27.03.2009 / 20:04 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Theoretizitätsdimension (99-133)


The unboundedness of being.
(Bild: Image Editor, NASA, ESA and the Hubble Heritage (STScI/AURA)-ESA/Hubble Collaboration, Lizenz.)
Der moderne Antirealismus behauptet, wir könnten die Welt niemals so erkennen, wie sie wirklich ist. Denn wenn wir – auf welche Weise auch immer – den Realitätsbezug unserer Sprache untersuchen wollen und darüber dann eine Theorie formulieren, setzen wir wieder das voraus, was wir eigentlich untersuchen wollen: Dass die Sprache der Theorie die Realität richtig wiedergibt. Wir befinden uns also in einem Teufelskreis. Der Antirealist sagt deshalb: Reden wir nicht mehr über diese Realität jenseits unserer Sprache, das erspart uns die Peinlichkeit. Alles was wir haben können, ist die Welt, wie sie unsere Sprache uns präsentiert.

Der knallharte metaphysische Realismus hält dagegen: Natürlich gibt es eine sprachunabhängige Welt und es ist auch prinzipiell möglich, sie adäquat sprachlich abzubilden. Aber diese adäquate Theorie ist nur möglich aus der Perspektive eines perfekten Denkers ("God's Eye View"). Für uns Menschen liegt das ausserhalb unserer epistemischen Reichweite. Zwischen unserem Denken und der Welt liegt eine abgründige, unüberspringbare Kluft.

Für Puntel ist das alles Quatsch. Denn Sprache und Theorien auf der einen, und die Welt auf der anderen Seite gehören schon längst einer gemeinsamen Dimension an: Der Dimension des Seins. Die Sprache ist nicht begrenzt auf den Bereich des Denkens, die Welt und das Sein liegen nicht ausserhalb der Sprache ("the unboundedness of the conceptual") – und die Sprache liegt nicht ausserhalb des Seins, das Sein ist nicht begrenzt auf die Welt ("the unboundedness of being"). Zwischen der Welt und ihrer theoretischen Darstellung herrscht eine immanente Beziehung. Wenn der Mathematiker, der Logiker, der Theoretische Physiker und der Metaphysiker voll theoretisieren, dann denken sie nicht in einer abgeschlossenen Sphäre vor sich hin, dann sind die Strukturen ihrer Theorien identisch mit den Strukturen der Welt. Es kommt nur darauf an, dass sie wirklich voll theoretisieren, d.h. je kohärenter, je intelligibler und je vollständiger ihre Theorien werden, desto mehr stabilisieren sie sich hin zur Struktur des Universums selbst.1

Und überhaupt: Indem wir Sein und Existenz als solches erfassen, erfassen wir schlechthin alles, was ist, das ganze Universum und das Sein im Ganzen. Dann gibt es nichts und kann es nichts geben, was für unsere Theorien grundsätzlich niemals erfassbar wäre. Denn alles ist seiend, auch die Entitäten, von denen wir sonst keinerlei Ahnung haben, ja nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt. Wenn wir also die immanenten Strukturmerkmale des Seins selbst erfassen, erfassen wir die innersten Strukturmerkmale von schlechthin allem, was existiert. Eine voll durchgezogene Seinstheorie ist semantisch koextensional mit dem Universum als Ganzen.

Nichts anderes schwebt Puntel vor: Eine universale Seinstheorie. Und wie der Mathematiker und Physiker ihre theoretischen Sprachen haben, so braucht auch der Seinstheoretiker eine adäquate Sprache für sein Unterfangen. Diese wird bestehen in einem semiotischen System mit überabzählbar unendlich vielen Ausdrücken. Und genau dieser Wahnsinn wird jetzt Stück für Stück auf uns zukommen im Fortgang von "Struktur und Sein".

1) Hier spielt vorallem rein, was in Kap. 2.2.3.1 steht. Das ist besonders wichtig für das ganze Buch. Das syntaktische Kriterium für die Theoretizität von Sätzen ist, dass ihnen der Theoretizitätsoperator (T)φ vorangestellt werden kann. Das semantische Kriterium ist, dass es sich nur um Sätze handelt, die auf objektive Wahrheit abzielen. Es ist dann auch eine Kombination von Operatoren möglich, z.B. theoretische Aussagen über pragmatische, ästhetische oder ethisch-praktische Aussagen, z.B. (T)(P)φ. Der Theorieoperator (T)φ kann selbst aber nicht mehr im Skopus anderer Operatoren stehen.

133 von 687 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Hendrik:

Gern hätte ich, da anscheinend niemand sonst mehr hier kommentiert, etwas zur Puntel-Exegese beigesteuert, aber nach knapp hundert Seiten habe ich meine "Struktur und Sein"-Lektüre leider vorerst aufgegeben. Puntels Gestus der systematischen Einschachtelung und Einrahmung von Allem und Jedem, seine methodische Weigerung, etwas direkt zu den verhandelten Sachen zu sagen, ging mir zu sehr auf die Nerven. Das hat etwas vom Go-Spielen, dessen Anfangsgründe ich gerade lerne, dieses Besetzen von Feldern und Bereichen mit dem Ziel, möglichst umfassend Gebiet zu machen und dem Gegner mit Umzingelung zu drohen. Jedenfalls braucht man eine Geduld dazu, die ich zur Zeit nicht habe.
Vermutlich stört mich schon seine Festlegung der Philosophie auf 'Theoretizität' und seine Weigerung, eine Dimension von Besinnung, Therapie oder praktischer Abzweckung in der Philosophie zuzugestehen. Eine Philosophie, in der es nur und einzig um umfassende Stringenz, Konsequenz, Konsistenz oder meinetwegen Kohärenz ohne jedes Moment von Ausdruck geht, interessiert mich nicht, lässt mich kalt. Das Schwelgen im Formalen und in der Eleganz von logischen Kalkülen sollten die Philosophen doch besser den Mathematikern und theoretischen Physikern überlassen, die können das eh besser. Und Puntel fehlt es leider auch weitgehend, wenn auch nicht ganz und gar, an dem Humor, der zum Beispiel Quines Bücher lesbar macht. Eigenartig fand ich aber jedenfalls bei Puntels Orientierung an der analytischen Philosophie in Methodenfragen seine wiederholte Anknüpfung an Heideggers spätes Buch "Zur Sache des Denkens". Das kannte ich bisher nur von Ernst Tugendhat, diese Verbindung von Heideggers Seinsfrage mit analytischer Philosophie. Über Puntels Kritik an der Subjektivität muss man sich, glaube ich, nicht zu sehr den Kopf zerbrechen. Immerhin hat ja jeder die sprachliche Freiheit, zu jeder Aussage in "Struktur und Sein", auch zu jeder Aussage über die "Selbstartikulation des Seins" den Operator zu setzen: "meint Lorenz Bruno Puntel, der mit Sicherheit auch nicht alles weiss, wenn er es auch gern möchte".
Sehr empfehlen kann ich aber, um nicht nur Negatives zu schreiben, ein philosophisches oder jedenfalls philosophiehistorisches Buch, das ich gerade lese: Martin Mulsow: "Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720". Das ist erstaunlich gelehrt und liest sich trotzdem spannend wie ein Krimi, und zwar buchstäblich, weil es immer wieder um die detektivische Zuordnung anonymer, clandestiner Schriften zu Diskussionskontexten und womöglich Autoren geht, aber auch um wirkliche Probleme, um radikale Religionskritik vor allem.

12.07.2009 / 19:39