15.04.2008 / 11:24

Feuchtgebiete schauen dich an (1-218)

Heute auf der allmonatlichen Delicatessen-Liste der Lesemaschine: »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche. Ein unglaublicher Medien-Buhei wurde um dieses Buch veranstaltet (positiver Nebeneffekt: bei Johannes B. Kerner wurde plötzlich über Schamlippengrössen gesprochen), Titelthema in der Regionalzeitungswochenbeilage inklusive.

Da will ich nicht hintenanstehen, aus purem Nonkonformismus habe ich aber knapp einen Monat nach der Lektüre gewartet, bevor ich diesen Beitrag begann. Ich will auch gar nicht lang drumrumschreiben: Ein lustiges Cover haben sich die Menschen bei DuMont da ja ausgedacht, dank Spitzen-3D-Prägung dachte ich wirklich einen Moment lang, es mit einem echten Pflaster zu tun zu haben, hihi.

Nach dem freundlich-pinken Titelbild stelle ich fest, dass in den Unterhaltungssparten der deutschen Zeitschriftenlandschaft nicht zu viel versprochen wurde (»Die Zeit« monierte beispielsweise »unnötige Geschmacklosigkeiten« und »eine in erotischen Bezügen unnötige Direktheit«*). Roche kümmert sich um die Tabus dieser Gesellschaft und geht direkt ganz hart ran: Hämorrhoiden, Analfissuren, schmierige Klobrillen und viele andere Annehmlichkeiten des Alltags grüssen mich fröhlich, noch bevor ich Seite 25 erreicht habe. Und ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich zurück grüsse, im frohen und erhebenden Bewusstsein, mit Kauf und Lektüre von »Feuchtgebiete« ein emanzipatorisch-aufklärerisches Anliegen einer engagierten Autorin zu unterstützen, wie nicht zuletzt Charlotte Roche herself nicht müde wird zu betonen.

Nach diesem angenehmen – und zwischenzeitlich auch prima lustigen – Einstieg geht der Charme aber schnell verloren und alles Weitere lässt sich schnell zusammenfassen. Der Plot zum Beispiel: 18-Jährige, die spricht und sich benimmt wie eine 13-Jährige, kommt dank eines Intimrasurunfalls ins Krankenhaus, erzählt von einigen ihrer sexuellen und hygienischen Vorlieben, hadert mit ihrer Familie und verliebt sich in den Pfleger. Da hätte ich mir auch ein Groschenheftchen kaufen können. Der Humor ist ebenso leicht erklärt und durchschaut: Schema »trockener Kommentar auf merkwürdigen/komplizierten Sachverhalt«.

Bleiben noch die angekündigten Tabubrüche. Blutige Monatsbinden, Verzehr diverser Körperflüssigkeiten, auch in getrockneter Form, unbekümmerter Umgang mit gesellschaftlichen Hygienekonventionen, alles da. Ganz viel davon, ganz ausführlich – selbst das Auffuttern eines frisch ausgedrückten Mitessers wird auf eine halbe Seite ausgewalzt. Auf dass möglichst viel Ekel erzeugt werde, den die Autorin dann wieder thematisieren kann – Schema »wer sich vor sowas ekelt, ist unentspannt«. Erinnert mich ein bisschen an die Faszination, die ein überfahrener Igel oft auf Kinder ausübt. Oder auch an Jahrmarkt-Freakshows, wie man sie in Filmen von Terry Gilliam oder Tim Burton findet – gross werden da Dinge angekündigt und gezeigt, die nur deshalb Publikum ziehen, weil man weiss, was landläufig als abartig gilt, und am Ende gehen alle Zuschauer nach Hause, im frohen Bewusstsein, »normaler« zu sein als die Freaks auf der Bühne. Solcherlei auf gut 200 Seiten ausgebreitet ist aber doch vor allem eins: eher öde.

Im Buch erklärt die Protagonistin Helen, dass sie in einem ständigen Wettbewerb stehe, egal wo sie gerade sei, »die Lockerste« zu sein. Roche selbst hat ihr ganzes Buch offensichtlich mit diesem Wettbewerb im Hinterkopf geschrieben.

Was nun das emanzipatorische oder aufklärerische Anliegen betrifft... auf Britney Spears' letztem Album findet man zu solchen Themen vermutlich mehr Gedankenfutter.

* Ich gebe zu, dass »Die Zeit« dies nicht über »Feuchtgebiete«, sondern anno 1957 über Martin Walsers Debüt »Ehen in Philippsburg« schrieb.




P.S.: Die generelle Reaktion in meinem Bekannten- und Verwandtenkreis war übrigens folgende: in der Generation 40+ wurde das Gesicht irritiert verzogen »sowas muss ich nicht lesen, ich hatte selbst schon einmal Sex«, während die Generation 20+ vorrangig gelangweilt war. Positiver Nebeneffekt dieses Mini-Umfrageergebnisses: wow, fühle ich mich jung, schliesslich gehöre ich in meiner Bewertung von »Feuchtgebiete« zur Generation 20+.


Kommentar #1 von mädchen:

ah okay, wer sich ekelt ist unentspannt.
und wenn man schreibt, dass man sich bei all dem ekel vorrangig gelangweilt hat, dann ist man meta-entspannt, oder so?

15.04.2008 / 12:23

Kommentar #2 von total entspannt:

Ich finde Ekel auch ganz ganz toll.
Konisation und HPV finde ich auch super!
Ekel.
Ich werde jetzt doch Hippie!
Hippie ist geil. Dann lauf ich nur noch nackt rum.
Ekelhaft. Ich find sie alle ekelhaft.
Die meisten finden sich selber schön.
Dabei sind sie sehr hässlich.
Die meisten finden sich sooo schön,
dass sie auch noch einen GESCHLECHTS PARTNER finden.
Der ist dann mindestens genauso hässlich.
Aber das macht denen nichts aus.
Die finden sich gegenseitig schön.
Dann ficken sie.
Zwei Hässliche übereinander.
Nackt.
Die stinken dabei.
Aber das macht denen nichts,
die finden sich sexy.
Die ficken dann solange aufeinander rum bis die Milchkuh schwanger ist. Dann ficken sie sich noch in den Arsch.
So sind Menschen nun mal.
Die stinken, sind hässlich und kriegen Kinder.
Dann HEIRATEN sie.
Wegen der Steuer und wegen dem Fest.
Da machen sie sich dann NOCH schöner als sie eh schon sind.
Mit Blumen im Haar.
Dann sind sie glücklich.
Arschseelig sind die dann.
Und dann gehen sie wieder ficken.
Nachts zu Hause oder auf der Strasse
oder sonst wo.
Eigentlich egal wo.
Hauptsache GEIL.
Das ist der Sinn des Lebens.
Das machen alle so.
Geil oder?

15.04.2008 / 21:43

Kommentar #3 von André Fromme:

ah okay, wer sich ekelt ist unentspannt.
und wenn man schreibt, dass man sich bei all dem ekel vorrangig gelangweilt hat, dann ist man meta-entspannt, oder so?

Aber sowas von.

16.04.2008 / 16:39

Kommentar #4 von Frau Grasdackel:

Herr Fromme, vielleicht gefällt Ihnen ja "Bitchism" von Lady Bitch Ray, das im August erscheinen wird, besser. Dass sie es nicht nur bei theoretischen Beschreibungen belässt, konnte man im Ersten bestaunen, als sie Oliver Pocher eine Kostprobe ihres sonntäglichen Fotzensekrets überreichte. Charlotte Roche dagegen schreibt nur davon, dass sich Frauen anstatt Parfum lieber ihr Smegma hinters Ohrläppchen schmieren sollten. Wird sie jedoch darauf angesprochen, hat sie es gerade heute nicht getan.
Im Wettstreit Das Erste / ZDF steht es jedenfalls 1:0. Man darf gespannt sein.

26.04.2008 / 03:51

Kommentar #5 von Martin Kaprov:

Ich finde die Idee nicht grundsätzlich dumm das man ein Buch schreibt das gegen den grassierenden Schönheitswahn geht z.B. das von Frauen einfach erwartet wird das sie sich rasieren.
Ee müsste aber nicht so sehr ins Detail gehen. Es gibt bestimmte Dinge die will man nicht ausführlich erklärt haben, das ist im Bewusstsein des Menschen eben so verankert.

04.05.2008 / 14:52

Kommentar #6 von André Fromme:

Sehr geehrte Frau Grasdackel – Frollein Bitch Ray ist schon vor besagter Schmidt & Pocher-Folge durch mein Wahrnehmungsfeld gehüpft. Finde ihre Dauerprovokation allerdings nicht weniger öde als Roches »Feuchtgebiete«. Aber Sie haben Recht – auf ihre Aussagen angesprochen reagiert Roche zumeist defensiver als Ray.
Zusammengefasst: mich stört hauptsächlich die arg plumpe und damit letztlich langweilige Art und Weise, mit der Roche (und meinetwegen auch Ray) vorgeblich zum Nachdenken/Selbstbefreien/etc. anregen wollen. Bei Roche noch verbunden mit einer merkwürdigen inhaltichen Einfältigkeit, die just heute auf Spiegel Online von Thomas Tuma wie folgt zusammengefasst wird:

Auch »Feuchtgebiete« ist auf faszinierende Weise spiessig, denn die Botschaft lautet, dass Scheidungskinder wie Helen verhaltensgestört sind und vor allem ihre Eltern wieder vereinen wollen.

P.S.: Gegenüber dem Überreichen eines Döschens mit Intimsekret bei Schmidt & Pocher halte ich die Diskussion von Schamlippengrössen bei Kerner nach wie vor für bemerkenswerter. Ohne daraus einen ARD/ZDF-Wettstreit machen zu wollen.

06.05.2008 / 12:49

Kommentar #7 von Clemens Gleich:

Gibt es eigentlich schon Erklärungsansätze für den Verkauferfolg des Buches? Man sagte mir, die Zahlen seien supi. Gelesen hab ichs jetzt nicht, wenn ich eklig will, hab ich hier nen kleinen Stapel Welsh.

03.06.2008 / 22:11

Kommentar #8 von Clemens Gleich:

Gibt es eigentlich schon Erklärungsansätze für den Verkauferfolg des Buches? Man sagte mir, die Zahlen seien supi. Gelesen hab ichs jetzt nicht, wenn ich eklig will, hab ich hier nen kleinen Stapel Welsh.

04.06.2008 / 20:17

Kommentar #9 von jo:

kucke mal hier:
http://meylenstein.blogspot.com/2008/08/eine-combibrste-fr-helen-memel.html
ein total witziges ein Utensil für Helen Memel ...

10.08.2008 / 16:25

Kommentar #10 von Helen:

Alles ganz gut und schön, wer`s mag...
Gut und schön finde ich allerdings nicht, dass mein 13 jähriger Sohn ohne weiteres dieses "Meisterwerk" in einer Bücherei kaufen konnte.
Wo ist denn da unser vielgepriesener Jugendschutz?
Ich fand einige Seiten übrigens schon echt pervers.

21.01.2009 / 20:22

Kommentar #11 von André Fromme:

...was die Buchhandlungsfrage betrifft:
Ihr Sohn könnte auch (zum Beispiel) Henry Millers »Sexus« oder Philip Roths »Portnoys Beschwerden« problemlos erwerben. Nicht minder explizit, womit man nahtlos bei der Frage landet, ob eigentlich nur Weltliteratur schweinigeln darf und in Stil und Handlung eher nicht so überzeugende Bücher das nicht dürfen.
Wenn man nun noch viel weiter überlegen will, kann man auch fragen, ob die Tatsache, dass es Altersgrenzen für Filme, DVDs und Videospiele gibt, jedoch nicht für Bücher (Fotobände ausgenommen), wiederspiegelt, dass die Gesellschaft und/oder der Gesetzgeber weiterhin dem geschriebenen Wort a) weniger Macht und/oder b) einen per se höheren kulturellen Wert zuspricht als visuellen Medien.
Von dort aus kommt man wiederum zur Frage, ob Altersgrenzen für Bücher eigentlich auch wünschenswert wären, Altersgrenzen generell abgeschafft gehören, das bestehende Altersgrenzensystem ganz prima ist, oder wir eher über eine Ausdifferenzierung des Altersgrenzensystems nachdenken sollten.
Note to self: nächstbesten Sozialwissenschaftler (m/w) mit Themenideen für seine Doktorarbeit/Habilitation versorgen.

22.01.2009 / 17:55

Kommentar #12 von Perry:

Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Schreibende Kolleginnen meines Alters haben innnerhalb der sog.Social Beat Underground-Literaturszene schon in den 80ern und frühen 90ern z.B. via Fanzines oder Open-Mike-Lesungen derlei Themen, wie nun auch Charlotte Roche, ungeschminkt behandelt und in lyrisch, prosaisch oder poetisch weitaus ansprechender Form verpackt. Neu ist das nicht- doch war dieses provokante Thema weilnand noch zu avandgardistsch für die grosse Öffentlichkeit. Allein der Status eines VIVA -"Promis" und zwei Jahrzehnte mehr an medialer Verdummung und sexueller "Verplumpung" und narzistischer Überforderung konnten dem in Roches Buch allzu banal verschleuderten Thema den lukrativen Weg zur nun b(e)reiten Masse ebnen. Roches Beweggründe zum Verfassen ihres Buches mögen lobenswert sein, mit ihrem, nein nicht "trockenen" sondern unpointierten Schreibstil hat sie die Möglichkeiten ihres Sujets allerdings zugunsten eindimensianaler Effekthascherei auf zudem zu vielen Seiten verschenkt.Viele Seiten die man ja auch mit Sperma verkleben könnte?! Perry Schäfer

14.02.2009 / 00:39

Kommentar #13 von ...G_2...:

wieso sich ekeln vor so einem buch?
verstehe ich nicht ich finde das buch super geschrieben und die autorin wollte genau das erreichen, dass man drüber diskutiert wird!
und das tut schliesslich jeder.
ich kenne viele die das buch mit grosser begeisterung gelesen haben!
ich denke, dass buch ist deshalb so interessant, da es ganz anders geschrieben ist als alles andere und genau das aufgschrieben wurde, was sich sonst keiner auszusprechen wagt!
ich selber war oft darüber geschockt wie man dazu kommt solche sachen aufzuschreiben und hat zu viel duskussion in unsrem freundeskreis geführt, da es einfach so provokant geschrieben ist.
Ich bin so begeistert davon, da es einfach eine Provokation an unsere sonst so prüde gesellschaft ist!
und warum sollten das 13-jährige nicht lesen?
eltern sind dafür die die jugend, die sowas aufschnappt und liest aufzuklären und darüber zu reden!
wenn man als eltern einfach mal drüber nachdenkt worüber sich jugendliche in diesem alter sowieso unterhalten dann wären viele nicht mehr geschockt wenn sie bei ihrem Kind so ein buch im bücherregal finden!

17.02.2009 / 12:33