05.02.2008 / 08:44 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Jenseits von Eden (229-299)

Der betrunkene Vater Vajkay wird von der heiligen Mutter Maria in der Schürze heimgetragen, wo ihn seine Frau zur Rede stellt. Und jetzt, endlich, platzt es aus ihm heraus, wir lieben sie nicht, sie ist hässlich, so hässlich. Da steht sie nun zwischen beiden, die ausgesprochene Wahrheit: "So starrten Lerches greise Eltern einander an, im Hemd, mit blossen Füssen, fast nackt, die zwei ausgetrockneten Leiber, aus deren Umarmung einst das Mädchen hervorgangen war." Dann geschieht – nichts. Beide gehen zu Bett.

Kosztolányi schreibt "Lerche" im Jahr 1923, also vierundzwanzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen. Es ist eine verlorene Welt und Zeit, die er dort beschreibt, und vielleicht ähneln sich sein Protagonist und Kosztolányi auch, wenn Vater Vajkay nach langer Zeit wieder das fast vergessene gesellschaftliche Leben wiederentdeckt, so wie Kosztolányi sich seine verlorene Heimatstadt Szabadka wieder herbeischreibt.

Oder stellen Sie sich vor, Sie müssten heute einen Roman über das Jahr 1984 schreiben. Damalige Ereignisse, Gespräche, Denkweisen sind so weit entfernt, dass ein erheblicher Übersetzungsbedarf bestünde, als wäre das Zeitalter selbst eine Vorläufersprache wie Mittelhochdeutsch. Es sei denn, Sie unterstellen Zeitgenossenschaft bei Ihren Lesern, und diese beherrschen das Mittelhochdeutsch von 1984 noch fehlerfrei oder haben die zwischenzeitlichen Lautverschiebungen nur unwillig mitgesprochen.

Am nächsten Morgen holen die Eltern Vajkay ihre Lerche vom Bahnhof ab. Sie hat eine kleine Taube in einem Käfig mitgebracht. Gerade eine Woche war sie weg, aber jetzt sieht ihr Vater, "dass sich eine Art aschgrauer Nebel auf sie gelegt hatte, zart, aber unzerreissbar, ein kaum sichtbares, dünnes, aber starkes Spinnennetz: das Alter, das gleichgültige, nicht gutzumachende Alter, das ihm nicht einmal mehr weh tat, das er im Namen seiner Tochter akzeptierte. So wie sie zu dritt nebeneinanderstanden, glichen sie einander schon." Die Spuren ihres einwöchigen Wohllebens haben sie heimlich beseitigt, und dann gehen sie abends, wie immer schon, ins Bett, und Lerche weint in ihr Kissen.

Und dann ist es vorbei. Ein merkwürdiges Buch. Mit einem lockeren, heiteren Ton, trotz kaiserlicher und königlicher Gemütlichkeit läuft das Buch in absoluter Hoffnungslosigkeit aus. Das Leben ist vorbei, und wir werden dagegen nichts ausrichten. Aber wenigstens stilvoll, in Leinen auf Bollorépapier.

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Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen