13.03.2009 / 19:04 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Intelligibel, intelligabel, intelligubel (70-98)


Intelligibilität und Kohärenz sind des Glückes Unterpfand. (Bild: lambda_X, Lizenz.)
Lazarus-Zeichen in der Lesemaschine. Es geht hier mal wieder im Schneckentempo weiter. Aber ein Werk, dass man in 200 Jahren noch lesen wird, kann man ruhig auch mal über 200 Jahre hinweg durchbesprechen. Vielleicht setzen sich dann ein paar Dinge dieses ausgesprochen verzwickten Textes ein bisschen besser. So wie hier bei Kap. 1.5, das fand ich ja schon wieder richtig anstrengend.

Anstrengend, aber auch spannend: Denn es geht darum, wie man philosophische Theorien eigentlich begründet. Wirklich keine schlechte Frage. Wenn ich mich an meinen geliebten Monsieur Descartes erinnere, dann drehte sich da alles darum, dass ein absolut gewisser Punkt gefunden wird, von dem aus man sich alles weitere zusammenbaut. Fast die ganze Neuzeit ab Descartes versucht es auf diese Tour: Man sucht nach absolut wahren Axiomen, die das Gebäude der Philosophie als unerschütterliches Fundament tragen (der sog. Letztbegründungsimpetus).

Aber schon bei Descartes schien das nicht so richtig zu klappen. Er hatte alles, ausnahmslos alles in Zweifel gezogen, bis zu dem Punkt, wo sich der Spaten der Reflexion umbiegt: Cogito, ergo sum. Daran kann man nicht mehr zweifeln, das ist absolut sicheres Wissen, selbst wenn alles andere drumherum falsch ist. – Das Problem ist aber leider, dass es überhaupt keine solchen völlig isolierten Erkenntnisse geben kann (zumindest wären sie dann inhaltlich leer). Wissen bedeutet immer, etwas in Beziehung zu anderem zu setzen: Es geht darum, wie die Dinge untereinander zusammenhängen. Erkenntnis ist immer ein Netzwerk, kein System von jeweils für sich wahren Einzelsätzen. Man kann aus solchen isolierten Erkenntnissen auch keine Folgerungen ziehen, denn schlussfolgern kann man nur als allgemeinen Zusammenhängen. Zudem setzt jede Erkenntnis einen ganzen Sack von Sachen voraus, z.B. eine Sprache, eine Logik, usw., in Puntels Worten: Einen Theorierahmen.1

Genau das war dann auch bei Descartes das Problem: Er musste, um von seinem Cogito, sum wegzukommen, ein paar allgemeine Wahrheiten voraussetzen, wie z.B. das Nichtwiderspruchsprinzip und das metaphysische Kausalprinzip. Descartes' radikaler Zweifel selbst setzte sogar diese Prinzipien voraus. Von daher ist es mir sehr verständlich, wenn Puntel sagt: Leute, so absolut wahre Axiome, das geht schonmal echt gar nicht; Theorien sind keine Gebäude, die auf so Axiomen-Fundamenten aufruhen, sondern sie sind holistische Netzwerke. Die Frage nach der Wahrheit der Theorie stellt sich nicht am Anfang bei den Axiomen, sondern erst danach, wenn das ganze Netzwerk halbwegs schön zusammengebaut ist.2

Die Philosophie von "Struktur und Sein" ist so ein Netzwerk. Sie ist (um ein Bild von Alan White zu verwenden) wie eine Raumstation, die ihre Stabilität nicht von Fundamenten erhält, sondern davon, wie stark ihre Bauteile miteinander verankert sind. Und die Puntel-Raumstation schwebt auch nicht isoliert im leeren Weltall, sondern sie spannt sich wie ein Spinnennetz über das gesamte Universum, von Unendlichkeit zu Unendlichkeit; denn sie erfasst das Sein als solches und als Ganzes – jedoch in ihrer Struktur recht lückenvoll und nicht so feinmaschig wie das Universum selbst (remember: Das universe of discourse ist die vollkommene unendliche Struktur selbst).3

Doch bis diese unfassbare Raumstation fertig ist, muss noch viel gesponnen und vernetzt werden. Dabei kann es hier nicht ohne Puntel und Komma weitergehen, sondern wie gehabt in Abschnitten und mit Kaffeepausen.

1) Damit steht Puntel auch hier (wie schon in Sachen universaler Ausdrückbarkeit des Seins) dem Mittelalter näher als der Neuzeit. Auch die Scholastiker sahen Theorien mehr als Netzwerke.

2) Kriterien für die Güte einer Theorie sind dann ihr Grad an Kohärenz und Intelligibilität, wobei letztere ein Massstab für erstere ist. Allerdings finde ich 'Kohärenz' bis jetzt einen recht unklaren Begriff in dem Werk: Sie steht irgendwo in der Mitte zwischen Ableitbarkeit zweier Subtheorien auseinander (T0 ⊨ T1) und ihrer Widerspruchsfreiheit (¬(T0 >−< T1)).

3) Das schlägt sich auch im Aufbau des Buches selbst nieder. Wird vielleicht schon dem einen oder anderen aufgefallen sein, dass die Kapitel alle total miteinander verwoben sind, und nicht stur linear fortfahren. "Struktur und Sein" hat kein continuity editing, sondern ist eher der Atom-Egoyan-Film unter den Philosophiebüchern.

98 von 687 Seiten

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