27.12.2008 / 21:15 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Die Welt im Theorierahmen (29-51)


Theorierahmen, Welt. (Bild: m.prinke, Lizenz.)
Die Kernthese der struktural-systematischen Philosophie (SSP) lautet also: Es gibt keine Bereiche des Universums, die nicht in irgendeiner Sprache artikuliert werden könnten. Wenn etwas nicht theoretisch ausdrückbar ist, dann liegt das an der Schwäche der verwendeten Sprache und nicht an der Welt – und es gibt dann immer eine bessere Sprache. Das Universum, bzw. das Sein, zerfällt nicht in einen Bereich des theoretisch Artikulierbaren bzw. Intelligiblen und einen völlig unintelligiblen Bereich, den man prinzipiell nicht artikulieren könnte. Das Sein ist daher vollständig zusammenhängend als uneingeschränktes 'universe of discourse'.

Es gibt also grundsätzlich keine isolierten Bereiche und Entitäten im universe of discourse. Alles hängt mit allem zusammen. Jede Entität ist nur vollbestimmt durch ihren Zusammenhang mit allen anderen Entitäten des Universums. Daher ist alles Struktur als "differenzierter und geordneter Zusammenhang" (S. 36). Das Universum, bzw. das Sein im Ganzen ist ein riesiger Zusammenhang – es ist "universal kohärent" (S. 24) und damit die vollständige Struktur schlechthin: Es gibt keine weitere Unterstruktur mehr, die dem Sein eingegliedert und die nicht seiend wäre, denn ausserhalb des Seins gibt es nichts. Das Sein ist also struktural komplett gesättigt.

Das hat Konsequenzen für Theorien über das Sein oder seine Teilbereiche: Es kann aufgrund des wesentlichen Zusammenhangs der Dinge miteinander keine isolierten Teilbereiche von Theorien geben, die abgeschlossen sind und voraussetzungslos für sich behandelt werden könnten. Jede theoretische Aussage ist nur innerhalb eines ganzen Theorierahmens sinnvoll, wobei der Theorierahmen die Gesamtheit der vorausgesetzten Sprache mit ihrer Syntax und Semantik, ihrer Logik und Begrifflichkeit ist. Und jetzt kommt eine sehr interessante Wendung in der SSP: Zwar ist jede Relativierung theoretischer Aussagen auf das Subjekt des Erkennens (die antirealistische These, dass wir die Dinge nur so erkennen könnten, wie sie uns unter unseren subjektiven Bedingungen erscheinen und nicht, wie sie "in echt" sind) ausgeschlossen, denn dies würde ein Zerfallen des Seins in den Bereich des Intelligiblen und den davon isolierten Bereich der unzugänglichen Wirklichkeit "in echt" bedeuten. Aber damit ist noch kein unkritischer Dogmatismus hervorgezaubert, der sagen würde, dass wir die Wirklichkeit in absoluter Wahrheit erkennen.

Vielmehr ist die Wahrheit jeder theoretischen Aussage relativ zu ihrem Theorierahmen und es gibt der Rahmen prinzipiell viele (sogar unendlich viele, wenn ich Puntel richtig verstanden habe). Dies ist jedoch ein moderater Relativismus, denn eventuelle Widersprüche von Theorierahmen untereinander lösen sich auf, je umfassendere Theorierahmen man einnimmt: Die Wahrheit ist das Ganze. Das Sein überhaupt ist die vollständig saturierte Struktur und als solche der Ausdruck (das Expressum) einer universalen Theorie von schlechthin allem. Da das Sein allumfassend ist, umfasst es auch jede Theorie und somit ist jede theoretische Aussage in einem partikulären Theorierahmen vermöge des Theoretizitätsoperators (T)φ Ausdruck einer Selbstartikulation des Seins (S. 23/24) in einem bestimmten Grad, der jeweils hinter der strukturalen Saturiertheit des Seins überhaupt zurückbleibt. Jeder endliche Theorierahmen muss in einem fortlaufenden Prozess der Determinierung vervollständigt werden. Der höchste und vollständige Grad der Selbstartikulation wäre dann die universale Theorie von allem.

Das Sein insgesamt ist also immer schon der Ausdruck einer möglichen universalen, absoluten Theorie. Meine Frage an dieser Stelle wäre: Ist diese Theorie menschenmöglich? Wenn nein, für wen ist sie dann möglich?1 Wenn das Wesen der Welt darin besteht, dass sie ausdrückbar ist, muss man dann nicht auch jemanden annehmen, der sie aktual ausdrückt? Und wer drückt da aus? Der Weltgeist? Gott?

1 Auf S. 25 wird dies für Menschen offenbar ausgeschlossen: Es heisst, "[...] dass ein höchster oder letzter, ein absoluter Theorierahmen – falls es einen solchen geben sollte – zumindest für uns Menschen schlechterdings nicht erreichbar ist." – Aber hier wird nicht ausgeschlossen, dass er für ein anderes Wesen erreichbar wäre oder bereits erreicht ist.

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Kommentar #1 von André Fromme:

Hatte ich meine Bewunderung für Ihre Ausdauer und Wehrhaftigkeit gegenüber dieser Art Texte bereits zum Ausdruck gebracht? Schon bei Ihrer Zusammenfassung fühle ich den Boden langsam unter mir schwummerig werden und meine Kopfhaut beginnt zu kribbeln. Ich befürchte, dass sich das auch nicht ändern wird, wenn meine Erkältungsmedikation wieder reduziert wurde.

07.01.2009 / 01:25