27.06.2010 / 09:05 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Gleich das Eichendorff Zitat zu Anfang von Peter Wawerzineks Text "Rabenliebe" ("Verschneiet liegt rings die ganze Welt, ich hab nichts, was mich freuet, verlassen steht der Baum im Feld, hat längst sein Laub verstreuet, der Wind nur geht bei stiller Nacht, und rüttelt an dem Baume, da rührt er seinen Wipfel sacht und redet wie im Traume") spaziert bei mir mitten in eine treffliche Bildungslücke hinein, will sagen, ich habe es natürlich nicht erkannt und erst mal gedacht: Alter, wie schreibt der denn?
Später kommen noch andere, nicht sofort und ohne Weiteres zu identifizierende Zitate, aus alten Kinderliedern oder von Eduard Mörike, im Text vor. Bei Helene Hegemann hat man sich über derartiges sehr echauffiert. Nun gut, aus dem bildungsbürgerlichen Kanon darf man sich eben ungestraft bedienen. Wenn man als Leser das Zitat dann als solches nicht erkennt, ist man selbst der Depp und denkt ständig: Alter, wie schreibt der denn? Zum Glück gibt es in Klagenfurt eine Jury, die einem da ein bisschen auf die Sprünge hilft.
Nachdem diese Hürde genommen ist, kann der Text einen durchaus kriegen. Es geht um die autobiografische Aufarbeitung der eigenen, in DDR-Waisenhäusern verbrachten, Kindheit des Autors.
Die Beschreibung der Anfahrt zum Heim, von Gedanken und besagten Zitaten durchsetzt und poetisch verbrämt, baut eine gewisse Spannung auf. Was erwartet den kleinen Jungen, der sich da aus der Realität hinaus phantasiert, am Ende des Weges in diesem unbekannten, hermetischen Reich namens Kinderheim? Und was liegt hinter ihm? Schlimmes ist zu befürchten, denn der Autor hat nicht nur Eichendorff, sondern auch Zeitungsmeldungen jüngeren Datums über grob vernachlässigte Kinder eingebaut. Dem Text tut das nicht unbedingt gut, diese Nachrichtenschnipsel hängen da eher unmotiviert drin.
Das Ende des Textes thematisiert die Sprechverweigerung des Kindes mittels einer ausführlichen Abhandlung über die Funktionsweise der menschlichen Sprechorgane, also der körperliche Erzeugung von Sprache. Möglich, dass der Autor schon als Kind Sprache lieber mittels Buchstaben erzeugt hätte.
Kleine Korrektur am Schluss: An einer Stelle benutzt Wawerzinek "im vierten Jahr sein" synonym zu "vier Jahre alt sein". Autoren können ja oft nicht so gut Mathe.
Ulrike Sterblich / Dauerhafter Link
27.06.2010 / 00:42 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Foto: badkleinkirchheim, QuelleWährend alle auf die Autorin warteten, die gleich beginnen würde, ihren Text vorzulesen, beobachtete ich die ganze Szenerie von jenem Fernsehsessel aus, in dem ich seit vielen Jahren beinahe täglich sass und dachte, dass es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Textbesprechung in der Lesemaschine zuzusagen. Da fahren die ganzen Digitale-Bohème-Penner, die du nur aus dem Internet kennst, wie jedes Jahr wieder nach Klagenfurt und machen sich ein paar schöne Tage, und du blöde Sau sitzt in deinem Büro am Donnerstag und am Freitag und kannst dir das nicht mal als Livestream oder auf dem Fernseher anschauen, Freitag hast du zwar früh aus, aber Aleks Scholz liest schon um 12.00 Uhr, das ist nicht zu schaffen, der Nachmittag dagegen theoretisch schon, aber dann läuft ja auch WM, die interessiert dich viel mehr als der ganze Literaturquatsch. Der interessiert dich zwar auch, aber jetzt nicht so sehr, dass du dir zwei Tage Urlaub nehmen würdest, um das anschauen zu können, wie du es jedes Jahr bei den Bergetappen der Tour de France tust, die auch immer ganztags übertragen werden bzw. eigentlich wurden, man muss hier ja die Vergangenheitsform verwenden, seit die total verkommenen Öffentlich-Rechtlichen ihr Gutmenschentum entdeckt haben und glauben pflegen zu müssen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Leichtfertig zugesagt hatte ich das vor einigen Wochen schon, die Besprechung eines Textes zu übernehmen, und dann die plötzliche Erkenntnis, WEDER Fussball NOCH den Literaturkram gucken wird es am Freitag nachmittag werden, nein, da ist ja noch das Schulfest von den Kindern, und du hast dich eingetragen zum Getränkeverkauf, weil du scheel angesehen wirst, wenn du dich nicht einträgst in die Listen, können die einen nicht wenigstens eingangs des Wochenendes in Ruhe lassen, wem nutzt so ein Schulfest, für die Eltern ist es eine Plage, dachte ich auf dem Fernsehsessel, die Kinder haben auch nichts davon, sehen sich ja die ganze Woche, ausserdem ist es ihnen eh viel zu warm und am Ende taumeln sie mit Sonnenstich über den Pausenhof, eine Unverschämtheit und Zumutung für alle Beteiligten, Ausfluss längst überkommener Konventionen, im Grunde genommen vergleichbar dieser lächerlichen Veranstaltung in Klagenfurt. Macht der "Kastenbrotkopf" (Tex Rubinowitz) eigentlich heuer auch die Moderation, hatte ich überlegt. Keine Chance, das herauszufinden bis Samstagmorgen, keine Sekunde von dieser Talentezertrümmerungsveranstaltung wirst du gesehen haben bis Samstagmorgen.
Samstag, der Tag, an dem du dich normalerweise langmachen kannst, "Brötchen mit Kaffee und bei Musik die Zeitung lesen" (Truck Stop), dann irgendeine sinnentleerte manuelle Tätigkeit zum Runterkommen und Rauskommen aus der Werktagsmühle, die Küchenkräuter auf dem Balkon hätten schon lange gepflanzt sein wollen, auch ein Teilwasserwechsel im Aquarium stünde an, aber du Narr musst dich dazu eintragen, einen Klagenfurttext zu besprechen in der Lesemaschine, und die verdammte calvinistische Arbeitsethik hindert dich daran, darauf zu scheissen und stattdessen die besagten Verrichtungen zu tätigen oder dich sogar einfach in der Buga an den See zu legen bei dem grossartigen Wetter, obwohl es natürlich eigentlich auch schon wieder zu heiss ist und die verdammte Sonne zu stechend, braun bist du ja auch noch nie geworden, sondern hast immer zuverlässig, jedes Jahr aufs Neue, erstmal einen fetten Sonnenbrand gekriegt, besonders früher im Freibad, Hautkrebs soll das ja zwangsläufig auslösen im Alter, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Und dann hatte ich mich überhaupt nur eingetragen in dem Irrglauben, die Texte würden vorab veröffentlicht und ich könnte meine Rezension auf Halde verfassen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel, nur um später beiläufig zu erfahren, dass dies nicht der Fall sei und die Aussicht, im Vorgriff sich schon etwas überlegen zu können, damit entfiele. Also wenigstens vorab etwas zum Autor recherchieren und das gefilmte Autorenporträt in den Dreck ziehen könntest du ja, hatte ich überlegt, und dann wird auf den von mir reservierten Termin eine Iris Schmidt gelegt, die ausgerechnet auf ihren Autorenporträtfilm verzichtet hat. Und den Versuch, eine Iris Schmidt zu googeln, konntest du auch gerade in die Tonne kloppen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel, geht es denn noch gemeiner, Karl Müller oder Petra Maier vielleicht. Bei Amazon nicht anders, Iris Schmidt: "Händedesinfektion im Gesundheitswesen", das wird nicht von ihr sein, ebenso der "Praxisratgeber Saluki", ein Sachbuch über Windhunde. Obwohl, Windhunde, hihi, da kann sie sich mit Aleks Scholz highfiven, der sich in seinem Autorenportät in Dublin vor eine Hunderennbahn gestellt und allen Ernstes davon schwadroniert hat, dass es auf den Schwanz nicht ankommt, oder so ähnlich.
In der Strassenbahn hatte nach langer Zeit der Ruhe ausgerechnet gestern wieder einmal für die vollen zwanzig Minuten Fahrt der Alte neben mir gesessen, der unablässig auf sein Gebiss einknistert, Jörg Berger ist gestorben und die Tage werden auch schon wieder kürzer, ein halbes Jahr lang, und du sollst hier eine Textbesprechung fabrizieren, dachte ich auf meinem Fernsehsessel. Warum schreibst du, um diese verheerende Dummheit der Zusage auszubügeln, nicht einfach in den Internbereich der Lesemaschine, dass du den Termin verwechselt hast und dich jetzt leider mit einer Migräne ins Bett legen musst, dachte ich auf dem Fernsehsessel. Der bereits vor Tagen gesichtete Lebenslauf neben dem fehlenden Autorenfilm hatte mich ja positiv eingenommen für Iris Schmidt, dachte ich auf dem Fernsehsessel, nach all den Leichenwäschern, Krankenhausclowns; Totengräbern und Astronomen mal jemand mit einer soliden Ausbildung als Industriekauffrau, dann Wechsel in die Gemeinwesenarbeit in einem sozialen Brennpunkt, wenngleich der Eindruck durch die "Judotrainerin (1. Dan)" wieder leicht getrübt worden war. Und dann sass ich um Punkt Elf in meinem Fernsehsessel an jenem Samstagvormittag und hatte auf 3Sat gezappt, Punkt Elf, aber auch keine Minute früher, die Geschirrspülmaschine war noch einzuräumen gewesen. Eingekauft für den Samstagabend hatte ich auch noch nicht, ein lieber Gast kommt zum Kochen, Salzmanteldorade soll es geben und als Nachtisch Mohr im Hemd, und ob es am Samstagnachmittag noch halbwegs akzeptable Doraden zu kaufen geben würde, wagte ich doch, hier auf meinem Fernsehsessel sitzend, stark zu bezweifeln.
Begrüssung durch eine Frau, aha, da haben sie den Kastenbrotkopf also abgesägt, und Nüchtern sieht auch anders aus und heisst anders, dachte ich auf meinem Fernsehsessel. Iris Schmidt dagegen sieht aus wie Gabriele Wohmann, hat sich von Kathrin Passig ein T-Shirt geliehen nebst im Schnee verirrtem Geschichtenpersonal und liest eine Gruselgeschichte. The shining goes Mittelgebirge, Nagetiere treten auf, am Ende frage ich mich wie der eine Juror, warum die beiden nicht ins Auto von Karl Müller eingestiegen sind. Vergleichsmöglichkeiten zu den übrigen gelesenen Texten fehlen mir, die komplette Zernichtung (Sascha Lobo) der Iris Schmidt durch die Jury kommt deshalb unvorbereitet, und plötzlich weiss ich, warum ich mir das nicht anschauen konnte und kann, eine einzige Erregung über diese affektierte Jury, gleich ob sie recht hat oder nicht, kommt in mir hoch, nichts ist mir widerwärtiger als diese arroganten Laffen, diese armen Gestalten in ihren Jackets, die sich selbst so gerne produzieren und reden hören, allein schon der Habitus hatte mir ja Übelkeit verursacht, obwohl vielleicht schlicht dahintersteht, dass sie gestern abend gesoffen haben und jetzt früher in die Pause wollen. Iris wird jedenfalls keinen Preis gewinnen, soviel ist sicher, o.k., vielleicht drückt sie als Rache für die Demütigung Spinnen ("Gladbachfan") draussen eine rein, die gut bemuskelten Oberarme dazu hatte sie (Judolehrerin, 1. Dan) ja augenscheinlich, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Das Ding ist früher zu Ende als geplant, ich muss die Kinder vom Sofa scheuchen, wo sie sich schon wieder eingerichtet und aufs Kinderprogramm gezappt haben, raus auf den Hof Waveboardfahren, bewegt euch, damit ihr nicht zu kleinen Fleischanderln werdet, ich selbst hacke nur schnell die Besprechung ins Notebook und dann nichts wie raus aus dem Fernsehsessel, sofort, denke ich, in die Innenstadt fahren und die übriggebliebenen Restdoraden besorgen für das Abendessen, gleich und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist.
Volker Jahr / Dauerhafter Link / Kommentare (3)
26.06.2010 / 14:58 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
"Na und, aber es sind meine zwanzig Euro", wurde Wolfgang wütend. "Wollten wir nicht in die Stadt fahren?", versuchte Silke vom Thema abzulenken. "Komm mit", forderte Wolfgang Silke auf. "He was soll das, es hat niemand gesagt, dass du dich an mich ranmachen kannst", stiess er sie weg. "Das war ja besonders lustig", beschwerte sich Albert. "Erstaunlich, was man mit wörtlicher Rede alles anstellen kann", sass ich in Klagenfurt. "Hier wird nicht nur gestammelt, gefaucht, entgegnet und eingewandt", trank ich einen Cappuccino im Pressezentrum des ORF. "nein, hier wird die Dialogführung mit einem Seil um den Hals durch das Handlungsprotokoll gezerrt", hüpfte ein Vogel vorbei. Womit wir beim Thema wären. Josef Kleindiensts Text "Ausflug" beginnt damit, dass Wolfgang und Albert Silke einen Strick um den Hals legen, der an einem Auto befestigt ist, dann starten sie den Wagen. Nach diesem ersten cliffhangenden ersten Absatz: Rückblende. Als Mittel zum Spannungsaufbau funktioniert das recht gut, Filmstandard, nur falle ich sofort wieder aus der Spannung heraus, weil die Zeit nicht stimmt: Erster Absatz Imperfekt; Rückblende Vorvergangenheit, die aber nach zwei Sätzen schon wieder unmotiviert ins Imperfekt zurückschnurrt ("Er hatte keinen guten Tag gehabt und ihm war eingefallen, dass Silke ihm noch immer zwanzig Euro schuldete. Wenn sie ihm die nun nicht zurückgeben konnte, dann sollte sie die zwanzig Euro abarbeiten, dachte er. "). Jurorin Keller wird das später als "gekonnt gemachte Brechung der Chronologie" bezeichnen.
Wolfgang, Albert und Silke sind seit Schulzeiten lose befreundet, die Rollen sind klar verteilt, Wolfgang der jähzornige, gewalttätige Anführer, Albert der Mitläufer, Silke das Opfer. Im Laufe des Textes wird sie mehrmals vergewaltigt und erniedrigt, nur einmal wird Albert zwischendurch kurz das Opfer. Geht man von der Hypothese aus, dass der Autor das nicht bewusst auf "Schockiere die Jury" hingeschrieben hat, ist das ein Plot, der durchaus so passieren kann – verlässlichen spätnächtlichen gestrigen Quellen zufolge ist die Geschichte in der Tat so passiert – und erinnert an Filme wie "Hundstage" und "Funny Games", die ebenfalls beiläufiger, scheinbar grundloser Gewalt thematisieren.
Nur tun sie das nicht mit den sprachlichen Mitteln eines Kinderbuchs; mich erinnert das am ehesten an die Abenteuer von TKKG im Holzschnittland. Wo in den Filmen schmerzhaft auf das Detail gehalten wird, länger als man es aushalten kann, wo die Unmittelbarkeit der Aggression auch für den Zuseher spürbar wird, holpert der Text haltlos herum, und es hilft auch nicht, dass die Erzählperspektive wirkt, als hätte man sie mit Tesafilm auf eine Flipperkugel geklebt: Orientierungslos taumelt sie zwischen Protagonisten und Erzähler hin und her, mal spürt Silke, dann wundert sich Albert, dann passiert wieder "plötzlich" etwas, und man fragt sich, aus welcher Sicht das jetzt "plötzlich" war. Und es passiert sehr, sehr viel in diesem Text "plötzlich". Eben noch waren wir in Silke, dann "küsst Silke plötzlich Wolfgang", ja, wer kann denn das auch ahnen. "Plötzlich" "blitzt" auch die Klinge eines Messers auf, und leuchtet so den Weg in den stilistischen Abgrund, in eine, finde ich, erschütternde sprachliche Unbeholfenheit, die man eben nicht auf die Unbeholfenheit und Verrohtheit der Personen schieben kann, die fällt bei dieser Erzählperspektive komplett auf den Erzähler zurück.
Nur ein paar Beispiele:
"Als der Zug schliesslich in ihren Bahnhof einfuhr und sie das Gebäude erkennen konnten, erhoben sich alle drei." Und dann, nehme ich an – Gebäude erkannt, Gefahr gebannt – gingen Piggeldy und Frederik nach Hause.
"Trotz allem fühlte sie sich zu Wolfgang hingezogen und sie wollte, dass es wieder so wird, wie es vor diesem Abend gewesen war." Das ist psychologisch ja gar nicht uninteressant und unplausibel, dieses Stockholm-Syndrom, aber nach so einem spektakulären Wrack von Satz kann man das nicht mehr ernst nehmen.
"Silke riss sich los, doch Wolfgang schnappte sie an der Hand und zog sie zurück. Er küsste sie, dann schob er sie zwischen seinen Körper und den schmächtigen Körper von Albert." Das würde ich gerne mal von einem gelenkigen Tanztheatertrio nachgespielt sehen.
Maik Novotny / Dauerhafter Link
26.06.2010 / 13:35 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Freitag, 13.30 Uhr, Judith Zander liest: Dinge, die wir heute sagten.
Gestern war Sextag in Klagenfurt. Donnerstag: Überhaupt kein Sex. Ha, traut sich wieder keiner. Freitag aber: "Sie liegt aufgebreitet da wie ein geöffneter Brief", und dann geht's los, im ersten Text des Tages (Thomas Ballhausen, "Cave canem"), am Ende des Lesetages jede Menge Vergewaltigung (Josef Kleindienst, "Ausflug"), ein Text, aus dem ich aussteige, als das Opfer nach der ungefähr dritten Vergewaltigung "missmutig" dreinschaut.
Den Anfang der Lesung von Judith Zander verpasse ich. Drücke mich noch im Garten herum und suche die Puderfrau von 3sat, weil ich sie bitten will, mich professionell wieder zu entpudern. Aus dem Geleiere, das aus dem ORF-Theater nach draussen übertragen wird, lösen sich die Worte "Leere", "Langeweile", "Desinteresse" – ist das das Thema des Textes? Die Autorin liest, als mache ihr Text sie sehr müde und sehr traurig. Ich habe den Text in der Hand und vertage, weil ich gerade sehr wach und fröhlich bin.
Den Anfang lese ich aber doch: "Als du endlich aufstandest, verwirrte es dich am meisten, deinen Schlüpfer noch an dir vorzufinden." Das ist, finde ich, ein ziemlich guter erster Satz, man erfährt sofort unaufdringlich, dass ein Geschlechtsverkehr stattgefunden hat und bekommt erste Hinweise auf dessen Art und Güte. Ausserdem mag ich das Wort Schlüpfer. Man sollte viel öfter Schlüpfer sagen. Unterhose, Slip, Höschen, Schlüpfer, Schlüpfer, Schlüpfer.
Jetzt ist Samstagmorgen, fast halb zehn, Frühstück gibt es in meiner Frühstückspension bis neun, ich kenne es nur aus Erzählungen anderer Bewohner. Um zehn liest Peter Wawerzinek.
Theatercafé, Klagenfurt
Der Tag gestern lief nach der letzten Lesung aus mit Augustin, Strandbad, Fussball und nochmal Augustin. Gegen eins ziehen wir weiter ins Theatercafé. Die Einrichtung des Cafés stammt ebenso wie seine Bewohner (vor der Theke) aus den fünfziger Jahren, über dem Eingang ist eine Vitrine mit dem grossen Brockhaus (krass: von Z bis A sortiert, hebräische Ordnung?), eine ältere Frau sitzt allein an einem Tisch mit einem Eisbecher und einer Frauenzeitschrift. Später zum Ausmarsch legt Wirtin Veronika "The Dowland Project" auf – Musik, zu der ich sofort meinen Kopf in den Schoss einer Frau betten und einschlafen will. Kein Sex. Um drei bin ich im Pensionszimmer, Judith Zanders Text liegt auf dem Bett, ich lege mich daneben.
Hilft ja nichts: Ich werde diesen Text heute nicht lesen, rate kein bisschen ab, die Sache interessiert mich schon, aber: Heute lesen noch vier. Ich werde es gerade rechtzeitig ins Theater schaffen. Um der Autorin nicht Unrecht zu tun, sage ich einfach, was vermutlich im Text steht (aufgeschnappt aus der Jurydiskussion, mitbekommen beim Durchblättern): 16-jähriges Mädchen, 70er Jahre, ländliche DDR, wird schwanger. Jury diskutierte Varianten: Er vergewaltigt sie, sie ihn, Samenraub. Du-Erzählung. Wer ist ich? Könnte das Kind sein, das aus der Gegenwart heraus erzählt, ist ja ein Romanauszug. Lang verheimlichte/verdrängte Schwangerschaft, Kind ist der Mutter fremd, Brustentzündung.
26.06.2010 / 11:35 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010
Die Erzählung von Aleks Scholz kommt aus der Tiefe der Zeit; schon nach wenigen Sätzen wird der Blick auf einen der drei Protagonisten frei. Die sich allmählich über Jahre oder auch Jahrmillionen verändernde Natur. Auch sie bewegt sich, wenn die Kamera nur lang drauf gehalten wird. Hecken wandern und scheiden einen Schweinestall aus wie ein lebender Organismus seine Exkremente, ehemalige Gletscher haben eine Grundmoränenlandschaft zurückgelassen, in der sich inzwischen ein Dorf angesiedelt hat. Wir befinden uns in der Jetztzeit und lernen auch schnell die übrigen Protagonisten kennen, Trampe und Liebke, in zwei benachbarten Höfen wohnend. Es sind die Geschehnisse eines Tages, welche uns auf den folgenden Seiten präsentiert werden, in seinem Verlauf vollziehen sich alltägliche Verrichtungen neben schrulligem Verhalten, konkret, das Verfassen von niemals abgeschickten Briefen aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben und schliesslich eine Selbstbestattung.
Dazwischen fährt eine Kamera durch die Landschaft, verlässt kurz die Höfe, um zum benachbarten Fuchsberg zu schwenken. Dann nimmt sie zweimal die Vogelperspektive ein, so erscheint Trampes ausgehobenes Loch nur noch als Fleck und die Kamera muss weit über die Landschaft fahren, um auf einer entfernten Kuhweide einen ähnlichen Flecken zu finden. Später richtet sich der Blick zum Himmel, wir sehen eine unbestimmte weisse Linie, wie überhaupt des Öfteren im Text Linien, Parabeln und Kegel vorkommen.
Erzählt wird das vordergründing detailliert, sachlich und deskriptiv. Andererseits mischt sich gelegentlich ein unbekannter Sprecher ein, mal kommentierend ("Die ihr zugedachte Aufgabe jedoch, daran besteht kein Zweifel, erfüllt sie tadellos" "Ob es auf dem Fuchsberg wirklich Füchse gibt, ist mehr als fragwürdig." "Vollkommen makellos dagegen Liebkes Rasen, ..., kaum zu glauben, dass dort alles mit rechten Dingen zugeht."), mal personifizierend ("als der letzte Gletscher sich zur Umkehr entschloss") und mal zweifelnd ("Wohlmöglich besteht hier ein Zusammenhang." "Vielleicht allerdings, das kann man nicht feststellen").
Dass das nicht zu einer Überfrachtung des Textes führt, liegt an dem ruhigen Ton der Erzählung und einer vorbildlichen Absatztechnik, welche den Leser analog zu den langsamen Schritten der beiden Hofbewohner sowie der sich langsam verändernden Natur stückweise durch die Geschichte zieht. So bedächtig geschieht das, dass man fast die eigentliche Pointe übersieht; denn es ist ein unaufgeklärter Kriminalfall, welcher uns hier präsentiert wird, und obwohl zahlreiche Indizien eingepflastert wurden, bleiben diese doch unter der Oberfläche. Hier seien einige genannt, ob sie alle stimmen und ob die Liste vollständig ist, sei dahingestellt, der Leser möge seine eigenen Schlüsse ziehen:
- [im Keller,] wo im Halbdunkel mehrere massive, verriegelte Türen erkennbar sind.
- Die Schweine essen sowieso alles, was man ihnen hinstellt
- Neuerdings jedoch verzichten viele aufs Haareschneiden, und die Felder werden seltener bestellt
- Er bückt sich, hebt den silbernen Ring mit zwei Fingern aus dem Dreck, entfernt einige Mistspuren
- Die Tischplatte glänzt überwiegend in hellbraunen Tönen, ist jedoch an zwei Stellen mit einer dunklen Substanz befleckt
- Auch wenn niemand im Dorf etwas von Trampes Tun mitbekommt, eine Säge ist im Spiel, da kann man sicher sein
Zeichenfertigkeit sowie räumliches Vorstellungsvermögen sind zwei unabdingbare Säulen jeder ernsthaften Literaturkritik. Die vorliegende Skizze missachtet nicht nur elementare Ideen von Frederico Zuccaro, sondern platziert auch den eingewachsenen Baum an der falschen Heckenseite.
Marek Hahn / Dauerhafter Link