22.11.2007 / 23:57 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Ninja stirbt umsonst

1999 las Ursula Fricker "Da sind schon ganz andere gescheitert"

Text selber lesen, sich von der Autorin vorlesen und von der Jury verreissen lassen.

Meine Quellen der Bewerbsjahrgänge 1977 bis 1998 (überwiegend die Sammlung "Klagenfurter Texte") sind unvollständig. Sie enthalten keine durchgefallenen Texte. Erst seit 1998 stehen alle im Internet. Der grosse Plan A hinter "... liest Klagenfurttexte" ist, ein Raster für Durchfall oder Durchmarsch zu schaffen. Mit Maultrommel (Bodo Hell, Georg Ringsgwandl), alberner Kostümierung (Ginka Steinwachs), Stirnschlitzen (Rainald Goetz) und dem massenhaften Ficken von Babys (Urs Allemann) schafft man es nicht, die Jury zu verprellen. Die Schilderung der Ödnis zwischen Mann und Frau ist aber ein guter Weg.

Inhalt: Der Schweizer Moritz Leu hat in Berlin die Buchverkäuferin Juliane (Jule) Durst kennengelernt, als er bei ihr einen Patagonien-Reiseführer bestellte. Er ist humorlos, sie eher albern. Sie fahren zusammen in die Berge und dann doch nicht nach Patagonien. Die Geschichte beginnt am Ende (Moritz Leu ist mit dem Motorrad bis kurz vor Hamburg gefahren, nachdem er Jule im Bergell zurückgelassen hat) und wird dann linear von Anfang bis Berge durcherzählt.

Zum Tanken nur, war er abgestiegen, ein paar Schritte gegangen, danach hatte er aus Jules roter Thermosflasche bitteren, und kalten Tee getrunken. ... Gestern noch, war er mit Jule gewandert.

Und so weiter. Ich fege einen staubigen Haufen Kommas am Wegrand zusammen, das sind Wertstoffe, die hier und da vor bindungsunfähigen Nebensätzen eingebaut werden könnten.

Extra: Moritz überfährt mit dem Motorrad ein Huhn. Leider kein Blut.

Du klingelst am nächsten Haus und erfährst dass, was du leider überfahren hast, nicht einfach ein Federvieh war, nein, es war Ninja, das allereinzige Huhn der Familie Knospe, das Haushuhn, schlief nachts auf der Gardinenstange im Kinderzimmer.

Wertung: Thema ist der bindungsunfähige Mann. Auch hoffenmachende Elemente (Punta Arenas, das Postauto, Geruchsbehinderung, tote Tiere) werden ohne Glanz vorgeführt.

(Grosser Plan B: Wenn da draussen zum ersten Mal von "Bachmann 2.0" die Rede ist, werde ich aus diesem Internet heraus in die Jury berufen.)

Texte aus 4 von 30 Jahren gelesen.


1980, 1981, 1996, 1999


22.11.2007 / 20:53 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Tex Rubinowitz: Das staubige Tier (13-40)

Klaus Nüchterns Vorwort zu Das staubige Tier überblättere ich vorsichtshalber, denn was kann in so einem Vorwort schon drinstehen? Am Ende müsste ich Kritik an Klaus Nüchtern üben, was undankbar wäre, da er mir 2006 durch seine Klagenfurtjurorentätigkeit zu immerhin einem Neuntel von sehr viel Geld verholfen hat. Nebenbei auch 2007 zu einer Steuernachzahlung von wiederum einem Neuntel von fast genauso viel Geld, denn Preisgelder sind steuerpflichtig, wenn sie nicht für das Lebenswerk verliehen werden. Meine Argumentation "Wenn ich nie wieder was schreibe, ist das mein Lebenswerk" stiess bei der Steuerberaterin auf taube Ohren, und so werden von den Geldern der Kärntner Steuerzahler jetzt in Neukölln Gehsteigplatten verlegt.

An Tex Rubinowitz dagegen darf ich Kritik üben, denn er hat das gern und kann zu diesem Zweck stundenlang nachts in verrauchten Chatklausen herumpöbeln. Wo andere Menschen von Kaffee angetrieben werden, von Ehrgeiz oder von Angst, da strömen durch die Psyche von Tex Rubinowitz giftige Industrieabwässer, an die er sich angepasst hat wie ein Bakterium an Batteriesäure. Deshalb verschweige ich hier, dass Das staubige Tier ein ausgezeichneter Wienführer ist, das steht sowieso schon alles in Aleks Scholz' Rezension des Buchs. Stattdessen möchte ich Individualismus und Distinktionsgewinnlertum verteufeln, die wie ein Pesthauch durch dieses Buch wehen. Im ersten Text "Die Fliege" beklagt der Autor, dass immer alle die Mona Lisa sehen wollen, er selbst hat natürlich "ein bestimmtes Bild, das ich immer wieder und immer wieder gern aufsuche, nur kennt das kein Schwein, weil es so versteckt ist und ein einsames Dasein fristet", winzig klein ist das Bild natürlich auch, aber es reicht noch nicht: "Die Sensation, das eigentlich Grossartige an diesem Bild ist aber eine winzig kleine Fliege auf seinem Wams (...) keinem Menschen fällt sie auf." Da muss erst der sensible Wahrnehmer Rubinowitz kommen.

Im zweiten Text geht es ums "einsamste Museum Wiens": "Seit zwanzig Jahren warte ich nun schon, dass da mal einer reingeht. Gesehen habe ich, ausser mir, noch nie einen." Der dritte und vierte Text untergraben meine Vorwurfspläne erst mal durch Makellosigkeit, aber gute Vorwurfspläne halten das aus, so schnell gebe ich nicht auf. In #5 interessiert sich der Autor "für Eier", na gut, übertriebenen Distinktionswunsch kann man ihm dafür nicht unterstellen, es geht nicht einmal um Kreuzkröten-, sondern um ganz normale Hühner- und Enteneier. Auf Seite 38 können wir ihn in einem chinesischen Lokal ertappen, das "naturgemäss von Restaurantkritikern gemieden wird", aber die Beweislage dünnt sich jetzt gefährlich aus. Gerade als ich aufgeben will, beginnt Text #8 mit "Wenn für die Bevölkerung die Badesaison beginnt, nämlich am 1. Mai jeden Jahres, ist sie für mich zu Ende, weil ich Kaltschwimmer bin. Warmes Wasser interessiert mich einfach nicht ..." Weiter kann ich der Sache nicht nachgehen, ohne meinen Nur-den-Anfang-Lese-Vorsatz zu gefährden, weil das Buch so dünn ist, dass ich dann schon fast am anderen Ende wieder herauskäme. Um nicht als individualismuszerfressenes Wrack wie Tex Rubinowitz zu enden, werde ich in nächster Zeit therapeutische Massnahmen ergreifen, die Mona Lisa gut finden und täglich warm baden.

Fundort: Unter dem Laptop von Aleks Scholz, rechte Seite ("wegen der Kühlung")

Prokrastinationsbuch: 13 von 200 Seiten geschrieben.


22.11.2007 / 17:30 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Ambitionen (113-138)


Leitern. Besteigen?
Vom Bahnsteig aus sieht man am Journal Square – seine Geschichte kennt ihr ja schon – auf beiden Seiten Felswände, drüber ein von Jahrzehnten durchrumpelnder Züge schwarz gewordener Schatten. Bei der Einfahrt in die Höhle sprühen Funken immer an derselben Stelle, als schweisse draussen vor dem Wagen jemand den Sprung in der Welt notdürftig zusammen: Aufhebung der Ursünde im Lichtbogen des abbremsenden Nahverkehrs.

Oben an der schwarzen Decke, auf den Pfeilern, wohnen Tauben. Man sieht das zuerst nicht, so wie man die Mäuse auf den Schienen und zwischen dem Müll nicht sieht, muss ein paar Minuten hinsehen, und dann treten sie aus der Schwärze auf ihre kleine Bühne und spielen ihr Leben vor. Dort unter der dunklen Decke wird der Vogel bald sein Nest bauen, oder vielmehr ja ein "Nest", einen Haufen Dreck und Taubenscheisse zusammenscharren, ein Ei reinsetzen, ein Kind rauswerfen, ehe er dann vom Habicht zerfetzt und vom Taxi überfahren wird. Ein kleines Leben ist das, aber die Ähnlichkeiten mit meinem eigenen rühren mich doch, die Ambitionen, die Hoffnungen. Dabei werde ich selbst vermutlich weder ein Ei legen noch von einem Taxi überfahren werden.

Am anderen Ende der Skala stehen Biografien wie die von Al Smith, dem Gönner und Förderer unseres Helden, wie ich Moses von jetzt ab nennen werde, aus Scheiss. Das Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen, das an Dimensionen gewinnt, wenn man den Spaziergang über die Brooklyn Bridge schon mal selbst gemacht und die Tenements in der Lower East Side selbst gesehen hat, und die wacklige Flugbahn nach oben und nach Norden, bis zum Einschlag im Gouverneurspalast, die Ähnlichkeitsmaschine sucht nach Parallelen. Die Gesetzestexte, von denen Smith nichts versteht, und in denen er sich dennoch Jahr um Jahr vergräbt, sind sie nicht wie ein Flug quer über einen Kontinent, den man sich nicht leisten kann, und den man antritt nur um dort vor einer Prüfungskommission kampfzutanzen? Oder wie das Taubenei, schnell gelegt und schneller noch zu Gips getauscht.

Nein, sind sie nicht.

138 von 1162 Seiten

Kai Schreiber / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


22.11.2007 / 12:54 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)

Hoffentlich nachvollziehbares Anplausibilisieren (1-12)


patior – pati – passus sum
Luhmann gilt als Autor, bei dem jeder Satz ein Türsteher für einen Club ist, in dem Männer sitzen und erfolgreich kommunizieren. Ich will ja auch gar nicht rein, nur mal gucken, ob wer da ist, den ich kenne. Komisch, dass Luhmann als trocken gilt, nur weil er unverständlich schreibt, und Celan mit denselben Mitteln die Frauenherzen erobert. Aber gibt es überhaupt zwei verschiedene Unverständlichkeiten auf der Welt? Ist nicht jeder Text, den ich nicht verstehe, ein Gedicht?

Wie in jedem meiner Bücher steckt auch im Luhmann ein Bleistift, an der Stelle, wo ich bei der Lektüre aufgegeben hatte, hier auf Seite 42. Ich könnte also diesmal einfach nur die beim ersten Anlauf angestrichenen Stellen lesen, aber das würde bei Luhmann nicht mal schneller gehen, eine der Eigenheiten seines Stils. Ausserdem stelle ich bei einer Stichprobe fest, dass mir dann der Satz: "Parsons hatte bereits gelegentlich den Gedanken, dass ein differenziertes System nur deshalb ein System ist, weil es durch Differenzierung entstanden ist", entgangen wäre. Es gibt Tage, an denen ich ihn verstehe.

Ein Vorwurf von Seiten der Frauen an mich war immer, ich würde "alles" zerreden. Dabei kann man über "alles" gar nicht reden. "Entsprechend wird Liebe hier nicht [..] als Gefühl behandelt, sondern als symbolischer Code, der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann." Beim nächsten Mal versuche ich es mit diesem Kompliment: "Sie wirken wie jemand, mit dem man erfolgreich kommunizieren kann." Schöner kann man es nicht sagen, nur dass es in der Liebe bekanntlich keinen Schönheitspreis gibt.

Die Theorie wird zeigen "dass Liebe nicht nur eine Anomalie ist, sondern eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit." Das klingt beruhigend, auch wenn es nur ein geringer Trost ist, dass das eigene Leid lediglich unwahrscheinlich ist und nicht anomal. Dass der Code dazu ermutigt, entsprechende Gefühle auszubilden, und ohne Liebesromane niemand verliebt wäre, ist ja ein alter Hut. Luhmann hat für seine Untersuchung Romane des 17. und 18.Jahrhunderts gelesen, sich bewusst zweit- und drittrangige Literatur gesucht und "ein unsachliches Prinzip der Zitatauswahl gelten lassen, nämlich die sprachliche Eleganz der Formulierung." Wie schön, wo doch in der Wissenschaft Eleganz heute das fest verrammelte Tor ist, durch das sich die Unsachlichkeit keinen Einlass mehr verschafft.

Wörter, zu schön, um in der Soziologie zu versauern: – "anplausibilisieren", "Selbstbeweglichkeit"

12 von 230 Seiten

Jochen Schmidt / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


22.11.2007 / 11:28 / Sascha Lobo liest: Der ewige Spiesser (Ödön von Horvath)

Der ewige Spiesser Teil neun

Angenommen, jemand bräuchte ein Beispiel für das Stilmittel Untertreibung, dann würde derzeit gut passen: Sascha Lobo hat extrem schlechte Laune. In Wirklichkeit ist Sascha Lobos Laune von einer erdkernnahen Unterirdik, von der man noch in vielen Jahren nicht sprechen wird aus Angst. Über die Gründe möchte ich schweigen. Der Leser muss jedoch keinesfalls befürchten, dass dieses Launeloch sich negativ auf mein Lesemaschinenverhalten auswirkt. Im Gegenteil! Hier hilft mir ein Gehirnenzym, das Aggressivität in Produktivität umwandelt – was auch der Grund ist, weshalb ich Kathrin Passig, wenn sie in anderthalb Wochen aus Schottland zurückkommt, einen so grossen Brocken Prokrastinationsbuch vorlege, dass sie vor Freude nichts sagt. Bei derartig gigantischen, riesigen, notwendigen und weltverändernden Aufgaben wie diesem Buch ist es sinnvoll, wenig Respekt davor zu haben und es nicht unnötig gross zu reden. Das Gehirnenzym wandelt leider nicht sämtliche Aggressivität um, und so gehe ich ungewohnt kantig, man kann fast sagen: ungeschmeidig in die Lektüre. Es hilft, den Protagonisten ersteinmal in Grund und Boden zu hassen und das ist ja nun bei Kobler besonders leicht, diesem widerwärtigen Teilzeitfaschisten. Gleichzeitig kann ich meine Aufregung über die derzeitige sozialpolitische Entwicklung dort mithineinbringen, die sich am konservativen Widerstand gegen den Mindestlohn festmacht.

Nun ist in alten Büchern Parallelen zur Gegenwart zu suchen ebenso gefährlich wie alte Theaterstücke in die heutige Zeit zu übersetzen; Romeo als DJ kann schnell noch bedeutend unfrischer wirken als das Original und schliesslich zerfasert alles zu Metaphernbrei ohne tiefere Aussage. Der ewige Spiesser aber ist von von Horvath schon im Titel so angelegt, dass er universalverwendbar ist und so kann man Hauptfigur Kobler bescheuert finden und Spiesser, den Neokonservativen von heute meinen. Ich sehne mich nach einem Neocon, der aufsteht und sagt: "Also, ich bin gegen den Mindestlohn, weil ich den verdammten Pöbel nicht ausstehen kann, weil ich mich für etwas Besseres halte und weil ich glaube, dass das dumme, ungebildete Volk es nicht besser verdient hat: wenn es nicht hart arbeitet, soll es ihm ruhig schlechtgehen. Das mit dem Markt ist mir im übrigen gar nicht so wichtig, wie ich immer sage, Subventionen für meine Branche finde ich zum Beispiel super. Früher wäre ich bestimmt adelig gewesen." Kobler denkt ganz ähnlich, sicher wäre auch er gegen den Mindestlohn, aber: er denkt es eben nur. Es ist sehr geschickt von von Horvath, seinen Figuren im Buch mitten in Dialogen überraschende, entlarvende Sätze unterzuschieben, die aber mit "dachte er" schliessen. Die Differenz zwischen gedachtem und gesagtem Mut, das ist das Hauptmerkmal des Spiessers von von Horvath ebenso wie das des heutigen Spiessers.


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