von Zuneigung erprobt haben und schliesslich in der Kirche bei Gott, um sich dort beleidigt das Leben zu nehmen, weil ihn Jesus vom Kreuz her flieht. Auf diese Stelle hatte ich ihn am Sonntag auf seinem Geburtstagsfest eigentlich ansprechen wollen, weil ich der Überzeugung war (und es genau genommen noch immer bin), dass er sich das ausgedacht haben musste. Eine Jesusfigur, die wie ein echter Mensch losrennt, für wie blöd hielt er seine Leser eigentlich?

Es kam leider nicht dazu. Zwar hatte Schmidt nicht ohne Talent versucht, das Fest als solches unkenntlich zu machen, indem er verbot, irgendwen mitzubringen, sich zu betrinken und schon im Vorfeld klarstellte: "Zu essen gibt es nichts!", es liess sich aber doch nicht ganz vermeiden, dass gegen Mitternacht ein wenig Stimmung aufkam, wie es von einfachen Menschen genannt wird. Das Getränkeangebot bestand aus den verschiedenen Rotweinen, die sich so im Laufe der Jahre in seiner gemütlichen Wohnung angesammelt hatten und durchweg verschiedener Herkunft und Rebsorte waren. Deshalb verschob ich die Formulierung meiner Kritik auf einen Zeitpunkt, der für die Art Präzision geschaffener sein wird.

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05.11.2007 / 18:06 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Die "Jacke" (S.7-11)

Fast wäre das Buch auf dem Sofa liegen geblieben, ich hatte nur an das MacBook gedacht und musste auf halbem Weg im Treppenhaus noch einmal umkehren deshalb. Im Grunde war kein Platz mehr für Schmidts Körperfunktionen in meiner Reisetasche, ich musste sie sehr rabiat hineinstopfen. Gott, sah die schöne Tasche nun scheisse aus. Ich hätte das Geschenk für meinen Gastgeber in Zürich stattdessen auspacken können, aber der sollte sich damit schliesslich nachts in Zürich Treichels Verlorenen beleuchten, um den hier an diesem Ort bald zu lesen.

"Ich wollte nicht wirklich ein Aalbrötchen, das will ich an der Stelle noch mal sagen!" sagte die Frau mir gegenüber gerade in ihr Telefon, als ich auf dem Tisch mein Zeug nach ästhetischen Gesichtspunkten fertig drapiert hatte. Laptop, das Telefon fürs Internet, drei Wal- und zwei Haselnüsse, das Notizbuch, die weissen Lederhandschuhe und: Schmidt. Blöderweise störte das Buch mein Arrangement. Ich nahm es wieder vom Tisch und überlegte, wohin damit. Ich würde es jedenfalls benötigen, wenn ich darin lesen wollte. Unter dem Tisch war es zu dunkel und auch nicht geräumig genug. Ich fummelte ein wenig an ihm herum – dabei ergab sich die Lösung wie von selbst. Die eigenwillige Buchdeckelgestaltung erwies sich also doch als nützlich: ich klappte sie vorn und hinten so ein und um, dass das Bild von Schmidt in der Sauna und das, wo er auf der Bank im Museum sitzt, nun nach innen geschlagen waren. So hatte ich ein Buch im herrlichsten Weiss, dessen hübsche rote Lettern einen dezenten, aber wirkungsvollen Kontrast zu meinem unschuldigen Ensemble herstellten. Ich war sehr zufrieden und rückte es in eine 90 Grad-Position zum weissen Laptop. Dann checkte ich, ob das Internet aus dem Telefon funktionierte und lehnte mich zurück. Die Frau gegenüber sagte "Du Schlingel" in ihr Telefon. Das machte mich irgendwie scharf. Ich schlug den Schmidt auf.

Eines Tages beginnt es in Der lange Weg zur Tür, dem ersten der zweiunddreissig Texte. Wie – sollte das hier ein Märchen werden? Fiktion? Ich hatte auf Tatsachen gehofft. Die Enttäuschung über Schmidts erste beiden Worte wich nach zehn Zeilen endlich. Bis dahin bringt er es zustande, aufzuzählen, was er wie und wo einsteckt, bevor er seine Wohnung verlässt – Taschentuch, Telefon, ein Buch – wen interessiert das! In Zeile elf kommt er zur Sache: Die ideale Jacke war immer die Jacke, die man gar nicht bemerkte. So kann man das sagen – absolut treffend – aber man muss schon Schmidt für diese Worte sein. Ich hatte die Erfahrung zwar geteilt und an ihm auch immer am allerliebsten diese "Jacke" gemocht, wäre aber nie auf den genialen Gedanken gekommen, es so zu formulieren. Ich sollte ihn bei Gelegenheit vielleicht bitten, sie auch wieder einmal für mich anzuziehen, ich habe ihn schon lange nicht mehr darin gesehen. Ab Zeile dreizehn verfällt Schmidt leider wieder in das Aufzählen langweiliger Haushalts- und Alltagsverrichtungen; Müll fortschaffen, Gesicht eincremen, aufräumen. Alles nachvollziehbare Dinge, doch wozu? Auf Seite elf unterläuft ihm dann ein schlimmer Patzer. Da ich mich in meinem ersten Studium zwei Semester mit der Logik als Disziplin befasste, werde ich über bestimmte Dinge einfach nie mehr hinwegsehen können. Ich nahm die Bahncard und die Geldkarte aus dem Portemonnaie, sollte ich die verlieren, wäre es besser, die nicht dabei zu haben. Da stellt sich schon die Frage, ob es vom Lektorat nur schusslig oder schon böswillig ist, den Autor so auflaufen zu lassen. Ich schickte Schmidt sofort eine Nachricht, in der ich ihn auf diese Stelle aufmerksam machte. Vielleicht bekamen sie das ja wenigstens in der zweiten Auflage gerichtet, falls sich nicht zu schnell herumspricht, wie es um bestimmte qualitative Aspekte des Buches bestellt ist, und eine solche überhaupt zur Debatte steht.

Bei Seite elf, die mit einem Komma nach dem Wort rausreissen endet, was ein echtes Schmidtwort ist, beendete ich meine Lektüre vorerst und bot der Frau gegenüber eine von meinen Walnüssen an. Sie wollte nicht.

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