19.11.2007 / 08:29 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Irrewerden in Island

1981 las Ilma Rakusa "Zwei wahre Geschichten"

Ilma Rakusa (rechts) 2006 mit Daniela Strigl
Lesezeit: Donnerstagmittag
Anfang 1. wahre Geschichte: "Treffen in Reykjavik":

Ann, Er und der Dritte gehen durch einen schütteren Birkenhain auf das Haus zu. ... das Peristyl erinnert nur von ferne an ein Peristyl und steht im Norden von Reykjavik.

Weil ich nicht weiss, was ein Peristyl ist, stelle ich die Lektüre zurück und blättere im Literaturteil der Zeit herum, der ja von Iris Radisch (Jury 1995-2000 und seit 2003) verantwortet wird. Macht auf mit einer Besprechung der "Hefte aus Kriegszeiten" von Marguerite Duras. Bekannte Duras-Übersetzerin: Ilma Rakusa (Kandidatin 1981, Jury seit 2003). Diese nun hat aber Anne Weber (Kandidatin 2005) übersetzt. Hinten schreibt Hanns-Josef Ortheil (Kandidat 1982) über Robert Gernhardt. Ursula März (Jurorin seit 2003) rezensiert ein Buch namens "Manieren 2.0". Und innen bespricht Ulrich Greiner (Jury 1980) das neue Buch von Juli Zeh (Kandidatin 2004).

Donnerstagabend
Peristyl, aha. Ilma Rakusa trug damals übrigens noch keinen Ponyhelm, das sehe ich auf den Fotos in Klagenfurter Texte 1981, das Buch, aus dem ich lese. Aus den Pressestimmen zum Bewerb ist sie mit "mal ein Auge drauf halten" und "hoher Bildungsgehalt" erwähnt. Morgen weiter. Jetzt plötzlich müde.

Freitagabend
Soso, hoher Bildungsgehalt. Peristyl geklärt, jetzt "Schneetagsplastik" (ein Fachbegriff oder einfach ein Schneemann?), sowie Solfatare und Mofetten.

Er kommt auf Kaffee zu sprechen, macht schon Anstalten, das schwarze Pulver aufzustöbern, aufzukochen, aufzutischen, als der Dritte das Paar geradewegs anpeilt: "Wie kommt ihr zurecht?"

Ich finde das umständlich und blutleer, aber vielleicht ist "schwarzes Pulver" ein Hinweis, und später wird doch noch geschossen. In den letzten Tagen Schwierigkeiten einzuschlafen. Verschwunden. Den Text trage ich vom Sofa zum Bett und zurück.

Samstagabend
Die Frau Rakusa ist eine echte Dame, das sieht man sofort, immer die passende Bluse zum Helm, immer von oben bis unten glattgebügelt. Hier werden keine Körperflüssigkeiten vorkommen. Hier sind

Wände, mit Riesenmarionetten volltapeziert, die leblosen Dinger baumeln freundlich herab ...

Marionetten, damit sind bestimmt diese Leute gemeint, Ann und Er. Hölzern, sprachlos, nebeneinanderher. Sowas halt. Das Baumeln macht mich müde. Morgen lese ich weiter. (Baumelnde Tapeten. Sinkende Hoffnung auf Schüsse.)

Sonntagmorgen
Beschliesse, nur die erste Geschichte zu lesen. Gegen Island ist eigentlich nichts einzuwenden. (Liste: Texte, die in Island spielen: dieser hier und dieser hier). Die Zweite "Wahre Geschichte" heisst "Besuch in Russikon", und gegen Russikon ist sicher auch nichts einzuwenden. Aber.

Sonntag nach dem Mittagsschlaf
Inhalt: Ann und dieser Er leben als Fremde in Island, eine Stunde zu Fuss von Reykjavik entfernt. Der Dritte ist zu Besuch. Zwischen Ihm und Ann läuft es nicht mehr so, "Wir bewohnen getrennte Etagen", erklärt Ann dem Dritten, und über die Einsamkeit der Vorbewohnerpaare ihrer Peristyl-Villa weiss sie: "Die Männer sind an ihr irre geworden." So wird auch Er, wir ahnen es schon. Liste: Texte, die vom Verrücktwerden handeln (lang).

Über den Text verteilt sind in Versalien englische Begriffe: BAD THOUGHTS, BROKEN HEARTS – DEAD BOARDS AND DUSTY CORNERS – GEORGE THE CUNT AND GILBERT THE SHIT – FUCKED UP. Titel lebender Skulpturen von Gilbert & George, wie ich rausfinden kann. Die Juroren konnten 1981 nicht einmal nachschlagen, weil sie den Text erst zur Lesung bekamen.

Er geht in die Stadt, wo Er mit Ann und dem Dritten am Hafen verabredet ist. Auf dem Weg phantasiert Er sich ein Kanu, in dem drei Männer rudern. Sie nehmen Ihn mit und werfen Ihn schliesslich ins kalte Wasser. Selbstmord wohl.
Ich corino mal: Im Kanu rudern, Quatsch, entweder Kanu paddeln oder Ruderboot rudern.

Wertung: Frostig. Thema ist wohl der erstarrte Mensch (Marionetten, lebende Skulpturen). Daher meine Leselähmung. Text funktioniert also. Malus für affektierte Benamsung der Figuren ("Ann, Er und der Dritte.")

Texte aus 3 von 30 Jahren gelesen.