29.11.2007 / 15:37 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Bell&trietz-Tick-T-ächzt

1991 las Hubert Konrad Frank "Café Wintergarten" (aus: "Baden-Dubel in den Weltstädten")

Hermann Burgers künstliche Dagmar
Erneutes Abweichen von den Statuten: Ich ahnte von Beginn an,

Armando-Ermanno! Itzo steh wohl dein Rest neben dein Werk-Gebüchere in der Bibbelteik von dein Schwester Klärli im Helfezzia-Städtgen.

dass ich für den Text nicht gebildet genug bin. Blätterte also in dem Buch, aus dem ich lese ("Klagenfurter Texte 1991") regelwidrig vor und erfuhr, dass Armando-Ermanno Schöllkopf-Burgero Hermann Burger ist, der sich 1989 in Schloss Brunegg im Aargau umgebracht hat.
Der Text hört sich leichter, als er sich liest, also bitte:



Übersetzung: Der Ich-Erzähler ist in Hamburg ("nordisch Venedig").

Ich verstehe erstmal nur sehr wenig, fehlende Burger-Kenntnis und quatschige Sprache. Hat Burger so geschrieben? Ich nehme mir eine Lesepause und recherchiere, wie viele Venedige des Nordens es gibt. Ich komme auf 35, darunter Aussenseiter wie Hanoi, Bamberg und Srinagar in Kaschmir.

Deit ich Schön-Dagmar aus zwei Gründen. Ästens soll sein der Treff ein Form von Home-ash an dein Künstlich-Mutter-Gewerk das gewag freudianisch tiefbohrend Gotthardstollen-Äh-Poss kakaneske hopschwyzerische das vorstell uns schwyzerisch-schwitzig Seelen-Roläckjohn-Herrzieh-Gebirgs&Militärlandschaften klusive kipp ein Seitenblick bar-odienartige auf Zauberbergskliniken & deren Äh-Possen.

Mühsam erschlossene Handlung: Der Ich-Erzähler, ein Journalist aus Baden, trifft sich in Hamburg im Café Wintergarten mit Dagmar Berghoff, um diese über ihre Verwendung in Hermann Burgers "Die künstliche Mutter" als "Dagmar Dom" zu interviewen. Würden Sie mitlesen, wären Sie mir für diese Information dankbar , sie war nicht leicht zu erfiltern. Über Klagenfurt steht nichts drin, das wäre vielleicht zu meta-meta-meta – Gefahr schriller Rückkopplung.

Der Text ist offenbar nicht mit Gewinn zu lesen, wenn man den Hintergrund nicht kennt, ich habe ihn mir später oberflächlich ergooglet. In Kürze: Hermann Burger veröffentlichte 1982 den Roman "Die künstliche Mutter". Dieser handelt von einem Professor Schöllkopf, der Heilung von seltsamen Leiden sucht in Göschenen am Gotthardt. Er findet sie bei der "künstlichen Mutter", die eine Art Dagmar Berghoff ist. 1986 hat Hermann Burger selber mit Dagmar Berghoff ein Interview geführt, das die Schweizer Nationalbibliothek mich nicht hören lässt. Ich gehe davon aus, dass ich die meisten Anspielungen des Textes nicht verstehe.

Kleines Vokabular:
Home-ash – Hommage
Lebensdrecködien – Lebenstragödien
deit – Verabredung
Periwicke – Perücke
Kleinstburrrker-äh-piel – Kleinbürgererscheinungsbild
Putenräpblick – BRD
Bell&trietz-Tick-T-ächzt – belletristischer Text

Wertung: Für fortgeschrittene Leser mit guten Vorkenntnissen. Die Jury (mit Vorkenntnissen) teilte Frank das Stipendium der Kärntner Industrie zu.

Skandal des Bewerbes 1991: Urs Allemann gewinnt mit einem Preis über das Ficken von Babys (Titel: Babyficken) den Preis des Landes Kärnten.

Texte aus 5 von 30 Jahren gelesen.



1980, 1981, 1991, 1996, 1999


29.11.2007 / 13:07 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Tom Hodgkinson: How To Be Free (1-340)

Ich verstosse gegen die 20-Seiten-Regel, lese
How To Be Free aus Langeweile komplett auf dem Flug von Glasgow nach Berlin, schlafe dann ein und verdamme im Traum gemeinsam mit dem Autor die Zivilisation. Im Landeanflug erwache ich mit dem jähen Gedanken, dass jetzt nicht der Moment für Zivilisationskritik ist, den Rest der Strecke verbringe ich damit, die Zivilisation gutzuheissen.

Warum schwenken alle Utopisten eher früher als später in den Utopistenmainstream ein und fordern dann unweigerlich das Wohnen auf dem Lande, die Heranzucht eigenen Gemüses und die Wiedereinführung der mittelalterlichen Zünfte? Es hatte doch so gut angefangen mit Mr. Hodgkinson. "How To Be Idle" war ein Buch voll kluger Ideen, während "How To Be Free" keinen Gedanken enthält, den man nicht auch gratis hinten auf der Öko-Frühstücksflockenpackung aufgedruckt findet. Und wer gleichzeitig den Konsum verdammt und sich damit brüstet, sein Geld stattdessen in den Kauf von Büchern zu stecken, der darf ruhig ein paar Jahre beim Hilfscheckerbunny in die Lehre gehen, dessen kleiner Zeh mehr vom Konsum versteht als der ganze Mr. Hodgkinson.

Dazu kommt, dass der Autor das glatte Gegenteil von allem fordert, was Sascha Lobo und ich im Prokrastinationsbuch zu fordern gedenken: Ausgerechnet von Tom Hodgkinson muss man sich jetzt anhören, man brauche sich doch nur regelmässig einmal hinzusetzen und seinen Papierkram in Ordnung zu bringen, ausserdem sei Outsourcing nur die moderne Form der Sklaverei. Nach der Lektüre musste ich mich durch stundenlangen Konsum schematischer, unpersönlicher und von Grosskonzernen diktierter Inhalte aus dem Internet, mehrere Onlinebestellungen bei Markenanbietern und den Verzehr denaturiertester Lebensmittel purgieren. Wer meine Ausgabe von "How To Be Free" haben möchte (Konsumverweigerung! Geschenkökonomie!), der maile seine Adresse an die Lesemaschine.

Prokrastinationsbuch: 13 von 200 Seiten geschrieben.


29.11.2007 / 10:56 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

How to be free: Manifolds of n dimensions (217-246)

Kapitel 12 und 13 lese ich im Ardenbeg Bunkhouse in einem Dorf am Westrand der Cairngorm Mountains. Es ist elf Uhr abends, der Wecker steht auf sieben, damit jede Sekunde Tageslicht zum Bergsteigen verwendet werden kann. Der Körper versteht allerdings nichts vom Tageslicht und weigert sich, zu so einer absurden Zeit einzuschlafen. Rechts liegen kann ich nicht, weil ich beim ersten Sturz an den Eishängen des Cairn Gorm auf die rechte Hüfte fiel; links liegen kann ich auch nicht, weil ich beim zweiten Sturz, man ahnt es. Auf dem Bauch liegen geht auch nicht, weil ich beide Male auch Knie und Ellenbogen demolierte. Mein verrückter Studienkollege Schliemann rief jedesmal, wenn er bei Glatteis ausrutschte: "Mü! Zu niedrig! Mü!", womit er den Reibungskoeffizienten meinte. Dann lachte er immer sein irres Lachen. Wegen niedrigem Mü gezwungen, sich mit n Dimensionen zu befassen. My life has gone Schliemann.

Die Cairngorms sind eine Art Mini-Sibirien in Ostschottland; ein grosser runder Fleck auf der Landkarte ohne Strasse, ohne Siedlung, nur Berge und Wüstenei im Umkreis von locker 50 Kilometern. Es ist dieselbe Gegend, in der Peter Higgs 1964 das Higgs-Boson einfiel, das hypothetische Teilchen also, das all den anderen Teilchen mitteilt, welche Masse sie haben. Irgendeiner muss es ja tun. Es ist leider nirgendwo vermerkt, an welcher Stelle in den Cairngorms Peter Higgs die Idee mit diesem Teilchen hatte, im Gegensatz zu den Quaterionen-Gleichungen von William Rowan Hamilton, die er sofort am Ort der Erleuchtung, auf der Brougham Bridge in Dublin, in einen Stein meisselte, wo sie seit 1843 nachzulesen sind. Es wäre grossartig, gäbe es eine Weltkarte, auf der die Orte genialer Einfälle verzeichnet sind; vielleicht bilden sie einen randlosen topologischen Raum, der sich durch eine Lineartransformation orthogonalisieren lässt oder so. Vielleicht entsteht so aber auch nur ein dekoratives Muster auf der Weltkarte, mit dem man T-Shirts für Nerds bedrucken kann.

Mir kommt in drei Tagen Cairngorms kein einziger richtig guter Einfall, mal abgesehen von Trivialitäten wie "Eis ist glatt", "Wasser ist nass", "Berge sind hoch", "November ist praktisch Winter" und "beim nächsten Mal vielleicht nachdenken, bevor man die (sehr schlechte) Wettervorhersage ignoriert". Es ist so dämlich, dumm zu sein.

Statistik zum Verständnis: (Erklärung)
V3 – multiple connectivity, fundamental theorem of calculus, integrals of forms, compactness
V4 – covectors, exterior derivative, summation convention
V5 – Hausdorff space, Grassmann products, diagrammatic tensor notation (letztere ein hoffnungsloses Gewirr von Symbolen und Linien, von Penrose eigenhändig erfunden, damit man ihn besser versteht – noch so ein Narr)

Fähigkeit, die ich manchmal gern besässe: shrinkability

246 von 1049 Seiten

Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (7) / Buch kaufen und selber lesen


29.11.2007 / 06:11 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Steckenpferdschreiber (671-808)


Selbst Bier zu brauen ist ein Hobby, besoffen sein nicht
(Quelle: bei Flickr, Herr Tobe)
Vierter und letzter Teil des Buches. Tom Ripple ist überraschend umgezogen, irgendwohin an die Küste, möglicherweise habe ich überlesen, wohin genau. Jedenfalls gibt es wieder Nachbarn, Vorgärten, Kirchgänge und Barfrauen. Mittlerweile habe ich ein wenig den Überblick über seine Nachbarschaften verloren (London, Suffolk, London, irgendwo an der Küste), aber die hatten ohnehin immer nur Zeitverträge über 250 Seiten. Tom Ripple ist jetzt seit 20 Jahren Frührentner, und er denkt über seine Freizeitbeschäftigungen nach. Falls man Mädchenhinterhergucken nicht dazuzählt, hat er kein Hobby, und das beklagt er:

"Ich weiss nicht, warum ich mir kein Hobby zulege. Ich könnte es, wenn ich mich damit befassen würde."

Mir geht es ähnlich, aber ganz anders. Als Fünfzehnjähriger, der sich für nichts als Mädchenhinterhergucken interessierte, beschloss ich, dass es mit zwanzig früh genug sei, sich ein Hobby zu suchen. Später nannte ich das Hobby etwas gezierter "Steckenpferd". Ich verschob aber meinen ersten Ritt auf meinem neuen Steckenpferd immer weiter. Daran hat sich bis heute nichts gändert. Ich habe einfach nichts gefunden. Ich will nicht angeln, die Firma Märklin retten, und für einen Garten, da brauchte ich erst einmal ein Haus. Auffällig ist, dass bei vielen Dingen nur ihre Herstellung, nicht aber ihr Konsum als Steckenpferd allgemein durchgeht. Essen ist kein Hobby, aber Kochen. Musikhören ist eigentlich auch nichts, aber Klavierspielen. Stühleschreinern als Hobby geht, Sitzen eher nicht.

Lesen und Schreiben ist auch so ein Fall. Wenn überhaupt, ist Tom Ripples Hobby die Aufzeichnung seines Lebens. Das macht er aber ausdrücklich als Amateur und Dilettant. Er klagt, nicht so schreiben zu können, wie er eigentlich möchte, oder "es nicht so wie die Profis hinzubekommen". Mit der Wahl eines dilettantischen Erzählers begibt sich ein Autor immer in Gefahr. Auf der einen Seite droht er, seinen eigenen Helden zu diffamieren, andererseits, und das ist fast noch schlimmer, sich selbst. Die Griffweite des Erzählers bestimmt den Horizont der Erzählung. Und ein Ich-Erzähler ist zuständig, uns die Geschichte zu erzählen. Er braucht nicht nett sein, denn wir Leser sind einiges gewohnt, er darf auch nach Feierabend Frauen aufschlitzen, sich viereinhalbtausend Seiten vor einer Erkältung fürchten oder nicht Stiller sein. Aber uns zu erklären, dass er das einzige, was er tut, nämlich Erzählen, gar nicht kann, das ist etwas heikel.

Zustand: Wie am 28. November, wenn man sich das ganze Jahr auf Weihnachten freut.
Prophezeiung: Der Romangaul bäumt sich ein letztesmal tragisch auf, mit der "Frau aus Hausnummer 27".

808 von 928 Seiten

Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


28.11.2007 / 19:23 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Das Land (140-178)


Empörend. Aber auch schön.
Nachdem der Zug aus der Höhle unter Journal Square gekrochen ist, nimmt er Fahrt auf und rumpelt aus dem Einschnitt im Höhenzug zwischen Hudson und Hackensack heraus und nach Westen. Verfallende Industrielandschaften sind den Sümpfen hier nur lose aufgesetzt, zwischen den Parkbrachen und dem bröckelnden Mauerwerk toter Fabriken wiegt sich das Schilfgras, und vor dem Kraftwerk, bei dessen Einweihung Edison Ehrengast war, wird die Strasse bei Regen unpassierbar, ein Teil des Flusses mehr als des Landes. Zwischen den Gleisen, neben der Strecke, überall steht das Wasser und versucht, die ihm abgetrotzte Fläche zurückzugewinnen.

Vor Jahren, angetrieben von der Mischung aus Neugierde und Langeweile, der sich grosse Entdeckungen ebenso verdanken wie frühe Tode, stand ich mit beiden Beinen in einem glühenden Strom. Winzig klein sausten leuchtende Spielzeugautos den Waldweg entlang, um meine Füsse teilte sich der Strom und floss hinter mir wieder zusammen, ein klirrendes Rauschen ging von dieser Waldautobahn aus, und ich folgte ihr bis an ihre Quelle, wo, und dieses Klischeeerlebnisses wegen stehe ich der Hawaiianischen Babyholzrose heute ein wenig zwiespältig gegenüber, ein schlafender Riese in den Wipfeln lag. Ein Riese! Also nein, Droge, so nicht.

Vom Riesen wählte ich damals den kürzesten Weg nach Hause, stracks durch die Vorgärten, Hintergärten und Seitengärten der Vorortsiedlung auf dem "Sand", die den Wald von meinem Zimmer trennte. Landbesitz erschien der Droge eine Absurdität, und ich erkletterte also Zäune, durchquerte Beete, und benahm mich im Ganzen an diesem Abend, Autobahn, Sand, Aktivismus gegens Grundeigentum, wie Moses auf Long Island. Dass man die Spuren meiner Rebellion heute nicht mehr finden wird, Moses aber sich der vormaligen Sumpflandschaft aufgeprägt hat wie ein Staubbeutel dem Stempel, auch daran wird wohl die Droge schuld sein.

178 von 1162 Seiten

Kai Schreiber / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


... 29 30 31 32 33 [34] 35 36 37 38 39 ...