25.11.2007 / 22:09 / Volker Jahr liest: Reise um die Welt (Georg Forster)

Jan Schumacher vom Eichborn-Verlag verkauft hochpreisige ForsterbändeWir schreiben den 25. November 2007, Sonntagvormittag Punkt 11.00 Uhr, und ich sitze im "Gleis 1", einer Lokalität im Kasseler Kultur-, früher Hauptbahnhof. Etwa vierzig Menschen haben sich an den ungeordnet im Raum platzierten Tischen verteilt. Einzelne Teelichter erleuchten die Szenerie, im Hintergrund lodert auf dem Grossbildschirm ein digitales Kaminfeuer. Vorn auf der leicht erhöhten Bühne haben vier Männer auf Ledersofas Platz genommen, rechts von ihnen steht eine Frau an einem Lesepult, links ein Tisch mit grossen grünen Büchern, der vorn mit Postern von Pflanzen und Tieren verkleidet ist. Eine Bedienung nimmt Bestellungen für Tee oder Latte Macchiato entgegen, letzterer wird vereinzelt als zu lauwarm reklamiert.
Man kennt diese Momente, in denen man zu zweifeln beginnt, wie in "Truman Show", als der Scheinwerfer vom Himmel und Jim Carrey vor die Füsse kracht: Ich schreibe hier seit zwei Tagen über meine vergeblichen Versuche, mir ein Exemplar von Georg Forsters "Reise um die Welt. Illustriert von eigener Hand" zu besorgen und habe von Georg Forster erst so richtig Notiz genommen, als ich sein Buch vor drei Wochen bei Thalia liegen sah, und dann steht vorgestern in der hiesigen Lokalzeitung, dass "hr 2 kultur", ein Hörfunkprogramm des Hessischen Rundfunks, am Sonntag gemeinsam mit der mir bis dato ebenfalls unbekannten Georg-Forster-Gesellschaft und dem Eichborn-Verlag eine Buchvorstellung samt Lesung und Podiumsdiskussion zu Georg Forsters "Reise um die Welt" veranstaltet und aufzeichnet, das Ganze bei freiem Eintritt und direkt vor der Haustür.
Nach einer Begrüssung durch Jan Schumacher vom Eichborn-Verlag (wir erinnern uns: der Mann, der mir kein Rezensionsexemplar schicken mochte), liest Eva Keller vom Staatstheater Kassel Passagen aus Forsters Buch. Wir hören Schilderungen vom Ankern in Tahiti, wo Nägel gegen Kokosnüsse und Brotfrüchte getauscht wurden, von Begegnungen mit Menschenfressern, wo Nägel gegen Köpfe getauscht wurden ("Wenn Sie sich etwas zu essen bestellt haben, warten Sie bitte noch ein Weilchen mit dem Verzehr", rät der Moderator), von Rheumaattacken aufgrund verschimmelten Schiffszwiebacks sowie von der Ankunft in England nach 1111 Tagen Weltumseglung. Zwischendurch diskutiert die Expertenrunde Forsters Leben und Wirken, darunter die sechs Jahre als Professor hier in Kassel, aber davon mag ich beim übernächsten Mal schreiben.
Am Ende verkauft Jan Schumacher vom Eichborn-Verlag Forsterbände für 79 € das Stück, und ich kann es aus der Nähe begutachten, das Objekt der Begierde. Bamberger Kaliko Fadenheftung, sagt mir mein Kennerblick, aber davon mag ich beim nächsten Mal schreiben.
Beim Bezahlen bittet mich die Bedienung am Tresen, die Tür anzuschubsen, wenn ich draussen bin, damit es nicht so kalt hereinzieht. Der schwarze Tee kostet 2 €, das entspricht einem Vierzigstel Forsterband.
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24.11.2007 / 13:48 / Volker Jahr liest: Reise um die Welt (Georg Forster)

Flughund oder Rochen? Wir werden es wohl erst im Dezember erfahren.12.11., E-Mail an den Eichborn Verlag
"Sehr geehrte Damen und Herren! Ich beabsichtige, im vor einigen Wochen eingerichteten Blog lesemaschine.de, redaktionell betreut unter anderem von so renommierten Autorinnen und Autoren wie Kathrin Passig (Ingo-Bachmann-Preis 2006), Dr. Aleks Scholz ("Wir nennen es Unwissen") und Sascha Lobo ("Lexikon des Arbeiterkampfs"), das in Ihrem Verlag erschienene Buch "Reise um die Welt. Illustriert von eigener Hand" von Georg Forster über einen Zeitraum von mehreren Wochen zu besprechen. Verschiedene Autoren stellen hier in Form einer fortlaufenden Kolumne portionsweise zusammengefasst und kommentiert einzelne Werke vor, die die Leserschaft des Blogs zum Mitlesen animieren soll. Die täglichen Zugriffszahlen sind bereits kurz nach dem Start explodiert und liegen im hohen fünfstelligen Bereich, es existiert ein direkter Link zu Amazon, der den bislang vorgestellten Büchern exorbitante Steigerungen ihrer Verkaufszahlen beschert hat. Könnten Sie mir für den genannten Zweck ein Rezensionsexemplar überlassen? Herzlichen Dank schon im voraus! Volker Jahr"
21.11., Antwort von Jan Schumacher, Eichborn AG, Presse
"Lieber Volker Jahr,
vielen Dank für Ihr Interesse an Georg Forster. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass unser Kontingent an Rezensionsexemplaren dieses ja doch recht hochpreisigen Titels inzwischen komplett ausgeschöpft ist. Wenn Ihnen in nächster Zeit ein anderer Titel aus unserem Haus auffällt, den Sie gerne in die Lesemaschine einspeisen wollen (eine schöne Seite übrigens), dann mag ich gerne weiterhelfen.
In diesem Fall bitte ich um Verständnis – mit besten Grüssen aus Frankfurt -
Jan Schumacher"
Immerhin darf ich die Fotos und Bilder auf der Presseseite frei nutzen, steht im Signaturfeld. Mir gefällt auch das "weiterhelfen mögen", und die Redaktion wird sich über das Lob für die Lesemaschine sicher freuen, aber nö, es muss schon Forster sein, kein "Yoga für Kühe" oder "aldidente".
22.11.:
Was tun?
Alternative A: Ladendiebstahl
Vorschlag von Kathrin Passig, "am besten bei Thalia". Verworfen wg. da müsste ich schon ein kleines Zelt anhaben, um diesen Ziegel unentdeckt rausschmuggeln zu können. Ausserdem "Fahrraddiebe" von de Sica als traumatisches Fernseherlebnis vor vielen Jahren.
Alternative B: Weihnachtswunschzettel
Geplanter Gesprächsaufbau in etwa so:
"Hase (Steuerklasse III), du freust dich doch immer so über meine tollen Geschenke und möchtest dann wissen, was ich mir wünsche, und beschwerst dich dann, wenn mir nichts einfällt!? Dieses Jahr wüsste ich gleich zwei Sachen, ein Fusssprudelbad und...!"
23.11.:
Das Prokrastinationsbuch für Eichborn, für das Schumacher mir nach kurzer Lektüre der Lesemaschinenseite in seiner Folgemail die Autorenschaft anbot ("Riesencoup, wir bringen das vor diesen beiden Berlinern raus, den Vorschuss verrechnen wir mit einem Forster-Exemplar"), gestern und vorgestern nacht in einem Gewaltakt schon zu drei Vierteln fertiggeschrieben.
Volker Jahr / Dauerhafter Link / Kommentare (8) / Buch kaufen und selber lesen
24.11.2007 / 09:08 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)
Kommen Sie mal kurz rein, Chadwick, machen Sie die Tür zu, setzen Sie sich da mal hin, ich hab Ihnen was zu sagen. Wie oft haben wir jetzt zusammengesessen und überlegt, wie wir das besser machen können? Wie wir beide gemeinsam das besser machen können? Ich will es Ihnen nochmal ganz ruhig erklären. Unsere Zusammenarbeit besteht darin, dass Sie mir guten Input liefern und ich daraus guten Output mache. Das nennt man Wertschöpfung. Ist doch ganz einfach: guter Input, guter Output. Und was liefern Sie? Nichts. Sie erfinden diese Tänzerinnen, und da dachte ich mir, hey, nicht schlecht, das wird noch ganz saftig. Und? Vielleicht mal ein paar Titten von den Ballerinen? Nein, nein, der feine Herr Chadwick lässt sich von den kleinen Schlampen den Ripple vollheulen. Wer von uns beiden steht denn dreimal in der Woche da draussen auf der Bühne? Sie oder ich? Wer von uns beiden muss dem Aufsichtsrat erklären, dass wir Ballerinen haben, aber keine Titten? Und dann Ihre Reise nach Polen. Warschau, Treblinka, Auschwitz. Was fällt Ihnen dazu ein? Ripple trinkt bulgarischen Wein und latscht durch den Park. Ich hab hier vier oder fünf andere vor der Tür stehen, die machen daraus am Sonntagnachmittag einen Booker Prize und den Friedenspreis noch obendrauf. Und dann Ihre dauernden Umzüge. Wissen Sie eigentlich, was das kostet? Da gibts andere, die machen das für die Hälfte. Gucken Sie sich mal die Passig an. Die schenkt Schulkindern eine Stulle, damit sie ihr beim Hugendubel irgendein Buch klauen, dass sie ihren täglichen 20-Seiten-Schuss kriegt. Oder der Volker Jahr, der hat noch nicht mal was zu lesen und performt trotzdem. Ach ja, und Ihr Übersetzer, dieser Klaus Berr, der übersetzt hier "das sind diejenigen, die ich am öftesten sehe". Öftesten! Was soll denn das werden? Ferien in Öftesten? Noch alles gut, Chadwick? Ich sag es Ihnen jetzt das letzte Mal: das muss alles viel besser werden, sonst trennen sich hier unsere Wege. Also.
Bruno Klang / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen
23.11.2007 / 17:56 / Julia Schulte-Ontrop liest: Trivialroman (Hans Joachim Schädlich)

Who's the black sheep?"Have you seen the little piggies
Crawling in the dirt
And for all the little piggies
Life is getting worse
Always having dirt to play around in"
(George Harrison)
Ein Tag voll von Nichts neigt sich dem Ende entgegen. Ich giesse mir eine Tasse Teewurst ein, setze mich vor die knisternde Heizung und lasse meine Gedanken um das Szenario im Buch flackern:
Die Stimmung in der Bar ist zunehmend angespannt. Man wartet – bereits seit zwei Tagen – auf etwas von aussen Kommendes, das Befreiung oder das Ende bedeutet: Eine Information von Ratte, einen Hinweis von Wanze, eine Nachricht vom Chef, ein plötzlich auftauchendes Mordkommando, einen Wink des Schicksals, Fügung.
Eine Situation, in der niemand sagen kann, ob die Bar, in der man sitzt und die eigentlich ein Bunker ist, Schutzraum oder eine Falle ist. Eine missliche Lage also insgesamt, in der sich die Nervosität aller Anwesenden in die eingefahrenen Hierarchien frisst und sie zersetzt:
Dogge, eigentlich Bluthund und Kopf der Bande säuft sich in den Zustand einer wehleidigen Weinerlichkeit, legt sich auf den Boden und schläft ein wie ein Zerberus, der den Schwanz einzieht, statt die Zähne zu fletschen. Enttäuscht darüber sind Biber, Qualle und Feder einmal mehr mit ihrer Hilflosigkeit konfrontiert. Doch die Einsicht in die eigene Unfähigkeit zu handeln weicht bald dem Gefühl, dass man nur gemeinsam aus der Bar und voneinander loskommt. Und weil ein schwarzes Schaf die Moral der Truppe stärkt, wird Dogges Verhalten kurzerhand als disziplinloses Versagen und damit als Verrat deklariert. Der so ausgemachte, schlafende Verräter wird auf dem Boden gefesselt.
Interpretatorische Kurzfassung: Eine "geschlossene Gesellschaft" wartet auf Godot und vetreibt sich die Zeit mit gruppenpsychologischem Gummitwist. Feder, der Ich-Erzähler, erscheint dabei zunehmend als moralisches Leichtgewicht. Ein Ja-Sager, der nichts tut, aber auch nichts dagegen. Und wenn er zwischendurch einen Blick über die Schulter, in die Vergangenheit wirft, werden die Konturen seiner Profillosigkeit nur umso sichtbarer. Trotz aller unsympathischen Windigkeit ist er aber auch noch so stinknormal, dass nicht zu erwarten ist, dass seine Charaktermetamorphose in der kranken Wahnhaftigkeit eines Charles Manson endet. Beatles hin oder her!
Julia Schulte-Ontrop / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen
23.11.2007 / 16:39 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

AmazonlinkGrassmann-Algebra führt vermutlich in den allermeisten Gehirnen nur zu einem Fragezeichen, bei mir jedoch führt es zu EKU Gross (und von dort zu einem Fragezeichen). EKU Gross, bei dem ich 1996/97 cirka zwei Semester Funktionentheorie aussitzen durfte, inklusive einer Vordiplomsprüfung, in der ich auf rätselhafte Art und Weise alles wusste*. EKU Gross ist ein kleiner, sehniger, sympathischer Mensch, der nach Abschluss von stundenlangen Beweisen oft minutenlang mit grossen Augen durch die Reihen blickte, auf der Suche nach Leben.
Zufällig ist dies genau auch die Tätigkeit, die mich jeden Abend mehrere angestrengte Sekunden kostet, nämlich wenn ich ins obere Stockwerk des Doppelstockbusses steige, der zurück ins Dorf fährt. Bei schlechtem Timing teilt man die Etage mit amerikanischen Touristen (später Nachmittag) oder besoffenen Russen (später Abend), bei gutem Timing ist man allein. Ich sitze hinter zwei grossen verglasten Busaugen, die deprimiert in die nasse, dunkle Welt starren:
Oder wenn ich in meinem Schädel bin, hinter den Augen stehe; und hinausgeschaut durch die Linsenhaut, sag mir, was ich dann sehe! Schau ich aus mir raus, schau ich in mich rein? Liegt die ganze Welt nur in mir zum Schein? Existiere ich, oder bin ich tot? Bin ich Teil der Welt, oder bin ich Gott? (Knorkator)
Oder ein Bus? Themawechsel. Spinoren gehören zu der abstrakten Klasse von Dingen, die die Wikipedia nicht erklären kann. Spinoren sind Objekte, die, dreht man sie einmal komplett um, sich in Negativum verkehren. Man nehme einen Gürtel, klemme seine Schnalle in ein dickes Buch ein und fixiere das andere Ende irgendwie. Dann drehe man das Buch einmal um 360 Grad um. Wenig überraschend: Das Gürtel-Buch-System (eine Art Spinor) sieht anders aus als vorher, denn zwar liegt das Buch wieder genauso da wie vor der Drehung, aber der Gürtel ist verdreht. NOW: Man drehe das Buch einfach nochmal in dieselbe Richtung wie vorhin um, wieder um 360 Grad. Wenn man jetzt den Gürtel um das Buch herumführt, dann – dann löst sich die Verdrehung auf und vor einem liegt Buch und Gürtel, als wäre die ganze Dreherei nicht geschehen. Einen Spinor also muss man zweimal komplett umdrehen, um ihn wieder in seinen Ausgangszustand versetzen zu können. Besser noch: Der Gürtel-Buch-Spinor weiss, ob ich ihn einmal oder zweimal verdreht habe.
Es war quälend zu warten, bis ich es zu Hause ausprobieren konnte, denn schottische Busse sind mit Überwachungskameras ausgestattet, so dass man sich ungern den Gürtel vom Leib reisst. Vermutlich wird meine Wohnung auch überwacht und die anschauliche Demonstration von Spinoren mit Hilfe von Gürtel und Buch gibt es jetzt auf Video im britischen Geheimdienst, wurde auch Zeit. Welche Erleuchtung! Es geht gar nicht darum zu verstehen, was Spinoren sind und wozu man sie braucht, das kann man alles erstmal vergessen. Wichtig ist hier lediglich, dass etwas komplett Absurdes – ein Gürtel kann gerade von ungerade unterscheiden – mit denkbar geringem Aufwand verständlich wird. Das ist das Beste an Physik – man muss sich nie etwas merken, einmal verstehen reicht. Besser als Biologie oder so allemal.
Seltsame Dinge: Quaternionen, die auf drei Dimensionen verallgemeinerten komplexen Zahlen.
* Gross prüfte streng nach Skript, er fing morgens mit den einfachen Dingen an und fragte sich zum Nachmittag hin zum unübersichtlichen hinteren Teil durch. Folglich nahm ich strahlend den Prüfungstermin früh um acht, bereitete mich nur auf die ersten vier Seiten vor und stand entsetzlich früh auf. Catch me if you can, Grassmann-Algebra.
Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen