11.12.2007 / 13:55 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)
Deszö Kosztolányi wurde 1886 in Szabadka geboren, in einer Gegend, auf die alle paar Jahre grellrot "Neue Bewirtschaftung" draufgeklebt wird und die gerade zu Jugoslawien Serbien gehört. Die wesentlich bekannteren Sandor Marai und Antal Szerb gelten als Kosztolányis Nachfolger und stehen als Taschenbuchstapel neben Paulo Coelho. 
Deszö Kosztolányi. Dieses Bild ist "Ez a kép közkincs, szabadon felhasználható", was hoffentlich heisst: gemeinfrei. Die leichte Schlawinerhaftigkeit des Fotos täuscht nicht: Kosztolányi gehörte zur Budapester Bohème und brachte seine Zeit gerne in einem "Kaffeehaus" zu. Leider weiss ich trotz Recherche nicht genau, was ein "Kaffeehaus" sein soll. Es handelt sich ungefähr um einen analogen Vorläufer des Netzes, in dem die Webpages mithilfe eines Zeitungsstocks abgerufen wurden. Es gab dort auch einen "Wirt" (Admin?), bei dem man "anschreiben" lassen konnte, ich vermute, das ist eine frühe Form des Bloggens. Kein Wunder, dass diese analoge Bohème kaum etwas auf die Reihe bekommen hat. Ich erinnere zum Beispiel an den zu Recht völlig vergessenen Oscar Wilde, der mit einem haarsträubenden Roman reüssierte, in dem ein alter Sack sich im Chat als junger, süsser Boy ausgibt; wie oldschool ist das denn.
Viel mehr könnte ich über Kosztolányi berichten, wenn ich Ungarisch könnte, ein Ungar wäre oder eine Ungarin kennen würde. Die ungarisch-englischen Babelfische sind von grandioser Untauglichkeit, und so muss ich mich biographisch etwas behelfen. Er ist 1936 gestorben, und zwar "melyben Babits rehabilitálja fiatalkori barátját, művésztársát", also ich denke mal, an Fiatalkori. Oder mal sehen, was die anderssprachigen Wikipedien dazu meinen: "hän halusi olla yhtä aikaa kepeä ja syvällinen" behaupten die Finnen (Halluzinationen? Schwellungen?), die Holländer begnügen sich mit "Kosztolányi overleed in 1936", die Polen wollen erfahren haben: "Jego styl odznaczał się jasnością i czystością wyrazu", die Bulgaren melden lakonisch: "умира од рак на непцетo", den Japanern blieb sein Tod eher rätselhaft, "1936????????", und endlich, die Spanier, bringen ein wenig Licht hinein: "Muere en 1936 de un cáncer de laringe."
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11.12.2007 / 10:24 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Wer eine Yucca dekorieren will, muss Eier aufspiessen. Der Sprung Moses' vom gebeutelten Idealisten zum machthungrigen Politikvirtuosen ging so schnell, dass man beim Lesen des vorigen Abschnittes gar nicht anders konnte, als dauernd "das kann doch nicht wahr sein" zu denken. Das Parkaufsichtsgesetz, die folgenden Auseinandersetzungen um Enteignungen auf Long Island, die Kulmination im Büro des Gouverneurs aus einfachen Verhältnissen, der entrüstet "that's me you're talking about" ausruft, als einer der Millionäre sich über den "Rabble" beschwert, den der Verkehrsstrom eines Parkways ihm vor die Haustür spüle, der verzweifelte Versuch, den Patzer ins Witzige zu wenden: wo man denn heutzutage als Millionär noch Ruhe und Besinnlichkeit finden solle, die Aufforderung, es doch mal im Irrenhaus zu probieren, und die anschliessende Unterschrift unter der Enteignungsorder: es kann doch das alles nicht wahr sein.
Die beiden durch Räumungsklagen frei gewordenen Wohnungen hier im Haus rissen die ausserordentlich neugierige dicke Nachbarin kürzlich zur Ermahnung hin, ich möge dem Vermieter dringend von der erneuten Einquartierung von "Gahbage" abraten, es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand, wovon die kleine böse Frau redete. Gerne hätte ich an dieser Stelle ausgerufen "that's me your talking about" und irgendwas unterschrieben, aber es hätte ja gar keinen Sinn ergeben, und meine Unterschrift gilt nichts in these here parts. Deshalb dachte ich immer, solche Sätze gebe es im wirklichen Leben nicht, sondern nur im Film. Das stimmt aber gar nicht. Sie stehen auch in Büchern.
Nach dem ersten Schock geht es dann Schlag auf Schlag, und nach einer Weile hat man sich daran gewöhnt, wie Verfahren verzögert, Kritiker ausgeschaltet und kurzerhand und illegal Tatsachen geschaffen werden. Als Moses auf den entsetzten Eigentümer der bei Zielübungen von den unrechtmässigen Besetzern zerschossenen historischen Hütte trifft, und auf dessen empörtes Aufbegehren nur antwortet, er solle froh sein, dass aufs Hüttchen statt aufs Hauptgebäude geschossen wurde, weil die Hütte ja sowieso abgerissen werde, hat er die Zuständigkeit menschlicher Moral längst verlassen. Er fühlt sich nur noch sich selbst verantwortlich, denn er ist einer von denen, die Eier zerschlagen müssen, damit andere sich das Wohnzimmer eierschalfarben anstreichen können.
Liest man andererseits, wie er einer Gemeinde ihren Strand durch Wahlbetrug abnimmt, mit politisch erpressten Baugeldern zwei absurd luxuriöse Badehäuser und einen Wasserturm in Campanileform draufsetzt, und Hunderttausenden das Dasein dadurch verschönert, dann weiss man zuletzt nicht mehr, was man zuerst essen soll: das Omelett oder das Huhn.
Kai Schreiber / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen
10.12.2007 / 17:01 / Volker Jahr liest: Reise um die Welt (Georg Forster)

Forster am Südpol in AusgehuniformIm Januar 2006 hat Wolfgang Herrndorf im Rahmen der Wunderwaffenwoche in der Riesenmaschine seine Recherchen zum Haunebu vorgestellt. Mit diesen Reichsflugscheiben haben sich, so die braune Legende, Adolf und seine Nazischergen in den letzten Kriegstagen nach Neuschwabenland in die Antarktis abgesetzt, wo sie seither an ihrer Reconquistation basteln. Ich musste das seinerzeit nachgugeln respektive nachwikipeden und stiess, das Internet ist ein Dorf, beim Stichwort Neuschwabenland auf meinen alten Freund Karsten, der 1986 ein halbes Jahr auf der ersten Neumayer-Station der Bundesrepublik Deutschland am Südpol damit zubrachte, für seine Doktorarbeit Neuschwabenland zu kartieren und die Flugwege der Deutschen Antarktischen Expedition 1938/39 zu rekonstruieren. Nach seiner Rückkehr wusste er anschaulich über die Schwierigkeiten zu berichten, bei minus 40 Grad Celsius zu pinkeln, ohne sich irreparabel dabei zu beschädigen.
Während es inzwischen schon Neumayer II gibt und sogar Neumayer III bereits geplant wird, war 1993 Schluss mit der Georg-Forster-Station, die die DDR 1976 ins ewige Eis gestellt und nach dem Autoren des hochpreisigen Bandes benannt hatte. Sogar eine eigene Poststation richtete man dort ein und stempelte die Briefe der Expeditionsteilnehmer mit einem Forster-Stempel ab, und gerade habe ich beim Schreiben eine etwa fünfminütige Pause gemacht, um bei ebay für einen solchen Umschlag mitzubieten, man muss ja alles an Forsterfetzen ergreifen, was man kriegen kann und keine 79 € kostet. 1985 kam es, da der "Schlittenzug in einen Schneesturm" geriet, infolge "undichter Container zu einer Durchweichung und Verfärbung der Briefe", wie den Empfängern einer Charge mittels eines eigens gefertigten Sonderstempels auf dem Umschlag mitgeteilt wird.
Die Vereinnahmung Forsters in Form einiger Metallbaracken im ewigen Eis durch Ostberlin lag auf der Hand: Offene Sympathie mit der französischen Revolution einerseits, der erste Deutsche, der südpolaren Boden betrat andererseits, wenn man South Georgia, das die Forsters gemeinsam mit Cook entdeckten, wohlwollend dem antarktischen Territorium zuschlägt. Als Antwort auf eine mögliche 64.000 €-Frage von Günter Jauch nach dem ersten Deutschen am Südpol sollte man Georg Forster jedenfalls im Hinterkopf behalten, obwohl, eventuell ja auch seinen Vater Reinhold, genau weiss ich das erst, wenn ich das Antarktiskapitel im hochpreisigen Forsterband nachlesen kann.
Schlechte Nachricht: Ich habe erfahren, dass ich den hochpreisigen Forsterband nicht als Weihnachtsgeschenk bekomme, sondern zum Geburtstag.
Gute Nachricht: Ich habe am 24. Dezember Geburtstag.
Volker Jahr / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen
10.12.2007 / 03:23 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Foto, LizenzNach vier Nächten mit dem Teleskop verwachsen. Die Geräusche der Kuppel gehen nicht mehr aus dem Ohr. Der Tagesablauf strikt nach dem Sonnenlauf geregelt. Nachts von neun bis sechs beobachten, nachmittags eine Stunde kalibrieren, dann von vier bis sechs felsklettern. Danach Tiere beobachten von acht bis neun, verbleibende Lücken mit Schlafen und Essen füllen. Es ist ein so einfaches Leben, wenn man präzise Anweisungen (hell! dunkel!) befolgt.
Mittlerweile hat die taube Dana Halter mit ihrem Freund Bridger Martin ihren Namensdieb Dana Halter aufgesucht, der allerdings mittlerweile Lunte gerochen hat, und deswegen seit ein paar Tagen Bridger Martin heisst. Obwohl Bridger Martin glaubt, Dana Halter zu suchen, sucht er in Wahrheit Bridger Martin, schreibt TC Boyle. That's some weak-ass bullshit right there, man. In ruhigen Nachtphasen durch Kapitel 15 geblättert, Penrose: "We get a bit serious!" Faserbündel, Clifford-Bündel, komplexe Vektorbündel, Tangentenbündel – das ist doch Code, oder? Ist Bundle vielleicht Package? Oder Muscle? Some tricky gangsters, them theoreticians.
Diesen ganzen Quatsch gibt es hier jedenfalls nicht: Die Atacama ist das Reich der Vizcachas.
Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen
09.12.2007 / 23:58 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)

Typisches, nicht auf Kommunikation erbautes soziales SystemLangsam erhärtet sich der Verdacht, dass es nicht zum Verständnis Luhmanns beiträgt, Luhmann noch nicht gelesen zu haben. Wenn es heisst "soziale Systeme kommen nur durch Kommunikation zustande", müsste ich ja, während das Auge schon gierig die nächste Zeile verschlingt, im Geist blitzschnell erfolglos alle anderen Wege durchspielen, auf denen soziale Systeme für den Laien erzeugbar zu sein scheinen. Oder ich glaube dem Autor einfach, was mir viel Mühe erspart.
Ich meine auch herauszuhören, dass Kommunikation in Luhmanns Welt das grosse Ding ist. Wo sich "Entmutigungsschwellen" auftürmen, verschaffen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien "Erfolg". Die Freiheitsgrade der Kommunikation steigen mit den kommunikationsfähigen Themen und das System wird anpassungsfähiger, was die Evolution wahrscheinlicher macht. Auch diese ist immer gern gesehen.
Liebe als Passion ist ein Verhaltensmodell, das "das Fehlen eines Partners spürbar macht, ja zum Schicksal werden lässt." Ohne fehlenden Partner verliert man einfach schnell die Leidenschaft. Das Problem am Medium Liebe ist die "höchstpersönliche Kommunikation", mit der der Sprecher sich von anderen Individuen zu unterscheiden versucht, indem er über sich spricht oder "bei Sachthemen seine Beziehung zur Sache zum Angelpunkt der Kommunikation macht." (Statt ihr nach dem Mund zu reden?) Je absonderlicher der eigene Standpunkt, "desto unwahrscheinlicher das Interesse bei anderen." (Was für langweilige "Andere" müssen das sein, an die Luhmann hier denkt, und die an absonderlichen Standpunkten keine Freude haben! Wäre es absonderlich, das Gegenteil zu behaupten? Luhmann zu lesen wäre doch auch nur halb so schön, wenn es nicht so absonderlich wäre, die Liebe auf diesem Weg zu verstehen zu versuchen.)
Eines wird "erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts klar". Immer wieder eine einschüchternde Wendung, die einen dazu zwingt, sich alles, was man vom 18. Jahrhundert weiss, vor Augen zu führen, und das ist nicht viel. Ausserdem umfasst das 18. Jahrhundert ja, wie ich mir jedesmal neu klarmachen muss, die Jahre von 1700 bis 1799 und nicht die von 1800 bis 1899. Klar wird also "erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts", dass der Weltbezug des personalen Individuums mitindividualisiert wird. "Gibt sich der andere als weltkonstituierende Individualität, ist jeder, der angesprochen wird, in dieser Welt immer schon untergebracht", und damit vor die Alternative gestellt, "den egozentrischen Weltentwurf des anderen zu bestätigen oder abzulehnen."
In der Liebe wird die "laufende Mitbeachtung des Partners in allen Lebenslagen" erwartet. Das Tragische liegt in "der Notwendigkeit, auf Erleben mit Handeln zu antworten." Denn der Liebende muss handeln, um sich mit dem vom Geliebten lediglich Erlebten zu identifizieren. Und das ist wie der Wettlauf von Hase und Igel, nur dass der Igel sagt: "Ich bin schon weg!" Ständig identifiziere ich dem egozentrischen Erleben des Geliebten hinterher, ohne dadurch selbst von ihm erlebt zu werden. Auch nicht, wenn ich noch so sehr "die Chance des Zuvorkommens" nutze. (Am Ende wird er mich gerade dafür ablehnen, dass ich alle seine Wünsche antizipiere, weil das auch wieder langweilig ist.)
Ausserdem muss ich ja immer nachvollziehen "wie Input in ihm als Information wirkt und wie er seinen Output an die eigene Informationsverarbeitung wieder anschliesst." Um zu verstehen, wie der andere erlebt, muss ich seine Umwelt mitdenken, zu der ich selbst gehöre. "Verstehende Liebe ist kognitiv so strapaziös, dass es nahe liegt, sich ans Gefühl zu halten und dessen Instabilität in Kauf zu nehmen." Gefühle als Erholung von kognitiven Strapazen? Da lese ich doch lieber Luhmann.
Wörter, zu schön, um in der Soziologie zu versauern: dinganalog, Schwellenproblem
Jochen Schmidt / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen