27.06.2010 / 12:14 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010

No Tales from the Crypt

Bis zum Ende des zweiten Absatzes geht der Text von Max Scharnigg okay, der im Titel proklamierte Anspruch ("Die Besteigung der Eigernordwand unter einer Treppe") ist sogar wunderbar verquer. Er ist nicht unbedingt popliterarisch, muss auch nicht, macht man ja auch gar nicht mehr heute, aber immerhin gibt es keine Scheu vor Ovomaltine und Markensportbekleidung, erwähnte Figuren haben Echtweltbezug (Anderl Heckmair), die "Mammut-Extreme"-Jacke transponiert das heroische Alpinistenthema in die profane Gegenwart.
Man sieht nicht aus dem Fenster, schweigt und raucht, sondern kommt mit der U-Bahn von der Arbeit und hört den "Mammut-Extreme"-Jacken-Trägern bei ihrer deformierten Konversation zu. Es hätte unterhaltsam werden können.
Aber: "Ich war überarbeitet", der Text leider auch. Vielleicht das Drama des begabten Journalisten, der zeigen will, dass er auch Literatur kann? Die Hauptfigur findet sich zwar nicht in einen Käfer verwandelt, aber immerhin so weit verändert, dass sie wie ein Insekt wochenlang ohne Nahrung und Ausscheidung unter der Kellertreppe verharren kann. Das wird so matter-of-factly zur Kenntnis genommen wie der Umstand, dass oben bei der Freundin ein fremder Mann ist. Dass das an Kafka erinnert, findet auch die Jury. In manchen Rezensionen ist so was immer noch als Referenz gedacht, die einem Text Superkräfte verleihen soll; in der Regel wirkt es wie Kryptonit. Es ist dabei gar nicht schlecht gemacht, sondern eine ziemlich gelungene Übernahme. Nur wirkt das, als würde man im Jahr 2010 bei der Bewerbung an der Kunsthochschule eine Mappe mit Siebdrucken von Campbelldosen einreichen.
Vieles andere – die Nachbilder auf den Lidern zum Beispiel oder der Vergleich von Zeitungen im Briefschlitz mit Sprengladungen im Fels – könnte ein hübsches Panel in einem Comic sein, aber es fehlt die Handlung, wegen der man sich das Ding zuallererst anguckt. Dass das Geschehen was auf die Rippen braucht, hat der Autor zwar gemerkt, es wird Paprikahendl angeboten, nur leider nicht mehr rechtzeitig.

10 von 14 Autoren

Britta Krawtschik / Dauerhafter Link / Kommentare (1)


28.03.2008 / 05:44 / Mehrere lesen: Verschiedenes (von manchen)

Sternstunden der Bedeutungslosigkeit – Der Plumpsack geht immer weiter rundherum

Ich erlaube mir, anderer Meinung als Volker Jahr zu sein und Heinz Strunks Fleisch nur <schön, aber nicht so schön> gefunden zu haben. Dabei wusste ich beim Strunk zunächst gar nicht, was mir nicht gefallen hat. Irgendwann einmal sah ich ihn in einer Talkshow, er berichtete vom "Mucke machen", und dabei störte mich ein wenig seine Bröselwernerhaftigkeit. Bölkstoff, hau wech die Scheisse Kann ich nicht leiden. Das ist keine elitäre Abscheu gegenüber volksnahem Bieraustrinken. Ganz im Gegenteil, es ist wohl eher so, dass wir Zustände, in denen wir selber einmal steckten, bei anderen überhaupt nicht sehen und ausstehen können. Das ging mir schon immer so. In der 2. Klasse Grundschule fand ich die frischen Erstklässler fürchterlich. Wie kindisch sie waren! Sie spielen in der Pause auf dem Schulhof Der Plumpsack geht herum. Ehrlich, das ist doch Kindergarten!

Ansonsten ist es natürlich völlig richtig, Schamoni und Strunk miteinander zu vergleichen, so wie man Stifter und Fontane nebeneinander halten kann. Schamonis Held Sonntag ist allerdings deutlich mehr fucked up als Heinz Strunk. Und auch erheblich mehr fucked. In einer sehr hübschen Szene wacht er nackt in einem fremden Bett auf und kann sich nicht mehr erinnern, was überhaupt passiert ist. Mangels Alternativen muss er in Frauenkleidern nach draussen. Er steigt in den Bus, und einige Jugendliche lachen ihn aus. Sonntag kommentiert:

"In jungen Männern wird die ganze Scheisse der Welt gelagert. All der menschliche Unrat gärt in diesen laufenden Psychogüllesilos. Ich weiss das, ich war selber so."

Wahrhaftig, der Plumpsack. Es ist übrigens verblüffend, wie Schamoni zwischen allen Episoden des fucked-up-life immer wieder solche Perlen der Lebensweisheit hineinsteckt. Und wir alle wissen, wie Perlen hergestellt werden: ein Stück Dreck, das über lange Zeit mit Muschelspucke überzogen wird.

Beunruhigend nur, dass auch unser heutiges Leben einmal zu den Zuständen zählen wird, die wir nicht mehr leiden können werden. Dreht euch nicht um.



04.03.2008 / 18:31 / Mehrere lesen: Verschiedenes (von manchen)

Sternstunden der Bedeutungslosigkeit – Irgendwo am Anfang (1-25)

Gemäss unserer neuen Strategie (Getrennt lesen, vereint schlagen) bin ich auch mit Schamonis Bedeutungslosigkeit befasst, habe allerdings etwas Nachlauf, da ich zur Vorbereitung letzte Woche die Wohlgesinnten las, also ebenfalls die Erinnerungen eines Fünfundzwanzigjährigen. Damals hatte man allerdings noch andere Sorgen.

Insofern nur eine Fussnote zu Volker Jahrs hervorragender Einleitung. Der zugelaufene Bruno (ausgerechnet!) erzählt über seine Strategie bei sexuellen Akquisitionen: er würde die Frauen einfach ansprechen und fragen, ob sie mit ihm "eine Nummer schieben". Meistens klappt das natürlich nicht, aber: "Aber jede Achte oder Zehnte, würde ich sagen, kommt mit."

So. Die Geschichte kenne ich. Mir hat sie vor langer Zeit ein gewisser Uli erzählt, und selbst die angegebene Quote stimmt überein ("ungefähr 10 Prozent"). Ich vermute, dass über diese Taktik seit hundert Jahren berichtet wird. Wahrscheinlich erzählt gerade heute auf dem Schulhof ein David seinem Freund Patrick: Du, ich frag einfach alle, ob sie ficken wollen, und jede Zehnte macht das dann.

Das ist alles Blödsinn. Bullshit. Weder haben diese Brunos, Ulis, Davids jemals so gefragt und schon gar nicht wird Ja gesagt. Glaubt nichts davon, es ist eine Legende für junge Männer. Ihr könnt genau so gut Yuccapalmen ansprechen, damit aus jeder zehnten eine Spinne herauskriecht. Gewiss, es gibt Abenteuer, aber sie funktionieren anders. Kick and rush, das hat noch nie funktioniert. Übt Euch lieber im gepflegten Flügelspiel.


05.02.2008 / 08:44 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Jenseits von Eden (229-299)

Der betrunkene Vater Vajkay wird von der heiligen Mutter Maria in der Schürze heimgetragen, wo ihn seine Frau zur Rede stellt. Und jetzt, endlich, platzt es aus ihm heraus, wir lieben sie nicht, sie ist hässlich, so hässlich. Da steht sie nun zwischen beiden, die ausgesprochene Wahrheit: "So starrten Lerches greise Eltern einander an, im Hemd, mit blossen Füssen, fast nackt, die zwei ausgetrockneten Leiber, aus deren Umarmung einst das Mädchen hervorgangen war." Dann geschieht – nichts. Beide gehen zu Bett.

Kosztolányi schreibt "Lerche" im Jahr 1923, also vierundzwanzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen. Es ist eine verlorene Welt und Zeit, die er dort beschreibt, und vielleicht ähneln sich sein Protagonist und Kosztolányi auch, wenn Vater Vajkay nach langer Zeit wieder das fast vergessene gesellschaftliche Leben wiederentdeckt, so wie Kosztolányi sich seine verlorene Heimatstadt Szabadka wieder herbeischreibt.

Oder stellen Sie sich vor, Sie müssten heute einen Roman über das Jahr 1984 schreiben. Damalige Ereignisse, Gespräche, Denkweisen sind so weit entfernt, dass ein erheblicher Übersetzungsbedarf bestünde, als wäre das Zeitalter selbst eine Vorläufersprache wie Mittelhochdeutsch. Es sei denn, Sie unterstellen Zeitgenossenschaft bei Ihren Lesern, und diese beherrschen das Mittelhochdeutsch von 1984 noch fehlerfrei oder haben die zwischenzeitlichen Lautverschiebungen nur unwillig mitgesprochen.

Am nächsten Morgen holen die Eltern Vajkay ihre Lerche vom Bahnhof ab. Sie hat eine kleine Taube in einem Käfig mitgebracht. Gerade eine Woche war sie weg, aber jetzt sieht ihr Vater, "dass sich eine Art aschgrauer Nebel auf sie gelegt hatte, zart, aber unzerreissbar, ein kaum sichtbares, dünnes, aber starkes Spinnennetz: das Alter, das gleichgültige, nicht gutzumachende Alter, das ihm nicht einmal mehr weh tat, das er im Namen seiner Tochter akzeptierte. So wie sie zu dritt nebeneinanderstanden, glichen sie einander schon." Die Spuren ihres einwöchigen Wohllebens haben sie heimlich beseitigt, und dann gehen sie abends, wie immer schon, ins Bett, und Lerche weint in ihr Kissen.

Und dann ist es vorbei. Ein merkwürdiges Buch. Mit einem lockeren, heiteren Ton, trotz kaiserlicher und königlicher Gemütlichkeit läuft das Buch in absoluter Hoffnungslosigkeit aus. Das Leben ist vorbei, und wir werden dagegen nichts ausrichten. Aber wenigstens stilvoll, in Leinen auf Bollorépapier.

299 von 299 Seiten

Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


19.01.2008 / 15:13 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Beim Googeln nach der verlorenen Zeit (202-202)

Kosztolányi schreibt "Lerche" im Jahr 1923, die geschilderten Ereignisse siedelt er allerdings im Spätsommer des Jahres 1899 an. Das ist eine augenfällige Parallele zu einem wesentlich berühmteren und umfangreicheren Werk; in der "Lerche" taucht sogar an zwei Stellen die Dreyfus-Affäre auf. Dazu später; erlauben Sie mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung.

Wenn Sie schon seit längerem planen, selbst eine Verlorene Zeit zu schreiben, wenn Sie öfter schon mit gespitztem Bleistift vor einem leeren Blatt Papier sassen und grübelten, ob Sie sich nicht doch zuerst Ihren "Moby Dick" schreiben, zum Eingrooven, so lassen Sie sich sagen: 2008 ist genau das richtige Jahr. Denn Proust hat ernsthaft mit seiner "Recherche" im Jahr 1908 angefangen. Das ist ein schönes Jubiläum und damit bekommt Ihr Projekt den richtigen astrologischen und jubilarischen Rückenwind. Naheliegenderweise würden Sie die ganze Geschichte genau um 100 Jahre verschieben müssen. Dazu möchte ich Ihnen auch einige chronologischen Handreichungen geben:


Die Welt der Guermantes
Ideal wäre es, wenn Sie 1971 geboren wären, aber natürlich hoffe ich, dass Sie das Jahr 2022 gesund und munter überleben. Die Handlungszeit Ihrer verlorenen Zeit spannt sich von 1990 bis 2019, davon ausgenommen ist Ihre Swann-Episode, mit der Sie auch das Buch anfangen lassen. Ihr Herr Schwann lernt Odette (Vorschlag: Sabine) 1979 auf einer Gorleben-Demo kennen. Sie müssen sich allerdings etwas einfallen lassen, warum Sabine eine mésalliance ist; vielleicht ist sie die Enkelin von Adolf Eichmann? Jedenfalls heiratet er sie erst 1989, was Sie dann schön mit dem Mauerfall zusammenkneten können. Ihre Tochter Gilberte (Daniela) lernt Ihr eigentlicher Held Marcel (beide sind Jahrgang 1980) im Jahr 1995 im Tiergarten kennen, seine erste grosse Liebe. Lassen Sie die beiden dann auch einmal auf die Love Parade tanzen und sich SMS schicken.

Wichtiger sind allerdings die Sommerferien 1997 auf Sylt inklusive junger Mädchenblüte und der jungen Albertine (Anja?). Beim anschliessenden Komplex mit den Guermantes und Monsieur Charlus müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Marcel lernt Charlus (vielleicht Jürgen Trittin) kennen und trifft die Guermantes (Claudia Roth, Joschka Fischer) auf dem Grünen-Parteitag 1999. Ja, das passt. Ein Jahr später zieht er mit Anja in eine Wohnung am Prenzlauer Berg. Die beiden nerven sich, wozu nicht unwesentlich Anjas lesbische Freundin Andrea beiträgt. Anja stirbt im Jahr darauf, ob durch Autounfall oder im World Trade Center, das müssen Sie selbst entscheiden. Danach verplätschert bekanntlich der Plot etwas, bevor Sie in einem grandiosen Fest 2019 alle Überlebenden noch einmal auftreten lassen.

Wenn Sie finden, das klingt alles mehr nach "Liegen lernen" als nach Proust, mögen Sie recht haben. Vielleicht sind unsere Zeiten nicht mehr so grandios, aber wer weiss, wie wir das nach dem Zweiten Ersten Weltkrieg (2014-2018) sehen. Und bis dahin haben Sie noch viel, viel Zeit.

202 von 299 Seiten

Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


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