15.11.2007 / 10:24 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Pourquoi MOI?

1996 las Heiko Michael Hartmann in Klagenfurt aus dem Roman MOI.

Montag, den 2. Januar
Warum ich? Warum ausgerechnet ich?

Moi? Wie "Pourquoi moi"?
Mais non, M O I ist der Name der Infektionskrankheit, an der der Ich-Erzähler leidet.

Ein Tagebuch also, aber für Klagenfurt hat der Autor nur einen Tag der Aufzeichnung ausgesucht, den ersten Arbeitstag eines neuen Jahres. Den Tag, an dem der Ich-Erzähler seine Diagnose "MOI" erhält. Die Krankheit wird ihn, so der Arzt, "erst Ihre Glieder und dann Ihr Leben kosten."

Krankheitsthema, Defekthascherei, dafür gebe ich sonst Minuspunkte, aber MOI ist Siechtum vom Feinsten.

Ab der dritten Seite Bonanzazitieren. Der Krankenhauszimmernachbar (auch MOI) lässt den Fernseher laufen. Isoliertes Bonanzazitieren kann man machen. In Verbindung mit Geha, Pelikan und Raider wäre Bonanza allergen.

MOI, gibt es das? Ich weiss vom Skurrilitätensurfen, dass es Infektionskrankheiten gibt, die zu Amputationen auffordern. Ich pschyrembel das mal eben durch. Meningokokken, Staphylokokken, Streptokokken, die können dazu führen, dass alle Arme und Beine amputiert werden müssen. Grusel. MOI ist keine Kokke, aber mit Virus geht es bestimmt auch. Medizinisch durchführbar ist diese Krankheit also. Zumindest, was die Arme und Beine angeht. Penis und Kehlkopf müssen halt aus dramaturgischen Gründen ab.

"Cartright", lese ich, die heissen doch Cartwright. Der Mann kann das nicht mehr nachsehen, das sehe ich ihm nach. Denn inzwischen (Zeitsprung für Klagenfurt, im Buch ist sicher jede Amputation beschrieben) liegt er ohne Arme, Beine, Zähne, Haare, Penis und Kehlkopf im "P-Raum" und phantasiert, dass die Medizinstudentin sich ohne Hose auf seine Nase setzt, "die höchste Erhebung meines eigentlichen Zeugungsgliedes, des Kopfes!"

Hat er am 2. Januar zunächst alles sehr akkurat in sein Tagebuch geschrieben, kirchhofft er nun zunehmend herum:

Drehma? Welchen Schalter hatten diese Studentenlümmel waren im Begriff "Drehma" steckt ja schon kreisten mir wurde längst sah ich vorher abgerissene Bilder – danach, wie woanders. glaubte ich auf einmal tauchte der zunächst unwahrscheinliche Gedanke, dass sie, die Studentin, mir über die Nase tastet, wurde mir, je mehr ich überlegte, zur Gewissheit: Ja, wünschte ich mir sogar, als ob sie gefühlvoll daran riebe!

Die Krankheit ist schön ausgedacht, der Erreger kommt aus einer tadschikischen Baumwollplantage und wird über 50-Euro-Scheine übertragen. Deshalb sind vor allem Kassierer und Bankangestellte betroffen. Geschrieben 1996, handelt es sich um einen Zukunftsroman. Euro-Bargeld gibt es seit 1. Januar 2002. Ich ergänze das Datum oben: frühestens 2. Januar 2006. Der erste auf einen Montag fallende 2. Januar nach Einführung des 50-Euro-Scheines. Laut Verlag (Hanser) spielt das Buch "im Jahre Null", aber da war der 2. Januar ein Sonntag und das Geld noch nicht da.

Wertung:
Der Wettbewerbsbeitrag enthält einige sehr schwierige Elemente, komische Dialoge etwa, Krankheit und Sex. Sexszene ist quasi der Dreifachaxel unter den Stoffen. Nasensex Vierfachaxel. Alles sauber gelöst. Sonderpunkt "tiefe Tragik" dafür, dass der Held ohne Arme, Beine und Stimme im Bett liegt und ein halb gelutschtes Bonbon an der Backe kleben hat. Kleiner Kalauerabzug für den Kaufhauskassierer Benno Karstadt. Die Jury vergab dafür das 3Sat-Stipendium (6000 DM).

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Das war ein schneller Text. Deshalb habe ich Zeit, noch etwas über das Bachmannjahr 1996 zu plaudern. Das weiss ich alles aus dem Buch "Klagenfurter Texte 1996". Alban Nikolai Herbst bekam keinen Preis für einen Kosmonautentext, genau wie Jochen Schmidt 2007: In jeder Abstimmung ein paarmal genannt, und am Ende doch nichts. (Merken: Liste anlegen für Texte, die im Weltraum spielen.) Gut liefen Texte über Männer, die bewegungsunfähig im Krankenhausbett sinnieren (Liste für Mobilitätsbehindertentexte anlegen).

Martin Ebel, der seit 2004 Mitglied der Jury ist, schrieb damals für die "Badische Zeitung": "Blut muss fliessen, wenn nicht aus, so doch in den Texten". Ich unterstütze das, möchte aber hinzufügen, dass in vier Jahren kein von Ebel eingeladener Kandidat in Klagenfurt einen Preis gewonnen hat.

Wettlesen 1996