08.07.2010 / 13:42 / Kathrin Passig liest: The Shock of the Old (David Edgerton)
Ich lese "The Shock of the Old – Technology and Global History Since 1900" auf Empfehlung von Philipp Albers zur Vorbereitung auf einen Vortrag über "Innovation", den ich demnächst halten soll, das Datum habe ich erfolgreich verdrängt, es ist jedenfalls weder heute noch morgen. Das Buch knüpft offenbar da an, wo meine Erkenntnisse aus dem Strombuch endeten: Unsere Wahrnehmung einer neuen Technologie hat wenig damit zu tun, was sie leistet und viel mit der Erzählung, die sie umgibt. Oft ist das eine Erzählung vom Weltfrieden, von der Emanzipation der Schwachen und vom Untergang alter Hierarchien zugunsten einer Meritokratie.
Den Vortrag habe ich freiwillig zugesagt, ich hätte gern mindestens ein zweites berufliches Standbein, besser noch ein drittes und viertes. Bis vor wenigen Jahren hatte ich alle diese Beine, und jetzt bin ich finanziell fast vollständig von der Verlagsbranche abhängig, einer Branche, deren Zukunft mir umso mehr Sorgen macht, als man dort offenbar immer noch ganz unbesorgt in die Zukunft blickt. So it goes. Für ein paar Wochen dachte ich "vielleicht Vorträge!", schliesslich werde ich regelmässig eingeladen, über irgendwas zu reden, wovon ich auch nicht weniger verstehe als andere. Ich halte sehr schlechte Vorträge, es sei denn, ich bin vorbereitet, dann halte ich mittelmässige Vorträge. Inzwischen glaube ich, Vorträge sind auch keine Lösung. Vielleicht macht es die Verlagsbranche ja auch noch eine Weile. Meine Vorstellungen davon, wie schnell sich die Welt durch Innovationen verändert, waren schon bisher nicht die präzisesten, warum sollten sie es diesmal sein?
"The Shock of the Old" ist, sagt der Autor, anders als andere Bücher über Technologiegeschichte nicht "for boys of all ages", sondern für Erwachsene geschrieben. Es wird um "use-centred history" gehen, um Dinge statt um Technologien, um die unordentlichen Wege des Fortschritts, die Überschätztheit von Innovationen und die gleichzeitige Existenz verschiedener Lösungen für dasselbe Problem. Auf den ersten Seiten altere ich wie vorgesehen um zwanzig Jahre, danach passiert erst mal nicht mehr viel.
29.06.2010 / 23:22 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Schottland, einzige postapokalyptische Landschaft Europas (Foto)
Es gibt genau zwei Dinge, denen ich vollkommen unkritisch begegne, und zwar Geographie und Postapokalypse. Dorothee Elmigers Einladung an die Waghalsigen hat beides und kann daher gar nicht verlieren*. Beim ersten Hören blieb der Sinn angenehm unscharf (ringsum angestrengte "hä"-Laute im ORF-Pressezentrum), aber die Wörter kamen sofort durch. Wenn es eine Gattung der Superwörter gibt, dann ist dieser Text voll davon: Flugmaschinen, Mekongdelta, Hotzentötzbrücke, eine lange Liste von Wüstennamen. Wüstennamen sind die Grosswesire unter den Superwörtern.
Inhaltlich geht es wohl um zwei Schwestern, die versuchen, sich in einer verwüsteten Landschaft mit Fördergerüsten und Schienensträngen zurechtzufinden, wobei sie vor allem auf Bücher angewiesen sind, viele verschiedene Bücher. Wenn man vorher John Hillcoats The Road gesehen hat oder wenn man einmal in den schottischen Highlands war, ist es nicht schwer, sich die Gegend vorzustellen, speziell wenn gleichzeitig Samuel Barbers Adagio for Strings läuft**, keine Ahnung, wie last.fm das macht. Genau wie bei 'The Road' auch diffus im Unklaren die Ursache des Weltuntergangs, irgendein Feuer, irgendwelcher Aufruhr, man weiss es nicht, und wer will das auch hinterher noch wissen.
Die Ortsangaben im Text ergeben keinen rechten Sinn; die Geschichte spielt in einem Kohlerevier, die Orte heissen St. Beinsen, Belkenburg, Wildenstadt, Wärgl, alles Orte, die vage in der Schweiz liegen könnten, bei denen Google Maps jedoch hilflos mit den Schultern zuckt. Stattdessen behauptet die Erzählerin, Rosa Stein, ein in diversen Büchern erwähnter Fluss Buenaventura würde, ihren Nachforschungen zufolge, durch dieses Gebiet fliessen. Im Text fliesst der Buenaventura durch Florida, in einen grossen See oder in den Pazifik, eindeutig aber in Nordamerika. Oder vielleicht auch in Italien, wie man später erfährt. Entweder wünscht sich Rosa Stein diesen Fluss und geht ihn deshalb in ihrem deutschsprachigen Kohlenrevier suchen, oder aber die Geschichte ist prinzipiell geographisch verwirrt und Missouri liegt direkt neben dem chinesischen Meer. Mir ist das natürlich vollkommen egal.
Die Liste der gutzufindenden Dinge ist lang, aber ganz oben steht der Optimismus, der am Ende übrigbleibt (wieder Parallele zu 'The Road'). Es ist leicht und ein bisschen trivial, das Ende der Welt als genau das darzustellen, aber zwar die Verzweiflung durchblicken zu lassen ("Wir sind wohl zu spät gekommen."), den ganzen Dreck zu akzeptieren und trotzdem auf irgendeine Weise hoffungsvoll zu sein ("Wir müssen zu Recht behaupten, dass dieser Zustand nicht der letzte ist."), trotz allem nicht zu jammern, sondern entschieden 'muss auch so gehen' zu konstatieren, das, also, das wünsche ich mir von der postapokalyptischen Literatur, wenn es dann noch Literatur geben sollte. Sollte es sie dann nicht mehr geben, wünsche ich mir, dass Wassermann mir Elmigers Buch zuschickt, von mir aus auch mit Anstreichungen.
noch nicht existierende Praxis: mit Tierkörpern durch die Wohnung gehen
unklare Metapher: das Fell des Pferdes
wiedererkanntes Personal: Karl Danz, erster Trompeter der örtlichen Blasmusik, ist der Vater eines Schulfreundes von damals, wohnhaft in Salmünster
* und tut es dann auch nicht: Gewinnerin des Kelag-Preises und des Preises der Automatischen Literaturkritik der Riesenmaschine
** Das ist jetzt keine kulturhistorische Angeberei, sondern die Titelmelodie eines total bekannten Kriegsfilms.
Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (3)
27.06.2010 / 12:55 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Ich erkenne eine Depression, wenn ich sie sehe, denke ich irgendwann während ich lese. Beim Erzähler, nicht beim Autor. Nur nicht vom schwarzen Rollkragenpulli auf den "wenig Abwechslung bietenden Kleiderkasten" schliessen. Grau und Schwarz, das sind die Farben dieses Jahrhunderts, so Thomas Ballhausen in seinem an Fantasyliteratur erinnernden Beitrag "Cave Canem". Welches Jahrhundert das sein mag, darf man sich selbst aussuchen, es finden sich Hinweise aufs alte Rom, das Ganze könnte aber auch in der Zukunft oder in Mittelerde nach einer der grossen Schlachten spielen. Wegen der Türme. Moment mal, Türme, da war doch noch was? Nein, falsche Fährte, die hier stehen noch, auch wenn sie bereits "in einen Prozess des Schwindens, des schleichenden Verfalls eingetreten" sind.
Der Autor gewinnt mich durch Unterwanderung meiner Erwartungen. Tarotkarten sind nicht das, was man beim Komparatisten als Inventar im Text suchen würde. Ich oute mich jetzt mal als Kennerin der Materie. Ergibt die Quersumme der Ziffern auf einem Nummernschild eine Drei, denke ich automatisch "Herrscherin", Fruchtbarkeit, Wachstum, Kreativität. Filmregisseuren geht es sicher genauso. Voraussetzung sich in Hollywood Director nennen zu dürfen, ist ein abgeschlossener Tarotkurs, in Verbindung mit einem Seminar für Numerologie. Das Close auf die Zimmernummer gibt schon vorab Hinweise darauf, wie das Treffen des Paares im Hotelzimmer ablaufen wird. Bleiben wir bei den von Thomas Ballhausen verwendeten Karten: Eine Sechs, die Liebenden, das erklärt sich von selbst, sieht man heute aber kaum noch, zu offensichtlich. Bei einer Neun, die für den Eremiten steht, ist es wahrscheinlich, dass es sich die Hauptdarstellerin auf dem Weg anders überlegt hat und der Hauptdarsteller lange warten kann – sie wird nicht kommen. Und die Sechzehn, der Turm, steht für eine Katastrophe oder was völlig Revolutionäres. Also entweder draussen Godzilla oder drinnen wilder Sex. Ohne das Wort "Gesäss", wenn es nach Juror Burkhard Spinnen geht. "Gesäss", so sagt er, sagt man nicht, geht es um Sex.
Darauf, dass sich in der Erzählung ein Hinweis auf Kubricks Eyes Wide Shut verbirgt, musste mich erst die Jury bringen. Vermutlich nicht die einzige Anspielung, die mir entgangen ist. Die von Thomas Ballhausen entworfene Welt ist voller Zitate und Verweise. Der Weg, den der Held der Geschichte hier aus der Abenddämmerung der Schwermut kommend, über die Erlösung durch körperliche Liebe ins Sonnenlicht geht, das eine alte rostige Kette freilegt, an der wohl der titelgebende Hund hing, vor dem man sich in Acht nehmen soll, dieser Weg verläuft nur scheinbar gerade. Tatsächlich führt er unzählige Stiegen auf und ab und kreuz und quer, denen ich nicht immer folgen konnte.
Michaela Gruber / Dauerhafter Link
27.06.2010 / 12:14 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Bis zum Ende des zweiten Absatzes geht der Text von Max Scharnigg okay, der im Titel proklamierte Anspruch ("Die Besteigung der Eigernordwand unter einer Treppe") ist sogar wunderbar verquer. Er ist nicht unbedingt popliterarisch, muss auch nicht, macht man ja auch gar nicht mehr heute, aber immerhin gibt es keine Scheu vor Ovomaltine und Markensportbekleidung, erwähnte Figuren haben Echtweltbezug (Anderl Heckmair), die "Mammut-Extreme"-Jacke transponiert das heroische Alpinistenthema in die profane Gegenwart.
Man sieht nicht aus dem Fenster, schweigt und raucht, sondern kommt mit der U-Bahn von der Arbeit und hört den "Mammut-Extreme"-Jacken-Trägern bei ihrer deformierten Konversation zu. Es hätte unterhaltsam werden können.
Aber: "Ich war überarbeitet", der Text leider auch. Vielleicht das Drama des begabten Journalisten, der zeigen will, dass er auch Literatur kann? Die Hauptfigur findet sich zwar nicht in einen Käfer verwandelt, aber immerhin so weit verändert, dass sie wie ein Insekt wochenlang ohne Nahrung und Ausscheidung unter der Kellertreppe verharren kann. Das wird so matter-of-factly zur Kenntnis genommen wie der Umstand, dass oben bei der Freundin ein fremder Mann ist. Dass das an Kafka erinnert, findet auch die Jury. In manchen Rezensionen ist so was immer noch als Referenz gedacht, die einem Text Superkräfte verleihen soll; in der Regel wirkt es wie Kryptonit. Es ist dabei gar nicht schlecht gemacht, sondern eine ziemlich gelungene Übernahme. Nur wirkt das, als würde man im Jahr 2010 bei der Bewerbung an der Kunsthochschule eine Mappe mit Siebdrucken von Campbelldosen einreichen.
Vieles andere – die Nachbilder auf den Lidern zum Beispiel oder der Vergleich von Zeitungen im Briefschlitz mit Sprengladungen im Fels – könnte ein hübsches Panel in einem Comic sein, aber es fehlt die Handlung, wegen der man sich das Ding zuallererst anguckt. Dass das Geschehen was auf die Rippen braucht, hat der Autor zwar gemerkt, es wird Paprikahendl angeboten, nur leider nicht mehr rechtzeitig.
Britta Krawtschik / Dauerhafter Link / Kommentare (1)
27.06.2010 / 09:42 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Verena Rossbacher, "schlachten. Ein Alphabet der Indizien." (vorgeschlagen von Burkhard Spinnen)
Ich hatte den Anblick von Frau Rossbacher in den letzten Tagen immer genossen: Die Dame kleidete sich auffallend und bunt, in schlanke, exotische Gewänder, über dem Rücken ihr langer Zopf – eine mit Selbstbewusstsein auffallende Erscheinung.
Über ihren Vorstellungsfilm hatte ich schon viel gehört, meist von Kopfschütteln begleitet. Selbst fand ich das Geblödel, in dem sie selbst gar nicht auftauchte, erfrischend.
Ganz in Schlicht und Schwarz, das Haar zu einem kindskopfgrossen Knoten im Nacken gebunden, sass Verena Rossbacher dann am Tisch und las – wie ich es noch nie in einer Lesung gehört hatte. Fast ohne Wortgrenzen säuselte und raunte sie mit einem Lächeln im Gesicht und mit Ganzkörpereinsatz – eine beschwörende Priesterin.
Der Text klang magisch. Assoziationsketten aus dem Moment und seinem Handeln wie in Ulysses. Andere Ketten und Bilder, die sich aus dem Blick aus dem Zugfenster ergaben. Sie führten scheinbar in beliebige Befindlichkeiten, ergaben dann aber doch in vielen Mosaiksteinen die Erinnerung an ein Gemälde, in das tief eingetaucht wurde, dann schlugen die Fragmente eine Brücke zur griechischen Mythologie und alles wieder zurück. Irgendwann schälte sich heraus, dass diese Welle an Assoziationen nur eine ganz besonders unangenehme und schuldbeladene Erinnerung überdecken sollten, und so entstand zusätzlich eine gewisse Spannung. Eine überbordende, barocke Fülle an Eindrücken und Erinnerungketten entfaltete sich in Rossbachers Beschwörung, und mir machte erstaunlicherweise gar nichts aus, dass ich keine Geschichte erzählt bekam. Mir gefiel das hemmungslose Weiterdenken von Bildern (ich werde wohl nie wieder den roten Faden verwenden können), das dennoch eine Struktur hatte, und sei es nur die äusserliche des Alphabets, dessen Einzelbuchstaben immer wieder Absätze bildeten.
Andererseits: Diese Textsorte ohne Grammatik ist beim Selbstlesen ein Gewaltakt; ich hätte ihn, wie ich beim anschliessenden Blick in den Ausdruck feststellte, nicht länger als drei Seiten lang durchgehalten. Würde mir aber jederzeit und mit Vergnügen mehr davon vorraunen und -säuseln lassen.
die Kaltmamsell / Dauerhafter Link