07.03.2010 / 23:57 / André Fromme liest: Axolotl Roadkill (Helene Hegemann)

Frisch von der Strasse

Nach »Feuchtgebiete« bin ich selbsterklaerter Zuständiger für medial überrepräsentierte Skandalbücher.
Bei den Feuchtgebieten war der Skandal die offene Freude an Körperflüssigkeiten und sonstigen Ausscheidungen. Noch dazu in einem von einer Frau geschriebenen Buch. Bei der heute üblichen gründlichen Lektüre ist dabei niemandem aufgefallen, dass all der Muschisaft und die Menstruationsblutmassen nur Füllmaterial waren in einer Geschichte, die sich darum drehte, dass die Protagonistin eigentlich nur ihre geschiedenen Eltern wieder zusammenbringen und von einem edlen Ritter eingesammelt werden wollte.

Ähnlich lief es bei Helene Hegemanns »Axolotl Roadkill«. Zuerst konnte man (wie schon bei Roche) drüber diskutieren, ob es sich denn eigentlich gehört, solche Dinge zu schreiben. Generell schon eine ziemlich akademische Diskussion, die mir etwas fremd ist. Aber das Feuilleton war beschäftigt – man konnte ein bisschen aus sich selbst heraus wochenlang Themen produzieren, indem man über das Für und Wieder von Analsex und Drogen in Büchern debattiert, damit Aufmerksamkeit erzeugt und sich als nächstes fragt, ob das Buch denn überhaupt diese enorme Aufmerksamkeit verdient habe.
Dann erreichte die Erregung eine ganz neue Eskalationsstufe. Irgendjemand hat das Wort »Vaselintitten« aus Hegemanns Buch mal bei Google eingegeben und ist auf einen Blog gestossen, dessen Einträge teilweise erstaunliche Parallelen zu Hegemanns Text aufwiesen.
Beispiel:
• »Ich gehe, die fünfte Zigarette rauchend, auf den Balkon und saufe einfach so lange weiter, bis das Geld endlich WEG ist. Meine Existenz setzt sich momentan nur noch aus Schwindelanfällen und der Tatsache zusammen, dass sie von einer hyperrealen, aber durch Rohypnol etwas schlecht aufgelösten Vaselintitten-Installation halb zerfleischt wurde.«
• »Denn alles führt ja von selber von sich aus ganz automatisch zum Chaos und dies zu bejahen oder gar prototypisch zu personifizieren, ein Künstlerleben zu führen also mit Glitter, Schmutz und Pailletten, mit ganz bösem Nightmare-Bass für Erwachsene, mit farbigem Schattenspiel auf hyperrealen aber durch Rohypnol etwas schlecht aufgelösten Vaselintitten, das sollte dann doch angesichts der Vielfalt und Greifbarkeit dieser realistischen Erlebenssequenzen einem durch Liebe betäubten Leben vorzuziehen sein.«

Damit lief die nächste Kulturdiskussion. Das reinste Perpetuum Mobile.
Gern bemühter Kunstgriff: zuerst generell Helene Hegemanns Autorenschaft in Frage ziehen (merke: wer nachweislich dreissig Seiten plagiiert hat, hat auch die restlichen 170 abgeschrieben). Dann ist man die lästigsten moralischen Skrupel direkt mal los, und kann nach Lust und Laune einprügeln. Auf Hegemann (natürlich nicht auf sie selbst, nur die öffentliche Figur, schliesslich hat sie's ja gar nicht geschrieben – noch so ein schöner Kniff). Auf ihren Vater Carl Hegemann und den Kulturbetrieb im Allgemeinen und Speziellen, der »Püppchen« wie Hegemann missbraucht. Auf das Feuilleton – Wobei die Feuilleton-Eigen-Schelte sich natürlich immer auf die anderen bezieht – notfalls auf die eigenen Redaktionskollegen, dennen man nun noch einmal vorhalten kann, dass man das Buch ja immer schon scheisse fand. Gesamtergebnis: noch mehr heisse Luft als dem Buch zum Vorwurf gemacht wurde, und ein FAZ.net-Artikel, der wegen seines Reaktionärismus für mich das verachtenswerteste Stück Journalismus ist, das ich in letzter Zeit diesseits der BILD-Zeitung lesen musste. Weil es ebenso ungehemmt lustvoll auf Menschen und Ansichten einprügelt.

Zur Abwechslung schweife ich mal wieder ab. Eigentlich wollte ich ja über das Buch schreiben, das ich – Neugierde geweckt, ich funktioniere da ganz simpel – mir zugelegt habe. Aktueller Stand: knapp über Halbzeit. Mir ist dabei eigentlich ziemlich egal, was von wem stammt. Können sich meinetwegen Anwälte mit beschäftigen. Spannend finde ich das noch insofern, als dass mich das Gedankenspiel beschäftigt, wie die Reaktionen auf beiden Seiten aussähen wenn nun ein Blogger aus einem Buch abgeschrieben/zitiert hätte. Aber das führt hier wirklich zu weit.

Mein Verdikt bisher: Bereitet Kopfschmerzen und fühlt sich an wie besoffen. Total nervig, total verwirrt, total hyperaktiv, total im eigenen Interessenskosmos und der Unfairness der Welt eingeschwurbelt, erfüllt von Verachtung für die Welt da draussen. Total wie ich mit 17 (wie ich mich sah), minus die Drogen (Alkohol inbegriffen), die Parties und den Sex – und das Internet. Aber mit ähnlich vielen Musikzitaten. Bestes Buch seit langem, buchpreisverdächtig? Pfff. Ich habe bisher zwei Gewinnerbücher des deutschen bzw. Leipziger Buchpreises gelesen und fand beide eher solala. Ich habe kürzlich »Stiller« gelesen, das ich unendlich besser fand. Andererseits habe ich auch »Swung« von Ewan Morrison durchgeblättert, das ich unendlich viel schlechter fand. Trotz Gruppensex.


P.S.: Wen's interessiert – Klick.

André Fromme / Dauerhafter Link