14.11.2007 / 10:58 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Das Fest (12-16)


Schmidt hatte nur an etwas Obst für sich selbst gedacht
Fünf Seiten lang hatte ich mich auf die Folter spannen lassen. Vollkommen nutzlos, wie sich herausstellen sollte. Ob Schmidt seine Wohnung tatsächlich jemals verlässt, ist dem Text nicht zu entnehmen, auch nicht den letzten sechseinhalb Zeilen. Wer könnte ihn da besser als ich verstehen, wenn er das vielleicht einfach nicht möchte. In Schmidts Wohnung kann man gut wohnen. Ich selbst versuchte es zeitweise recht hartnäckig und, wie ich behaupten möchte, nicht ungeschickt. Ich lobte seinen Einrichtungsstil: die herrliche Keramikschale, die ich ihm einmal geschenkt hatte, die schönen Vorhänge (er hatte sich erst gegen sie gewehrt, aber die sollten mir schliesslich gen Morgen ein paar Minuten länger in seiner Wohnung verschaffen), das Körbchen für die Damenhygiene im Bad – alles nicht geschickt genug für Schmidt. Er schmiss mich immer wieder pünktlich bei Sonnenaufgang hinaus. Ich gerate in nostalgisches Fahrwasser. Der Zukunft jedoch gehört die Zukunft.

Schmidt listet seinen zweiten Streich unter Meine Einsamkeit. Ich hatte das Gefühl, er könnte ein wenig übertrieben haben, als ich las Das Kind schreit und tobt, es will mich partout nicht berühren. Dies will ihm passiert sein, als er sich im Streichelzoo unter die Schafe mischte, um sich so ein wenig Zuneigung zu erschleichen. Wüsste ich nicht, dass es gelegentlich des Stilmittels der Übertreibung bedarf, um komplexen Sachverhalten wie Schmidts Einsamkeit literarisch gerecht zu werden, riefe ich hier aus: ER LÜGT! ERST NEULICH SAH ICH, WIE SEINE TOCHTER NICHT DAVOR ZURÜCKSCHRECKTE, SICH VON IHM BEI DER HAND NEHMEN ZU LASSEN, ALS EINE BULLDOGGE AUF SIE ZUSTÜRMTE! UND DAS HATTE GEWISS NICHT MIT IHRER TIERPHOBIE ZU TUN, JEDENFALLS NICHT NUR, UND AUCH NICHT DAMIT ALLEIN, DASS ICH IHR EINE PACKUNG FREDFERKEL-GUMMITIERE FÜR DIESEN FALL VERSPRACH. SONDERN ES WAR EINE MISCHUNG AUS DIESEN ZWEI ASPEKTEN! Aber ich weiss um die Stilmittel, die es braucht in der Kunst, nur allzu gut. Jene der Typographie sind im übrigen zu stiefmütterlich behandelt. Meine Meinung. Auch auf dem Flughafen will sich Schmidt in der Erpressung von Zuneigung erprobt haben und schliesslich in der Kirche bei Gott, um sich dort beleidigt das Leben zu nehmen, weil ihn Jesus vom Kreuz her flieht. Auf diese Stelle hatte ich ihn am Sonntag auf seinem Geburtstagsfest eigentlich ansprechen wollen, weil ich der Überzeugung war (und es genau genommen noch immer bin), dass er sich das ausgedacht haben musste. Eine Jesusfigur, die wie ein echter Mensch losrennt, für wie blöd hielt er seine Leser eigentlich?

Es kam leider nicht dazu. Zwar hatte Schmidt nicht ohne Talent versucht, das Fest als solches unkenntlich zu machen, indem er verbot, irgendwen mitzubringen, sich zu betrinken und schon im Vorfeld klarstellte: "Zu essen gibt es nichts!", es liess sich aber doch nicht ganz vermeiden, dass gegen Mitternacht ein wenig Stimmung aufkam, wie es von einfachen Menschen genannt wird. Das Getränkeangebot bestand aus den verschiedenen Rotweinen, die sich so im Laufe der Jahre in seiner gemütlichen Wohnung angesammelt hatten und durchweg verschiedener Herkunft und Rebsorte waren. Deshalb verschob ich die Formulierung meiner Kritik auf einen Zeitpunkt, der für die Art Präzision geschaffener sein wird.

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