17.07.2010 / 01:40 / Aleks Scholz liest: Einladung an die Waghalsigen (Dorothee Elmiger)

Grand Erg du Bilma (45-101)

Was bleibt uns anderes zu tun als zu googeln.

Centralia liegt im Osten von Pennsylvania, irgendwo auf halbem Weg zwischen New York und Pittsburgh. Die Grubenfeuer von 1969 waren nicht die erste Kohlekatastrophe in der Gegend, dunkel erinnere ich mich an das Avondale Mine Desaster von 1869 (Feuer, 110 Tote) und das Knox Mine Desaster von 1959 (Wasser, 12 Tote). Offenbar starb niemand in Centralia, als das Feuer ausbrach, abgesehen vom Land. Seit 1962 brennen die Feuer in den Minen. Dieselbe Gegend sah auch tatenlos beim Kohlestreik von 1902 zu, aber das kann man der Gegend kaum vorwerfen. All das ist eindeutig den Akten zu entnehmen.

Der mythische Fluss Buenaventura wiederum existierte nur zwischen 1822 und 1844, und zwar auf der Landkarte. Es gab ihn nie in Pennsylvania, nie in Missouri, nie in Florida, und seltsamerweise auch nie in den Rocky Mountains, aber dort zumindest auf der Landkarte. Bis J.-C. Fremont den Fluss tötete, und zwar mit Hilfe der altmodischen Technik des Nachschauens. Nachschauen ist etwas, das nicht viele Lebewesen können. Na gut, genaugenommen sogar ziemlich viele, wie viele genau, das sollen andere googeln.

Immer weniger klar ist mir der Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität. Ich meine, das, was man gemeinhin darunter versteht. Ich verstehe zum Beispiel, warum die Dörfer rings um Centralia Namen haben, die wie Schweizer Dörfer klingen. Ich verstehe auch, warum Fremont in der Fiktion Le-Mont heisst. Ich verstehe, warum der fiktive Fluss in der Fiktion in Pennsylvania vermutet wird. Meta-fiktive Flüsse können von mir aus machen, was sie wollen.

Ich verstehe nicht, warum in Pennsylvania auf einmal auch eine neue Zeitzone anfangen muss. Reichte die Wasserscheide nicht? Ich verstehe nicht, wieso Margarete Hemingway kennt, von dem nichts im Regal steht. Nichts. Ich verstehe nicht, warum Finlaysons Karte von 1822, auf der der Fluss Buenaventura eingezeichnet war, in der Fiktion von 1823 ist. Welchen Sinn sollte es haben, diese Zahl um eins zu erhöhen? Nur für den Kick? Warum hat Fremont viel später in der Fiktion auf einmal den Fluss in die Karte eingetragen, wo er ihn doch daraus entfernt hat? Und letztlich ist auch schwer zu verstehen, warum die Kohle von Pennsylvania etwas mit dem Meer zu tun haben will. Soweit ich das verstehe, entstand sie vor 300 Millionen Jahren, und zwar in einer Sumpflandschaft. Wasser war im Spiel, aber Meer? Die Fossilien jedenfalls wissen nichts von Meer, und Fossilien lügen nie. Ausserdem denken sie sich nichts aus.* Im selben Zeitraum übrigens entstand der Superkontinent Pangäa, das ist ein Fakt. Warum orientieren sich Kapitäne an Wind und Wetter? Warum hat Fritzi bei ihrer eigenen Geburt zugesehen? Kann man in Centralia Drogen kaufen?

Offenbar gibt es in Centralia heute eine männliche Person unter 18 und noch eine Person zwischen 18 und 24, die Jugend der Stadt. Centralia hat keine eigene Polizeistation mehr. Es ist nicht schwer, damit klarzukommen, dass die Fiktion das anders sieht. Es ist auch nicht schwer zu sehen, warum man in Centralia über das Leid der Jugend klagt, es gibt sicher kein Kino und nicht mal eine Bushaltestelle. Aber warum Fremont, der immerhin schon 30 und Expeditionsführer war, plötzlich auch zu den Jugendlichen zählen soll und zu einem Instrument der leidigen Teenagerklage wird, das sollen andere herausfinden. Ganz zu schweigen von den Tierkadavern. Tierkadaver, bitte.

* Einen Roman aus der Sicht eines Fossils könnte man auch mal schreiben.


16.07.2010 / 20:05 / Kathrin Passig liest: Geschichte der Eisenbahnreise (Wolfgang Schivelbusch)

Das Internet von damals (1-9)


Einige Nachfolger der Dampfmaschine, Black Country Living Museum, Dudley. Vorne rechts junge Briten in einem "Little Willie"-Panzer (1915).
Foto: Franziska Leonsen
Wolfgang Schivelbuschs "Geschichte der Eisenbahnreise – Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert" fängt mit Newcomens atmosphärischer Dampfmaschine an. Die Newcomen Engine war die erste Dampfmaschine der Welt, und ich fühle mich ihr persönlich verbunden. Im Januar war ich zum Tough Guy Contest mit Angela, Franziska und Aleks nach Wolverhampton gereist, das im "Black Country" liegt, im 18. und 19. Jahrhundert eins der Haupt-Kohlereviere Grossbritanniens. Es heisst, das Black Country habe Tolkien als Vorbild für das Land Mordor gedient. Heute ist es dort wieder grün, und man kann die Mordorverhältnisse im Black Country Living Museum besichtigen. Wo andere Freilichtmuseen alte Schweinerassen und Wassermühlen enthalten, regieren hier die Industrialisierung und die Kohle auf einem Gelände, zu dessen Besichtigung man eigentlich den ganzen Tag bräuchte.

Weil wir nicht den ganzen, sondern nur einen halben Tag Zeit hatten, bevor wir uns auf der Mr. Mouse Farm For Unfortunates einfinden und registrieren mussten, warfen meine Mitreisenden nur einen Blick durch die Tür in den Raum, in dem eine working replica der nur ein paar Kilometer weiter erfundenen Newcomen Engine steht. Sie füllt ein ganzes Haus, das so aussieht. Manchmal läuft sie auch. Das sieht dann so aus. An diesem Tag stand sie jedoch still, und im Inneren des Hauses war ungefähr das hier zu sehen, nur viel mehr davon. Die Newcomen Engine wirkt wie vom Dorfschmied aus alten Zinkbadewannen zusammengeklopft, was im Grossen und Ganzen den Tatsachen entspricht. Sie ist ein enormes Ding in ihren Ausmassen wie in ihren Auswirkungen. Ich betrachtete sie eingehend und las alle Tafeln durch, falls ich eines Tages in eine Zeitmaschine geriete und dem Mittelalter die Dampfmaschine erklären müsste. Man will dann ja nicht nur mit Rindenboot, Teelicht und ausgeblasenem Ei dastehen. Den Tafeln war zu entnehmen, dass der Kolben sich in der Newcomen-Engine wieder zurück in die Ausgangsposition bewegt, weil man kaltes Wasser in den Zylinder spritzt. Heute gibt es dafür elegantere Lösungen, ich weiss zwar noch nicht, welche, aber gebt mir ein paar alte Badewannen und einen Dorfschmied, dann kommen wir klar, das Mittelalter und ich. Ich lief den anderen nach und sagte: "Das ist das Internet von damals! Und ihr geht einfach so dran vorbei!"

Bei Schivelbusch heisst es, die Newcomen-Dampfmaschine habe zum ersten Mal "im Kohlerevier von Newcastle" Anwendung gefunden. Aber das stimmt nicht. Es war genau dort, in Mordor, und ich war quasi dabei. Was sind schon 200 Jahre unter Freunden.


15.07.2010 / 02:00 / Aleks Scholz liest: Einladung an die Waghalsigen (Dorothee Elmiger)

Florida (1-44)

Eigentlich sollte ich mich mit Zeit befassen. Dringend muss ich mehr über Zeit wissen, viel wichtiger, ich muss dringend mehr darüber wissen, was wir nicht über Zeit wissen, warum das so ist und was man dagegen tun kann, ausser verzweifeln. Dazu müsste ich Bücher lesen mit richtigen Fakten und Zeug, und das mache ich auch gleich wieder. Zwischendurch mal was Ausgedachtes. Ich lese sonst nie Ausgedachtes. Ich frage mich ausserdem, was Arthur von mir will. Arthur heisst die Katze, irgendeine Katze.

Es war nicht trivial, an das Buch zu kommen. Als es auf der Insel ankam, verschwand es zunächst in einer Spalte der Poststelle, an die sich niemand mehr erinnern konnte. Die Poststelle ist im Keller des Shelbourne-Hauses eingebaut, ein angenehmer, kühler Ort mit Neonlicht, Ordnung, vielen Fächern, leisem Radio und zwei Männern ohne Haaren, die durch eine Luke mit einem sprechen. Dazu müssen sie sich bücken. Nach ein paar Tagen stellt sich das Buch wieder an einem normalen Ort ein. Auf dem Einband abgebildet ist ein Geierviertel, so ungefähr jedenfalls. Ich halte den Geier kurz neben Arthur; ihre Augen ähneln sich.


Quelle

Immer weniger glaube ich an die Gegenwart. Es macht einfach keinen Sinn, an das Vergehen der Zeit zu glauben, nicht, wenn die Perspektive die eines Wissenschaftlers ist. Die Gegenwart, der rote Punkt, der langsam durch die Zeit wandert, existiert nur, weil ich existiere. Die Welt soll aber auch ohne mich funktionieren. Es gibt kein Jetzt da draussen. Es gibt keinen roten Punkt da draussen. Kein einziges Experiment hat je einen roten Punkt in der Zeit ans Licht gebracht.

Unter diesen Umständen ist es schwer, ein Buch zu lesen, in dem alles voller Jetzt ist. "Später ist es zu spät, es ist jetzt, immer Jetzt, und Unbedingt." Die Markierungen stehen genau so da, ihre Existenz beklagenswert. Aber es ist trotzdem falsch zu behaupten, die Vergangenheit sei vorbei und die Zukunft noch nicht da. Alles ist da, fast hätte ich immer schon gesagt. Aber immer schon gibt es ganz sicher auch nicht. Die Ungewissheit der Zukunft ist unser Problem, nicht das der Welt da draussen. Wer sich davon nicht löst, wird nicht klarkommen. Margarete Stein muss noch lernen. Ihr Regal enthält leider kein einziges Buch über Physik und nur eine Einführung in die Astronomie. Arthur geht jetzt.

gut: Riesenwels, Fragezeichenorgie (Seite 25-26), angenehme Nahrungsmittel, gute Sätze, mehr gute Sätze, wirrer Quatsch

schlecht: bedrohliche Supermetaphern (Land, Fluss, Buch), erheblicher Actionmangel, wirrer Quatsch

44 von 143 Seiten

Aleks Scholz / Dauerhafter Link


13.07.2010 / 18:13

Ratlosigkeit und Stagnation

Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Margarine Wal enthält. In den 1930er Jahren wurden 30-50 Prozent der europäischen Margarine aus Wal hergestellt. Besonders beliebt war Walmargarine in Deutschland, Grossbritannien und Holland. Dass das eklig ist, darauf wiesen bald auch die Nazis in einer Kampagne zur Stärkung der deutschen Butter hin. Dem Wikipediaeintrag "Deutscher Walfang" kann man Wörter wie "Speckschneidermaat" entnehmen.

"The Shock of the Old" ist ein Buch voller Zahlen, Daten und schöner Fakten, die aber die Grundidee nicht weiter voranbringen. In den letzten beiden Kapiteln geht es noch einmal zusammenfassend darum, dass und warum man Erzählungen von der Art und Logik des technischen Fortschritts skeptisch betrachten soll. Implizit kann man dem Buch auch entnehmen, dass es ratsam ist, erst Fakten zu sammeln und dann Dinge zu behaupten. Das macht mir Sorgen, denn ich halte es eigentlich meistens umgekehrt. Einmal in meinem Leben habe ich wirklich gründlich sämtliche Fakten zu einem Sachverhalt gesammelt. Das dauerte einige Jahre und kostete einen Grossteil meines damaligen Einkommens. Das Ergebnis interessierte niemanden; ich hätte eine Doktorarbeit daraus machen können, die dann auch keinen interessiert hätte. Was soll man daraus jetzt lernen?

Mit dem Vortrag bin ich auch noch keinen Schritt vorangekommen.

212 von 212 Seiten


09.07.2010 / 16:54 / Kathrin Passig liest: The Shock of the Old (David Edgerton)

Mühsame Fortschritte


Alles meins, meins!
Inzwischen besitze ich Haftmarker in mehreren Grössen und mit praktischem Lesezeichenclip, aber bei "The Shock of the Old" ist das alles keine grosse Hilfe. Auf jeder Seite stehen zahllose schöne Fakten über Atombomben, Ochsen, Spinnräder, Traktoren und Eternit, aber wenn ich am Ende der Kapitel versuche, eine zusammenhängende Idee dahinter zu erkennen, scheitere ich. Vielleicht ist es die Hitze, vielleicht liegt es an David Edgerton. Was ich bisher dazugelernt habe, ist bescheiden:

- Eventuell (d.h. wenn Edgerton recht hat) war der Einsatz von Atombomben im Zweiten Weltkrieg weder billiger noch effizienter als konventionelles Bombardieren. Eventuell wären die Deutschen besser beraten gewesen, zum Preis der V2 stattdessen 24.000 Kampfflugzeuge zu bauen. Eventuell stimmt auch die Geschichte von der Kriegsverkürzung durch den Einsatz von Atombomben in Japan nicht, aber da wüsste ich dann doch gern mehr, als Edgerton auf zwei Seiten erklärt, bevor ich mich mit Scot Stevenson von USA erklärt anlege.

- Im Zweiten Weltkrieg kostete es 500 Millionen US$, eine Stadt auf die eine oder andere Art zu zerstören. Ist ja auch nützlich, da mal konkrete Zahlen zu kennen, bevor man leichtfertig beschliesst, irgendwas zu bombardieren.

- Eine neue Technologie muss sich nicht an einem Paralleluniversum messen lassen, in dem gar nichts Vergleichbares existiert, sondern an ihren Alternativen. Im Vergleich zu diesen Alternativen sehen Technologien offenbar zu jedem Zeitpunkt nur wenige Prozent besser aus.

- Nach einer Studie von 2003 gab es zu diesem Zeitpunkt in Grossbritannien unbenutzte Haushaltsgeräte im Gegenwert von 3,2 Milliarden Pfund, darunter 3,8 Millionen brachliegende Fonduesets.

- "Much of the discourse on technology is a commentary on philosophical and other writings on technology. There is a danger that descriptions of technology turn into realities which are used to explain the nature of modern society."

- Es gibt ein Wort für "maintenance engineering": Terotechnology.

- Reparatur- und Wartungsarbeit existiert losgelöst von der Massenproduktion und hat wenig bis gar nichts mit ihr zu tun.

- Wenn eine Fertigungsanlage komplett durchautomatisiert wird, kann es passieren, dass die zusätzlich entstehenden Wartungskosten die Arbeitsersparnisse übersteigen. Vielleicht hat Michael Brake doch recht mit seiner Zukunftsvision einer Systemadministrokratie.

Nutzen für den Innovationsvortrag bisher: Keiner bzw. ein negativer, denn ich weiss jetzt weniger als vorher. Was natürlich immer gut ist, nur nicht gerade dann, wenn man einen halbstündigen Vortrag halten soll.

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