23.11.2007 / 02:52 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Schmidt hilft mit (17-21)


Hier verhilft Schmidt Mannheim zu einer attraktiven Stadtansicht, obwohl es keine echten Ostplattenbauten hat
Schmidt hatte mich nach seinem Training angerufen, um mir bei der Pflege der erkrankten Tochter zur Hand zu gehen. Er würde so um die Abendbrotszeit herum eintreffen. Seine Opferbereitschaft rührte mich immer wieder. Er hatte extra darauf verzichtet, sie diese Woche zu betreuen, um so die Gefahr zu vermeiden, die darin bestand, dass die Tochter sich nach Genesung in der kommenden Woche wegen verbliebener Bakterien in seiner Wohnung erneut infizieren könnte.

Es war wie Musik in meinen Ohren, als er gelangweilt die Ukulele der Tochter aus der Hand legte. Zuvor hatte er dem Kind ihretwegen eine halbe Stunde lang auf dem Krankenbett das Gesetz des Stärkeren zu erklären versucht und war erfolgreich dabei gewesen. Zumindest vermutete ich das; ich sass im Nebenzimmer und versuchte, mich auf die Beschreibung einer alpinen Landschaft mit See für eine Arbeit zu konzentrieren. Schmidt übte eine halbe Stunde lang Katjuscha oder wenigstens die ersten vier Akkorde des russischen Liedes, bis er hungrig davon wurde und die Tochter schickte, um Erkundungen bezüglich der Abendbrotzeit einzuholen. Ich verstand das nicht; seinen Erzählungen nach war er jahrelang in einer Band Gitarrist gewesen, was einer der Gründe dafür war, weshalb ich mir ein Kind von ihm erschlich. Ich selbst war ja von Kindesbeinen sehr unmusikalisch, hoffte aber wenigstens auf talentierten Nachwuchs, der dieses Bedürfnis in mir ersatzweise stillen könnte.

Die Tochter war nur schlecht zu verstehen, die Krankheit nahm ihr Atem und Stimme, aber mit mütterlichem Einfühlvermögen hörte ich heraus, dass ihr Vater momentan allergisch auf Teigwaren sei, auch Tomaten vertrüge er schlecht gerade. Da an Konzentration nicht zu denken war, nahm ich mir Meine Hilfsbereitschaft, die nächste Körperfunktion Schmidts, mit in die Küche. Das schmidtschste Problem schlechthin: der Undank der Welt, der ihm entgegenschlägt. Aus Kalkül und Eigennutz melden sich vermeintliche Freunde und angebliche Verwandte bei ihm, um ihn mit Wartungsaufgaben zu betrauen, während sie selbst in fernen Ländern in der Sonne faulenzen. Schmidt muss fremde Briefkästen leeren, Haustiere füttern, Pflanzen giessen und Strohwitwen sexuell befriedigen. Die Aufgaben werden zum Vollzeit-Marathon-Job. Schmidt hilft jedem. Wegen der weit voneinander entfernt liegenden Arbeitsorte schläft er nur noch in Parks, er ist ein Erniedrigter und Beleidigter, dem zu guter Letzt die Arme zerschlagen werden, weil er den übernommenen Aufgaben pflichtbewusst nachzukommen sucht. Sein einziger Trost ist das Lesen fremder Urlaubspost.

Mein Coq au vin war in der Tat angebrannt und vor allem: masslos versalzen. Mit dieser Kritik hatte Schmidt so recht, wie man dies nur irgend haben konnte. Es schien mir auch taktlos, dies mit meiner Mitgenommenheit aufgrund der Kochlektüre zu entschuldigen. Ich wollte nicht in alten Wunden bohren. Schliesslich: warum hatte sich Schmidt all dies von der Seele geschrieben? Wie jedem Künstler war mir natürlich bewusst, dass das eigene Werk nur einen einzigen Zweck verfolgt: die Therapie. Noch lange, nachdem Schmidt gegangen war, dachte ich über seine Abschiedsworte nach. "Du hast es gut, du kannst immerhin noch Köchin werden, wenn alles andere nichts wird. Ich kann gar nichts." Wenn es doch nichts mit der Musikalität der Tochter würde, dann doch gewiss in Sachen Lang- und Demut.

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