23.08.2008 / 18:30 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Stream of unconsciousness (191-209)


Völlig leer: Ein p-zed. (Bild: Eric Ingrum, Lizenz.)
Angenommen, nach langem Warten sind endlich Aliens auf die Erde gestossen. Es handelt sich um eine uns weit überlegene Spezies mit einer hochentwickelten Wissenschaft und Technik. Sie haben einen Replikator dabei, der jedes physische Ding absolut perfekt reproduzieren kann, so dass Replikat und Original ununterscheidbar sind. Dabei werden nicht nur die statischen, sondern auch die dynamischen Eigenschaften (z.B. ein bestimmter Bewegungsimpuls) vollständig übertragen. Diese Spezies will nun nicht nur Waffen und Rohstoffe, sondern auch Menschen duplizieren. Was passiert dabei?

Wenn der Materialismus wahr ist und Körper und Geist identisch sind, müsste das Replikat dieselben mentalen Eigenschaften wie das Original haben. Man hätte zweimal die gleiche Person. (Was passiert dann in dem versicherungstechnisch interessanten Fall, dass beide aufeinander losgehen?) Nach Platon hingegen müsste der Replikator einen toten menschlichen Körper erzeugen, da die Seele das Prinzip des ganzen Lebens ist, des vegetativen und mentalen, und sie nicht reproduziert werden kann. Für Descartes aber würde man einen lebenden menschlichen Körper vorfinden, der jedoch ohne Verstand, Empfindungen und Gedanken, also völlig ohne Bewusstsein ist: Einen metaphysischen Zombie (p-zombie oder p-zed).

Es gäbe demnach eine mögliche Welt, in der überhaupt nur p-zombies leben: Eine reine zombie-world. Dort läuft alles nach zombie-world-physikalischen Sukzessionsgesetzen ab und durch reinen Zufall ergeben sich die gleichen Ereignisse wie bei uns, nur gänzlich ohne Bewusstsein. Die p-zombies beginnen ihren Tag wie wir, gehen in ihr Zombie-Café und nehmen ein Zombie-Frühstück zu sich und führen Zombie-Gespräche, reissen Zombie-Witze und gucken Zombie-Filme, ihr ganzes Zombie-Leben gleicht äusserlich dem unseren – nur innen drin in ihnen ist alles leer. Da passiert gar nix. Ein ausschliesslicher stream of unconsciousness.

Körper und Geist, res extensa und res cogitans, sind für Descartes also zwei für sich funktionierende Entitäten. Auch der Geist könnte in einer möglichen Welt für sich existieren, als free floating spirit in einer spirit-world. Aber dort ist nicht der ganze Bewusstseinskram vorhanden, der der zombie-world fehlt. In der spirit-world empfinden nicht reine Geister vor sich hin, freuen sich oder sind depressiv, sind verliebt oder zänkisch und erquicken sich an einer reichhaltigen Imagination. Denn Emotionen und Imagination entstehen für Descartes nur, wenn ein Geist in einem p-zombie implementiert wird: Sie entstehen aus der Leib-Seele-Einheit. In der Geisterwelt betreiben die Geister nur rein emotionslose, abstrakte Wissenschaft, sie führen apathisch mathematische Beweise und bauen blutleere philosophische Theorien (etwa über Zombie-Welten). Eine Welt voller Nerds.

Geist und Körper sind in unserer Welt nach kartesischer Theorie nicht einfach zusammengepappt wie zwei Bauklötze. Sie bilden eine substanzielle Einheit. Ein ganzer Kosmos an Bewusstseinsphänomenen resultiert aus dieser Vereinigung. Unsere Seele, schreibt Descartes, hätte keinen Anlass, auch nur einen einzigen Augenblick mit dem Körper verbunden zu bleiben, wenn sie dadurch nicht lauter angenehme, lustvolle und nützliche Gemütsbewegungen erhalten würde, die die gesamte Annehmlichkeit des Lebens ausmachen. Der Geist ist ein ziemlicher Hedonist.

209 von 229 Seiten

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12.08.2008 / 18:10

My mind is a piece of mental shit (181-190)


The third planet of Dune (Bild: hamed, Lizenz.)
Das Ende der Descarteslektüre naht. Darum habe ich Lust, hier nochmal ein richtig übles Ding reinzulassen: Das kartesische Argument für die Wesensverschiedenheit von Geist und Körper in der 6. Meditation. Dieser Beitrag wird eine Meile trockener metaphysischer Wüstensand, schonungslos. Aber ich denke, das lohnt sich, denn es handelt sich dabei um einen echten Klassiker der Philosophy of mind – und ich hoffe, ich bekomme dieses schwierige Zeug wenigstens halbwegs korrekt hin.1

Die erste Feststellung ist auch gleich schonmal nichts saftig Empirisches, sondern eine recht aride Angelegenheit: 'Geist' ist bei Descartes nicht identisch mit Bewusstsein. Das lässt sich vielleicht so klarmachen: Die Selbsterkenntnis der 2. Meditation ist keine "empirische" Erfahrung irgendwelcher Bewusstseinszustände (awareness, Emotionen, Qualia, etc.). Sondern sie ist ein rein geistiger Akt: Die absolut gewisse Existenz des Ich wurde reduktiv und damit indirekt bewiesen. Wer hat denn schon jemals sein Ich unmittelbar erfahren, also nicht nur irgendwelche Bewusstseinsqualitäten, sondern das nackte Ich als solches? Das Ich ist eben nicht als direkte Erfahrungstatsache gegeben wie die sonstigen Bewusstseinsphänomene, sondern seine Erkenntnis ist ein abstrakter, rein geistig-mentaler Beweis, wie bei einer komplett unanschaulichen mathematischen Struktur. Von der habe ich ja auch keine direkten Bildchen oder Erlebnisgehalte im Kopf und wer behauptet, er könne unanschauliche mathematische Strukturen spüren, dem ist grundsätzlich mit Vorsicht zu begegnen. Also: Rein mentale Erkenntnis kann es nur von rein mentalen 'Dingen' geben, denn die Art der Erkenntnis ist bestimmt durch die Art des Erkenntnisobjekts.

Alle grossen philosophischen Probleme haben mit Modalitäten zu tun, das heisst mit Möglichkeit und Notwendigkeit. Die Frage, ob Geist und Körper (neurophysiologische Entitäten oder Ereignisse) identisch sind oder nicht, lässt sich im Rahmen der Modallogik formulieren, einem heftigen formalen Instrument der zeitgenössischen Philosophie: Identität ist eine strikt notwendige Relation. Z.B. ich bin strikt notwendig mit mir selbst identisch und kann nicht möglicherweise etwas anderes sein, etwa ein Stein. Modallogisch gesprochen: Die Proposition ω: 'Geist und Körper sind identisch (G ≡ K)' ist in unserer Welt Wi genau dann wahr, wenn sie in allen logisch möglichen Welten Wj wahr ist, in denen sie existieren und die epistemisch zugänglich sind. Wobei eine "mögliche Welt" eine maximal konsistente Menge von kontrafaktischen Sachverhalten (maximally consistent state of affairs) ist, denen ein Wahrheitswert zuerteilt werden kann. Wumm. Das ist jetzt richtige Philosophensprache, und dann schreibt so ein Philosoph gerne auch solche Formeln dazu auf sein Papier:

M ⊨ □ω[Wi] ⇔ ∀j≠i ∀Wj, G,K∈Wj:[R(Wi, Wj) → M⊨ω[Wj]] für ein Kripke-Modell M.

Sieht gut aus. Anschaulicher gesprochen: Eine mögliche Welt ist eine Art formallogisches Paralleluniversum, ein kompletter Zustand, wie die Welt hätte sein können2, etwa mit völlig anderen Naturkonstanten oder gar Naturgesetzen, solange sie logisch widerspruchsfrei sind. In manchen dieser Welten ist die Erde der Wüstenplanet Dune, in anderen wird der triumphale Empfang der Titanic im New Yorker Hafen gefeiert und die Rückzahlung aller deutschen Kriegsschulden, in wieder anderen ist Beethoven ein Zuhälter und es existieren Zwergsumpfhühner, die der komplexwertigen Integralrechnung fähig sind. Was auch immer. In keiner möglichen Welt aber kann Beethoven ein Klistier oder das Sumpfhuhn eine Atomrakete sein, denn das wäre nicht nur recht albern, sondern auch kontradiktorisch: Beethoven ist so ziemlich notwendigerweise ein Mensch und das Huhn notwendigerweise ein geflügeltes Wirbeltier.

Descartes' Argument besagt nun:
(1) Die mentalen Eigenschaften sind logisch vollkommen unabhängig von den physischen (beide sind vollständig disjunkt und einander sogar kontradiktorisch entgegengesetzt3).
(2) Also gibt es mindestens eine mögliche Welt Wj, in welcher ich nur mit mentalen, nicht aber physischen Eigenschaften existiere.
(3) Wenn es möglich ist, dass ich ohne physische Eigenschaften existiere, dann kommen mir diese Eigenschaften nicht notwendig zu.
(4) Allen Körpern kommen physische Eigenschaften notwendig zu.
(5) Also bin ich nicht mit meinem Körper identisch.

Dasjenige, wovon die mentalen Eigenschaften prädiziert werden (ihr Träger), ist also eine eigenständige Entität, welcher notwendig mentale, aber nicht notwendig physische Attribute zukommen: Der Geist. Es ist somit zumindest logisch möglich, dass der Geist ohne Körper existieren kann, auch wenn das in unserer Welt faktisch nie der Fall sein wird. Damit ist □ω falsch, d.h. Körper und Geist sind nicht identisch.

Der wesentliche Einwand gegen diese Argumentation kommt m.E. von Antoine Arnauld. Er betrifft den Übergang von (2) auf (3). (2) könnte einfach eine inadäquate Abstraktion sein, wie es z.B. logisch möglich ist, sich einen ausdehnungslosen Punkt zu denken. Aber daraus folgt nicht, dass es in der Realität ausdehnungslose Punkte geben kann (Experiment: Zeichnen Sie mal einen ausdehnungslosen Punkt). Ausdehnung gehört vielleicht dennoch notwendig zum realen Punkt dazu. Genauso könnte die logische Möglichkeit der Existenz des Geistes ohne Körper einfach eine unvollständige Abstraktion sein, und in Wahrheit geht's nicht ohne Körper.4 Aber Descartes sagt: Nein, die Erkenntnis des Geistes ohne Körper ist vollständig. Wir erkennen unseren Geist zwar nicht umfassend in allen seinen Einzelheiten (cognitio adaequata), aber wir erkennen seine Wesensattribute vollständig (complete intellegere), da fehlt nichts. Und das ist der ganze Knackpunkt an seinem Argument.

Als Fazit kann man jetzt vielleicht sagen: Der ganze dicke Sack voller Bewusstseinsphänomene wie Qualia u.a. ist für Descartes körperlich (mit)verursacht. Das rein Mentale aber, also der Teil unseres Oberstübchens, der abstrakte Beweise führt und Wissenschaft betreibt, der ist nicht einfach platt identisch mit ein paar Kilogramm funktional organisiertem Eiweissschleim. Anders gesagt: Das eigentliche Leib-Seele-Problem beginnt erst richtig beim Phänomen der Wissenschaft. Angenommen, es gibt eine neurophysiologische Theorie T1, die alles Mentale komplett auf Eiweisschleim reduziert. Reduziert sie sich dann auch selbst komplett auf Eiweisschleim? Sie müsste alle wissenschaftlichen Prädikate wie "ist beweisbar", "es folgt, dass", "es erklärt", "bezieht sich auf", "ist möglich" etc., auf Schleimaktivität zurückführen. Dazu bräuchte es eigentlich eine Metatheorie T2, die das leistet und selbst wieder wissenschaftliche Prädikate enthält. Deshalb braucht es dann eine Theorie T3, die T2 auf Eiweissschleim reduziert, und dann eine Theorie T4, die T3 usw. Ein infiniter Progress. Oder vielleicht ist es auch einfach nur ein fehlerhafter Zirkel. Auf jedenfall aber mental shit.
______

1 Wer's wirklich genau wissen will, schaut nach in: Godehard Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem, 3.Aufl. 2008.

2 Im nominalistischen Possibilismus sind diese möglichen Welten sogar als real existierend angenommen und die Wirklicheit ist indexikalisch: Für jede dieser Welten ist die eigene aktuell existierend, die anderen nur möglich. Für den platonistischen Aktualismus dagegen sind mögliche Welten nur Weisen der Beschreibung, wie unsere aktuelle Welt hätte sein können.

3 Ein Beispiel für die Entgegensetzung: Das Mentale ist privat, das physische ist nicht privat. Hirnströme sind beobachtbare 'public entities', sie sind komplett in der 3.-Person-Perspektive beschrieben, während mein Ich sich gerade notwendig dadurch auszeichnet, dass es privat und 1.-Person-Perspektive ist. Niemand anderer kann meine Perspektive einnehmen und mein Ich unter meiner 1.-Person-Perspektive beschreiben, erst recht keine objektiv-intersubjektive wissenschaftliche Theorie.

4 Man nennt den Übergang von (2) auf (3) in der Literatur auch gerne einen Übergang von einer Modalität 'de dicto' zu einer Modalität 'de re'. Erstere bezieht sich auf das, was uns in einem bestimmten epistemischen Zustand als möglich erscheint, letztere auf das, was real möglich ist.

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31.07.2008 / 06:37 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Macht macht mächtig (496-636)


"Give orange me give eat orange me eat orange give me eat orange give me you." – Nim Chimpskys längster Satz. Ob in Robert Moses' längstem Satz auch Orangen vorkamen, ist nicht bekannt.
Als wir Moses verlassen haben, wurde er grade vorausschauend für New Yorks Selbsterwürgung mit Autoschlangen verantwortlich gemacht. Das ist zwar ein angesichts seiner selbstherrlichen Strassenbauprojekte monströsen Ausmasses nicht ungerechtfertigter Vorwurf, aber so mächtig kann ein einzelner Mann doch nun auch wieder nicht sein, dass man ihm allein den Verkehrskollaps eines der grossen Zivilisationszentren anhängen könnte. Und was überhaupt konnte wohl noch Fürchterliches kommen, nachdem schon meilenweise böse Strassen gebaut waren? Das Buch bekam ein Lesezeichen reingeschoben, und einen Ehrenplatz.

Und während der dicke Ziegelstein neben dem Bett Staub ansetzte, wurde ich ihm mehrfach untreu – jedenfalls insofern ein Liebesverhältnis als Metapher fürs Lesen nicht sowohl zu dämlich als auch zu gegenseitig wäre. Unter anderem betrog ich Moses mit der Geschichte von Nim Chimpsky, dem Schimpansen, mit dem die Psychologie der Linguistik heimleuchten wollte. Am Namen, der dem Tier gegeben wurde, kann man sowohl ablesen, dass es gegen Chomskys These nur der Mensch habe die Fähigkeit zur Sprache gehen soll, als auch, dass das Tier eine abhängige Grösse ist, seine Individualität nur von Interesse, wo sie der Veröffentlichung und dem Argumentieren dient. Das Experiment war ein Fehlschlag, mit hunderten affenseits gelernter Vokabeln, aber keiner nachweisbaren Grammatik in ihrer Anwendung. Nach dem Ende wurde das jahrelang in einer Familie an der Upper West Side aufgezogene Tier, das sich selbst für einen Menschen halten musste, dann leidend und depressiv durch Käfig um Käfig geschleift, bis Nim Chimpsky endlich in einem verstarb. An einem Herzinfarkt im mittleren Schimpansenalter, als Inbegriff des ohnmächtigen Entmündigten.

Abgesehen von der Buchempfehlung, die im vorigen Absatz versteckt ist, nützt Chimpsky hier auch als Schablone für Moses, denn zu Beginn der zweiten Hälfte des nun wieder abgestaubten Ziegelsteins gelingt Moses ein Putsch beachtlichen Ausmasses. Einem Schimpansen gleich, der sich an die Spitze intrigiert, und doch ganz anders als Chimpsky, verwandelt Moses mit tief in Gesetzestexten versteckten juristischen Winkelzügen die Triborough Bridge Authority von einer Privatfirma mit quasistaatlichen Befugnissen, aber scharf begrenzter Lebensdauer, in ein kleines Privatkönigreich innerhalb von Stadt und Staat New York. Fortan kann Robert Moses Strassen bauen und Brücken, Parks und öffentliche Gebäude, er kann Wegzoll eintreiben, verfügt über eine Polizeitruppe und das Recht, eigene Quasigesetze zu erlassen, und niemand, nicht der Bürgermeister, nicht die Regierung, können ihm dreinreden. Und wenn Parlament oder Gouverneur später aufgehen sollte, was sie mit dem Erlass dieses harmlosen Gesetzes angerichtet haben, werden sie feststellen, dass eine Rücknahme dieser neuen Befugnisse nicht mehr möglich ist.

Wie ein Alpha-Schimpanse auf seinem Hügel hockt Moses nun in seiner neuen Burg auf Randall Island, wo ihn der East River als Wassergraben vor dem Rest der Stadt und ihrer armen Bevölkerung schützt. Der Weg zu dieser erstaunlichen Machtfülle führte über Sprache und ihre juristischen Subtilitäten: in your face, Mr. Nim Chimpsky.

636 von 1162 Seiten

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18.07.2008 / 13:37 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Res cogitans in Wacholderschinken


Cartesischer Geist (Bild: Ruben Schneider).
Was an besonderen Schlagworten von René Descartes kleben geblieben ist im Wachbewusstsein des Abendlandes, ist wohl irgendwas mit "Cogito, ergo sum" und die Trennung von Geist und Materie. Gerade an letzterem Punkt scheinen sich kontemporäre Weltbildentwickler besonders abzuarbeiten. Was sich in unserem Kopf so abspielt, diese zweifelsohne wichtigen und oft auch lästigen Bewusstseinsphänomene, ist das nun bloss die neuronale Aktivität in einem Klumpen Eiweissschleim zwischen paar Schädelwänden, oder ist es tatsächlich ein immaterieller Flattergeist?

Descartes, der Kopfmensch, der sich an seinem Rationalismus aufgeilt, Descartes, der Leibfeind, hier in der 6. Meditation beweist er überhaupt erst die Existenz der Materie und vollzieht angeblich die radikale Trennung von Geist und Körper: Beides eigenständige Entitäten für sich. Damit gilt er als der grosse Bösewicht, der den Menschen auseinandergehackt hat in zwei Teile, er ist der Buhmann der ganzheitlichen Medizin, die Materialisten finden ihn sowieso von Beruf scheisse und offenbar ist er auch das erklärte Feindbild weiter Teile der Hirnforschung. Gerade durch deren Forschungsergebnisse scheint die Cartesische Philosophie tausendfach widerlegt zu sein, denn immer mehr Bewusstseinsphänomene lassen sich, wie man hört, auf neurobiologische Ereignisse reduzieren.

Nachdem ich mich jetzt wiederholt durch die 6. Meditation und ihre Einwände gequält habe, bin ich inzwischen vollkommen aus der Spur, was meine Meinung über Descartes' Thesen angeht. Seine Philosophie ist zu komplex, als dass man sie pauschal kritisieren könnte. Ich kann meine Eindrücke momentan nur als provokante Bemerkungen in den Raum werfen:

· Er behauptet in Wahrheit nirgendwo die Trennung von Geist und Körper.

· Er sagt hingegen, Geist und Körper seien so eng verbunden, dass sie gleichsam vermischt (quasi permixtum) sind. Und er meint, in bisher unübertroffener Weise die Einheit von Leib und Seele bewiesen zu haben (und ich halte diesen Beweis auch für famos).

· Was er behauptet, ist die Wesensverschiedenheit von Geist und Materie, und ich finde es sauschwer, zu fixieren, was er unter 'Geist' versteht.

· Das Wesen des Geistes ist bei ihm nicht das Bewusstsein.

· Die ganzen Bewusstseitsphänomene, deren neurobiologische Verursachung man heute beweist, sind ebenfalls für Descartes körperlich (mit)verursacht.

Was ist Geist für ihn dann? Und was versteht er unter Wesensverschiedenheit? Mal sehen, wie ich mit dem Text weiter zurecht komme. Obige Punkte dürften mein bisheriges Descartes-Bild, das ich so von den gängigen Darstellungen übernommen habe, jedoch schonmal gut ins Wanken bringen. Heute auf dem Heimweg sah ich an einem Laternenpfahl die Werbung einer Lebensberatungs-Hotline mit integriertem philosophischen Sorgentelefon. Wenn ich genug Bier intus habe, rufe ich dort an.


16.07.2008 / 00:36 / André Fromme liest: Bücher (von Autoren)

Still, weit und weg


Geeignete Leseposition: Hochpreisiger Forster-Band auf niedrigpreisigem IKEA-Kissen.
Der Kollege Jahr hat ja lange Zeit darüber berichtet, wie er Georg Fosters »Reise um die Welt – Illustriert von eigener Hand« nicht gelesen hat, weil er sich den nicht übertrieben günstigen Band in der edlen und so schön anzuschauenden wie anzufassenden Ausgabe der Anderen Bibliothek nicht leisten konnte1. Ich weiss nicht, ob der Eichborn-Verlag schon realisiert hat, welche Summen sie Volker Jahr für diese ungemein gute Werbung schulden, denn ich weiss von mindestens einem Exemplar, das sonst einhundertprozentig nicht verkauft worden wäre. Selbst bei nur 3% Beteiligung am hierdurch generierten Umsatz sollte da doch mindestens ein Pils für den guten Mann drin sein.

Doch genug Sonnen im Lichte der Grosstaten anderer. Seit kurzem wohne ich in Irland. Als ich diesen Text begann seit drei Tagen, inzwischen sind es schon anderthalb Monate.2 Das erwähne ich nicht nur – aber ganz klar auch – aus Angeberei, sondern vor allem, weil es erklärt, wie ich dazu komme, einen derartig schweren Schinken zu lesen. Beim Packen fand sich nicht für alle Haushaltsgegenstände Platz. Neben Fahrrad und anderen Trimmdich-Geräten blieb auch der Fernseher zurück. So geschah es, dass wir, an dem Tag, an dem das quasi-lokale Munster-Rugby-Team das Heineken-Cup-Finalspiel gegen Toulouse bestritt, Unterhaltung brauchten, denn der Bekanntenkreis war drei Tage nach Ankunft noch nicht ausreichend gross, um sich zum Rugby-Gucken einladen zu lassen. Da kommt man (für moderne Zeiten betrachtet) komisch drauf und beginnt, sich gegenseitig aus der »Reise um die Welt« vorzulesen. Und sich zu fragen, ob man, hätte man dieses Buch in Deutschland eingelagert, im Umzugswagen nicht doch noch genug Platz für den Fernseher gehabt hätte.

Die Herausgeber machen es spannend. Eingeleitet wird mit einem längeren biographischen Essay. Den ich unterm Strich mir selbst vorlese, da meine Freundin ihn entweder so entspannend oder so langweilig findet, dass sie trotz mehrfacher brutaler Wachhalteversuche meinerseits selig wegschlummert. Ein Feuerwerk an Rängen und Namen – Priester, Lords, Ladies, Fürsten (einschliesslich Dichterfürst Goethe) und viele andere Promis seiner Zeit hat Forster augenscheinlich getroffen. So viele, dass ich mich zwischenzeitlich frage, wo er eigentlich die Zeit dazu gefunden hat. Schliesslich mussten noch drei Jahre Weltumsegelung, mehrfache internationale Wohnortwechsel, politisches Engagement während der französischen Revolution und ein früher Tod mit 39 in seinem Lebenslauf Platz finden. Obendrein verlor er seine Angetraute an – wenn man dem Essay glauben darf – einen ausgemachten Hohlroller und Aufschneider. Kurz: Ein erstaunlicher Mensch, dieser Forster. Erstaunt hat mich auch, wie häufig ausgerechnet Kassel als Dreh- und Angelpunkt vielen Geschehens genannt wird. Eben jenes Kassel, das – die Kasselaner mögen mir vergeben – bei unserer Ziel-für-den-Umzug-Suche sofort als Musterbeispiel für Unattraktivität rausflog. Noch knapp vor Castrop-Rauxel (das einen coolen Namen auf der Habenseite hat) und Lippstadt. So ändern sich die Zeiten.

Auf Seite 34 finden die biographischen Anmerkungen ihr trauriges Ende. Doch in die Trauer mischt sich Vorfreude – nur noch einmal umblättern, dann gehen wir auf Weltreise. Pustekuchen. Es folgen Anmerkungen zu den Umständen der Veröffentlichung der Erstausgabe. Immerhin: hier schreibt Forster selbst und ich freue mich über die ersten ortographischen Auffälligkeiten des damaligen Schrift-Deutsch. Meine Freundin ist wieder wach und hört mir zur, will sich aber nicht so recht mitfreuen. Durchs Vorlesen geht halt oft viel verloren. Schade ist, dass eben das, was Forsters Vorbemerkungen in fein gedrechseltem Deutsch erklären, bereits einigermassen ausführlich im vorangegangenen Biographie-Teil dargelegt wurde. Schnödes Vorblättern ist natürlich trotzdem keine Option, denn ein so teures und vor allem schweres Buch gehört bis zur letzten Seite ausgekostet. Vermutlich werde ich selbst vor dem Index nicht Halt machen.

Dem tatsächlichen Aufbruch auf die Reise um die Welt schaue ich weiterhin mit Zuversicht entgegen. Es kann sich nur noch um Wochen handeln...

1Wer das noch einmal nachlesen möchte, kann das gern hier tun. Auch zum wiederholten Lesen geeignet.

2 Wo genau die geblieben sind, vermag ich derzeit nicht zu sagen. Das würde vor Gericht vermutlich keinen guten Eindruck machen.


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