12.04.2010 / 02:00 / Angela Leinen liest: Jahrestage (Uwe Johnson)

Zwei bis drei Jahrestage (1-10)


Sommer 1967, Bad Godesberg
Heute hätte ich beinahe Uwe Johnsons "Jahrestage" gekauft. Sieht sehr modern aus, diese Ausgabe mit dem aufgeklebten Pappdeckel. Das Innehalten hat sich gelohnt: Der Einband steht ja kein bisschen über, das Ding ist einfach billig gemacht. Der rote Seitenschnitt bekommt schon vom Anfassen hässliche Stellen. Ich glaube, das haben die so gemacht, damit es schon vor dem Lesen zerlesen aussieht. Damit man es nicht mehr lesen muss.
Das ist wie mit den Jeans, man bekommt ja praktisch nur noch getragene Ware, je teurer desto getragener. Aber ich will nicht nörgeln, schwierig genug, eine zu finden, die passt, da nimmt man zur Not auch eine Getragene. Und wie ich, wenn mir einmal eine Jeans passt, gleich zwei oder drei davon kaufe, lese ich auch bewährte Bücher immer wieder. "Jahrestage" passen, da kann man auch zwei, drei im Regal haben. Ich habe die vierbändige orange Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von 1988 und den schönen Dünndruckband zum 50. Jubiläum des Verlages von 2000. Beide gelesen. In der Pappschachtel wird auch nichts Anderes stehen. Nehme ich also wieder die Orange.
Mein Vater übrigens sagte früher, wenn es ihm zu bunt wurde, immer: "Wir sind doch hier nicht in der DDR, wo jeder machen kann, was er will." Das ist jetzt auch kein Kracherscherz, aber immerhin eine Umleitung zum Buch. Gesine Cresspahl nämlich wollte auch lieber ein bisschen mehr machen, was sie will, und hat die DDR deshalb frühzeitig verlassen. Gesine kenne ich noch aus der Schule, da lasen wir "Musmassungen über Jakob".

21. August 1967, meine Mutter geht mit mir schwanger, meinen Bruder in einer Kinderkarre vor sich her schiebend. Ihre Haare sind toupiert, ihr Rock ist kurz, mein Bruder trägt eine kurze gestrickte Trägerhose. In ein paar Tagen, am 25. August, wird mein Vater 29, Erich Honecker 55 und Leonard Bernstein 49. Bonn, Berlin, New York. Wenn man bei Google "Wetter 21. August 1967" eingibt, bezieht sich gleich der erste Treffer auf Uwe Johnsons "Jahrestage". Laut Spiegel beginnen Schmidt und Brandt an diesem Tag mit der Anerkennung der DDR. Es herrscht grosse Koalition.

Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, an der Küste New Jerseys.


05.04.2010 / 00:14 / Kai Schreiber liest: The Science of Fear (Daniel Gardner)

Eine Liebe von Dan (11-86)


Oregon
Ich hatte ja keine Ahnung! Hätte ich gewusst, dass Daniel Gardner in Paul Slovic reinverliebt ist, ich wäre vorsichtiger gewesen mit meinem Spott in der letzten Folge. Die Wahrheit über Betrunkene und Verliebte ist ja schliesslich, dass man sie ihnen nicht sagen soll: wenn gefühlt jede zweite zitierte Studie im Buch von Paul Slovic ist, ist das vielleicht für mich eine interessante Beobachtung, aber Dan Gardner will das vermutlich gar nicht wissen. Und vielleicht irre ich mich ja auch, und Paul Slovic in Oregon ist der wichtigste Risikoforscher der Welt. Jemand also, der genau weiss, dass man zuerst Australien besetzt, weil es so einfach abzusichern ist, dass Asien in der Regel nicht zu halten ist, und dass man die Verbindung von Alaska nach Kamtschatka nicht vergessen darf. Und er muss deshalb eben so oft drinstehen im Buch.

Ausserdem verwirrend, abgesehen von dieser unter-, nein, das ist nicht mehr unter, dieser schwelligen Liebesgeschichte, ist, dass auf dem Cover als Untertitel, oder Obertitel, oder wie heisst das Kleingedruckte über dem eigentlichen Titel denn, dass da jedenfalls "How the Culture of Fear MANIPULATES YOUR BRAIN" steht. "MANIPULATES YOUR BRAIN" steht in einer Extrazeile und ist wirklich zwar in kleinen Lettern, aber sinnlos kapital geschrieben, sieht aber seltsamerweise trotzdem ganz vernünftig aus. Vielleicht habe ich mir sogar nur deshalb dieses Buch gekauft, in der Hoffnung, dass mir mal ordentlich das Hirn durchmanipuliert wird.

Dieser Obertitel steht da also, und bei "Fear MANIPULATES YOUR BRAIN" fiel mir altem Neurohasen natürlich sofort die Amygdala ein. Bestimmt gehts in diesem Buch um die Amygdala, dachte ich, endlich erfahre ich mal was über die Amygdala, und jetzt bin ich schon auf Seite 86 und bislang: mandelkernloses Rumgeeier. Der Mensch sei nicht rational, Entscheidungen fälle der Bauch und der Kopf fabuliere dazu, wir nutzten die Instinkte der Höhlenmenschen in dieser fabelhaften zukünftigen WELT DER ZUKUNFT, jaja, bla, bla. Schön und gut, stimmt sicher auch, wenn Paul Slovic das sagt, aber wo bleibt die bestellte Culture of Fear? Und wann MANIPULIERT SIE mir endlich MEIN bescheuertes GEHIRN auf links? Ich warte.

Kai Schreiber / Dauerhafter Link


25.03.2010 / 08:18 / André Fromme liest: Axolotl Roadkill (Helene Hegemann)

Nicht mehr ganz so frisch von der Strasse

Meine Freundin hat sich nach Durchsicht meines vorherigen Beitrags beschwert, dass man darin ja nichts über »Axolotl Roadkill« erfährt.
Schlimm. Aber auch egal. Mifti kotzt derweil zum x-ten Mal, in diesem Fall neben das eloxierte Aluminiumkeyboard ihres Bruders. Überhaupt ist Mifti permanent drauf. Eigentlich nebensächlich, wodrauf genau. Das verschwimmt vor meinem Auge genauso wie Mifti es nicht mehr klar kriegt. Sie lebt in einer Art institutionalisiertem Ausnahmezustand, ein bisschen wie Christiane F. mit einem tragfähigen finanziellen Sicherheitsnetz.

Im Verhältnis zu ihrem Umfeld wirkt sie dabei sogar noch relativ gesund. Wenn auch nur dadurch, dass sie eigentlich komplett überfordert ist. Vom Alkohol, den Drogen, den Körperflüssigkeiten, dem Sex – der Frage, was die Welt eigentlich von ihr will. An der Frage haben sich auch andere schon abgearbeitet. Oft reflektiver als Mifti es zwischen Schulverweigerung und Erbrechen tut. Aber »Axolotl Roadkill« ist auch weniger auf philosophische Erkenntnis aus, als auf die möglichst frisch zu Papier gebrachte Beschreibung teenagerlicher Überforderung. Im Buch erklärt Miftis Bruder ihr nach der Lektüre ihres Manuskripts, dass sie schreibe wie ein angefahrenes Tier. Das passt.
Eben dafür mag ich das Buch, trotz der unvermeidlichen Plattitüden, die sich ergeben, wenn man versucht, Jugendsprache zu verschriftlichen.

Als einzig lösenden Moment bietet das Buch einen wohl katharsisch gemeinten Brief an, der versucht, das komplizierte Verhältnis zwischen der toten Mutter und ihrer Tochter abzuschliessen. Ich muss allerdings gestehen, dass eben diese Hintergrundgeschichte mich schon das ganze Buch über einigermassen kalt gelassen hat, Parallelen zur Biographie der Autorin hin oder her.
Aber das macht nichts. »Axolotl Roadkill« war stellenweise nervig und überkandidelt; mein Leseerlebnis als Bild ist eine Parmesanreibe, die mir über's linke Schienbein gezogen wird. Merwürdig, dass ich das gut finde.

André Fromme / Dauerhafter Link


21.03.2010 / 13:12 / Kai Schreiber liest: The Science of Fear (Daniel Gardner)

Fürchtet Euch (1-10)

Dieses Buch, das macht schon der Schmutztitel klar, muss toll sein. Denn Paul Slovic, Professor für Irgendwas an der Uni von Oregon, sagt "Some books can change the world. This one might", und der Verlag – statt das hübsche Stück Stacheldraht in einer Schublade verschwinden zu lassen – posaunt die Beleidigung furchtlos in die Welt hinaus. Nachdem ich dieses Buch gelesen habe, werde ich bestimmt genauso furchtlos sein. Das wird fein.

Und es geht auch gleich schön los, mit der originellen Umdeutung eines Stücks moderner Angstgeschichte. Knapp 3000 Menschen starben, als das World Trade Center zusammenbrach. Noch einmal geschätzte 1600 starben im Jahr danach auf den Strassen, über die durchschnittlichen Verkehrstoten der Jahre vorher und nachher hinaus, weil aus Angst ganz Amerika nicht mehr mit dem Flugzeug, sondern mit dem Auto Zigaretten holen ging. Angst machen Menschen tot, der Hook ist gesetzt, und dann, nachdem er Verbesserungen der Lebensqualität rund um den Globus gelistet hat, treibt Gardner ihn noch etwas tiefer rein: "We are the healthiest, wealthiest and longest-lived people in history. And we are increasingly afraid. This is one of the greatest paradoxes of our time."

Das wäre ein toller Aufhänger fürs Buch, wenn es denn stimmte. Aber Angst hat man, wenn man etwas zu verlieren hat, und wir haben, wie Gardner selbst grade bewiesen hat, mehr zu verlieren als je ein Mensch zuvor: Schmaradox. Ich hoffe, ich muss mich nicht bei Paul Slovic in Oregon beschweren.

Kai Schreiber / Dauerhafter Link


07.03.2010 / 23:57 / André Fromme liest: Axolotl Roadkill (Helene Hegemann)

Frisch von der Strasse

Nach »Feuchtgebiete« bin ich selbsterklaerter Zuständiger für medial überrepräsentierte Skandalbücher.
Bei den Feuchtgebieten war der Skandal die offene Freude an Körperflüssigkeiten und sonstigen Ausscheidungen. Noch dazu in einem von einer Frau geschriebenen Buch. Bei der heute üblichen gründlichen Lektüre ist dabei niemandem aufgefallen, dass all der Muschisaft und die Menstruationsblutmassen nur Füllmaterial waren in einer Geschichte, die sich darum drehte, dass die Protagonistin eigentlich nur ihre geschiedenen Eltern wieder zusammenbringen und von einem edlen Ritter eingesammelt werden wollte.

Ähnlich lief es bei Helene Hegemanns »Axolotl Roadkill«. Zuerst konnte man (wie schon bei Roche) drüber diskutieren, ob es sich denn eigentlich gehört, solche Dinge zu schreiben. Generell schon eine ziemlich akademische Diskussion, die mir etwas fremd ist. Aber das Feuilleton war beschäftigt – man konnte ein bisschen aus sich selbst heraus wochenlang Themen produzieren, indem man über das Für und Wieder von Analsex und Drogen in Büchern debattiert, damit Aufmerksamkeit erzeugt und sich als nächstes fragt, ob das Buch denn überhaupt diese enorme Aufmerksamkeit verdient habe.
Dann erreichte die Erregung eine ganz neue Eskalationsstufe. Irgendjemand hat das Wort »Vaselintitten« aus Hegemanns Buch mal bei Google eingegeben und ist auf einen Blog gestossen, dessen Einträge teilweise erstaunliche Parallelen zu Hegemanns Text aufwiesen.
Beispiel:
• »Ich gehe, die fünfte Zigarette rauchend, auf den Balkon und saufe einfach so lange weiter, bis das Geld endlich WEG ist. Meine Existenz setzt sich momentan nur noch aus Schwindelanfällen und der Tatsache zusammen, dass sie von einer hyperrealen, aber durch Rohypnol etwas schlecht aufgelösten Vaselintitten-Installation halb zerfleischt wurde.«
• »Denn alles führt ja von selber von sich aus ganz automatisch zum Chaos und dies zu bejahen oder gar prototypisch zu personifizieren, ein Künstlerleben zu führen also mit Glitter, Schmutz und Pailletten, mit ganz bösem Nightmare-Bass für Erwachsene, mit farbigem Schattenspiel auf hyperrealen aber durch Rohypnol etwas schlecht aufgelösten Vaselintitten, das sollte dann doch angesichts der Vielfalt und Greifbarkeit dieser realistischen Erlebenssequenzen einem durch Liebe betäubten Leben vorzuziehen sein.«

Damit lief die nächste Kulturdiskussion. Das reinste Perpetuum Mobile.
Gern bemühter Kunstgriff: zuerst generell Helene Hegemanns Autorenschaft in Frage ziehen (merke: wer nachweislich dreissig Seiten plagiiert hat, hat auch die restlichen 170 abgeschrieben). Dann ist man die lästigsten moralischen Skrupel direkt mal los, und kann nach Lust und Laune einprügeln. Auf Hegemann (natürlich nicht auf sie selbst, nur die öffentliche Figur, schliesslich hat sie's ja gar nicht geschrieben – noch so ein schöner Kniff). Auf ihren Vater Carl Hegemann und den Kulturbetrieb im Allgemeinen und Speziellen, der »Püppchen« wie Hegemann missbraucht. Auf das Feuilleton – Wobei die Feuilleton-Eigen-Schelte sich natürlich immer auf die anderen bezieht – notfalls auf die eigenen Redaktionskollegen, dennen man nun noch einmal vorhalten kann, dass man das Buch ja immer schon scheisse fand. Gesamtergebnis: noch mehr heisse Luft als dem Buch zum Vorwurf gemacht wurde, und ein FAZ.net-Artikel, der wegen seines Reaktionärismus für mich das verachtenswerteste Stück Journalismus ist, das ich in letzter Zeit diesseits der BILD-Zeitung lesen musste. Weil es ebenso ungehemmt lustvoll auf Menschen und Ansichten einprügelt.

Zur Abwechslung schweife ich mal wieder ab. Eigentlich wollte ich ja über das Buch schreiben, das ich – Neugierde geweckt, ich funktioniere da ganz simpel – mir zugelegt habe. Aktueller Stand: knapp über Halbzeit. Mir ist dabei eigentlich ziemlich egal, was von wem stammt. Können sich meinetwegen Anwälte mit beschäftigen. Spannend finde ich das noch insofern, als dass mich das Gedankenspiel beschäftigt, wie die Reaktionen auf beiden Seiten aussähen wenn nun ein Blogger aus einem Buch abgeschrieben/zitiert hätte. Aber das führt hier wirklich zu weit.

Mein Verdikt bisher: Bereitet Kopfschmerzen und fühlt sich an wie besoffen. Total nervig, total verwirrt, total hyperaktiv, total im eigenen Interessenskosmos und der Unfairness der Welt eingeschwurbelt, erfüllt von Verachtung für die Welt da draussen. Total wie ich mit 17 (wie ich mich sah), minus die Drogen (Alkohol inbegriffen), die Parties und den Sex – und das Internet. Aber mit ähnlich vielen Musikzitaten. Bestes Buch seit langem, buchpreisverdächtig? Pfff. Ich habe bisher zwei Gewinnerbücher des deutschen bzw. Leipziger Buchpreises gelesen und fand beide eher solala. Ich habe kürzlich »Stiller« gelesen, das ich unendlich besser fand. Andererseits habe ich auch »Swung« von Ewan Morrison durchgeblättert, das ich unendlich viel schlechter fand. Trotz Gruppensex.


P.S.: Wen's interessiert – Klick.

André Fromme / Dauerhafter Link


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