23.11.2007 / 16:39 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Lederne Zungen im Buch (198-216)


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Grassmann-Algebra führt vermutlich in den allermeisten Gehirnen nur zu einem Fragezeichen, bei mir jedoch führt es zu EKU Gross (und von dort zu einem Fragezeichen). EKU Gross, bei dem ich 1996/97 cirka zwei Semester Funktionentheorie aussitzen durfte, inklusive einer Vordiplomsprüfung, in der ich auf rätselhafte Art und Weise alles wusste*. EKU Gross ist ein kleiner, sehniger, sympathischer Mensch, der nach Abschluss von stundenlangen Beweisen oft minutenlang mit grossen Augen durch die Reihen blickte, auf der Suche nach Leben.

Zufällig ist dies genau auch die Tätigkeit, die mich jeden Abend mehrere angestrengte Sekunden kostet, nämlich wenn ich ins obere Stockwerk des Doppelstockbusses steige, der zurück ins Dorf fährt. Bei schlechtem Timing teilt man die Etage mit amerikanischen Touristen (später Nachmittag) oder besoffenen Russen (später Abend), bei gutem Timing ist man allein. Ich sitze hinter zwei grossen verglasten Busaugen, die deprimiert in die nasse, dunkle Welt starren:

Oder wenn ich in meinem Schädel bin, hinter den Augen stehe; und hinausgeschaut durch die Linsenhaut, sag mir, was ich dann sehe! Schau ich aus mir raus, schau ich in mich rein? Liegt die ganze Welt nur in mir zum Schein? Existiere ich, oder bin ich tot? Bin ich Teil der Welt, oder bin ich Gott? (Knorkator)

Oder ein Bus? Themawechsel. Spinoren gehören zu der abstrakten Klasse von Dingen, die die Wikipedia nicht erklären kann. Spinoren sind Objekte, die, dreht man sie einmal komplett um, sich in Negativum verkehren. Man nehme einen Gürtel, klemme seine Schnalle in ein dickes Buch ein und fixiere das andere Ende irgendwie. Dann drehe man das Buch einmal um 360 Grad um. Wenig überraschend: Das Gürtel-Buch-System (eine Art Spinor) sieht anders aus als vorher, denn zwar liegt das Buch wieder genauso da wie vor der Drehung, aber der Gürtel ist verdreht. NOW: Man drehe das Buch einfach nochmal in dieselbe Richtung wie vorhin um, wieder um 360 Grad. Wenn man jetzt den Gürtel um das Buch herumführt, dann – dann löst sich die Verdrehung auf und vor einem liegt Buch und Gürtel, als wäre die ganze Dreherei nicht geschehen. Einen Spinor also muss man zweimal komplett umdrehen, um ihn wieder in seinen Ausgangszustand versetzen zu können. Besser noch: Der Gürtel-Buch-Spinor weiss, ob ich ihn einmal oder zweimal verdreht habe.

Es war quälend zu warten, bis ich es zu Hause ausprobieren konnte, denn schottische Busse sind mit Überwachungskameras ausgestattet, so dass man sich ungern den Gürtel vom Leib reisst. Vermutlich wird meine Wohnung auch überwacht und die anschauliche Demonstration von Spinoren mit Hilfe von Gürtel und Buch gibt es jetzt auf Video im britischen Geheimdienst, wurde auch Zeit. Welche Erleuchtung! Es geht gar nicht darum zu verstehen, was Spinoren sind und wozu man sie braucht, das kann man alles erstmal vergessen. Wichtig ist hier lediglich, dass etwas komplett Absurdes – ein Gürtel kann gerade von ungerade unterscheiden – mit denkbar geringem Aufwand verständlich wird. Das ist das Beste an Physik – man muss sich nie etwas merken, einmal verstehen reicht. Besser als Biologie oder so allemal.

Seltsame Dinge: Quaternionen, die auf drei Dimensionen verallgemeinerten komplexen Zahlen.

* Gross prüfte streng nach Skript, er fing morgens mit den einfachen Dingen an und fragte sich zum Nachmittag hin zum unübersichtlichen hinteren Teil durch. Folglich nahm ich strahlend den Prüfungstermin früh um acht, bereitete mich nur auf die ersten vier Seiten vor und stand entsetzlich früh auf. Catch me if you can, Grassmann-Algebra.

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Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Stefan:

Schön, in der Lesemaschine den Grassmann-Algebren wiederzubegegnen!
Hier ist ein Link zu einem Java-Applet zu Diracs immer wieder verblüffendem Gürtel-Trick:
http://gregegan.customer.netspace.net.au/APPLETS/21/21.html

25.11.2007 / 01:09

Kommentar #2 von Kaltmann:

Stefan: Danke für den Link. Ein Applet sagt mehr als ca. 150 Worte.

26.11.2007 / 17:27