14.11.2007 / 03:02 / Michaela Gruber liest: Über die Liebe (Stendhal)

Über die Liebe

Mein Lieblingsroman ist Stendhals "Rot und Schwarz". Schon beim ersten Lesen, mit Anfang Zwanzig, war ich von der Hauptfigur Julien Sorel fasziniert, "dessen innere Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse und sein Idealismus mit gleichzeitiger Korrumpierbarkeit und dem Willen gesellschaftlich aufzusteigen einhergehen."*

Und der dabei nicht mal unsympathisch wirkt. Präzise geschildert, machte mir das Buch eine Haltung bewusst, die so in meinem bisher klaren Weltbild nicht denkbar gewesen wäre. Jetzt musste ich mich fragen, ob ich sie nicht selbst gelegentlich lebte.

Wie auch immer, Stendhal war toll und ich wollte mehr. Mit seinem zweiten grossen Roman und mir wurde es aber irgendwie nichts – über die Jahre immer wieder zur Hand genommen, überkommt mich jedes Mal nach einigen Seiten eine grosse Müdigkeit, und ich kann den Sätzen nicht mehr folgen. Das könnte damit zu tun haben, dass mich das Thema, also Kriege im allgemeinen und die Napoleonischen im besonderen, nicht so interessiert. Im Grunde fängt es schon beim Titel an: "Die Kartause von Parma". Parma mit Melone, gut, aber was zum Teufel ist eine Kartause? Mag sein, dass da beim Leser des frühen 19. Jahrhundert die Assoziationen nur so sprudelten, bei mir bleibt der innere Bildschirm dunkel.

Deshalb bin ich sehr froh, dass ich jetzt noch ein weiteres Buch von ihm entdeckt habe. "Über die Liebe" das ist ein Titel nach meinem Herzen, mit "Liebe" kann ich was anfangen. Der Leser von damals übrigens nicht, das Buch war ein beispielloser Misserfolg, seit der Veröffentlichung 1822 bis zum Jahr 1833 wurden genau siebzehn Exemplare verkauft. Stendhal selbst hat sich das, ganz Türsteher des eigenen exklusiven Clubs, in einem späteren Vorwort schönzureden versucht: ** "Ich schreibe allein für hundert Leser, und zwar für jene unglücklichen, liebenswerten und anziehenden Gemüter, die ein Leben frei von Heuchelei und Voreingenommenheit führen." Ich werde das Buch mit dem schönen Titel trotzdem lesen.

* Walter Hoyer in "Über die Liebe" von Stendhal, Inselverlag, 1975. Das Buch hat auf fast jeder der 387 Seiten eine Fussnote, ich übe das schon mal.

** Vorwort zur zweiten Auflage 1942. Stendhal hätte unterstrichene Links sicher praktisch gefunden.


13.11.2007 / 18:05 / Murmel Clausen liest: The Kid Stays in the Picture (Robert Evans)

To see or not to see (1-1)


Das sehen Filmschaffende, wenn sie Proust lesen
Wir Filmschaffenden lesen Bücher nicht wie normale Menschen, denn wir haben eine ausserordentliche Gabe, die uns hilft, während des Lesens Filmideen zu kreieren. Die bildliche Vorstellungskraft. Wir können uns ein innerliches Bild von einem Garten machen, den zum Beispiel ein Herr Proust beschreibt. Vor unserem inneren Auge sehen wir den Garten tatsächlich. Das ist ein enormer Vorteil gegenüber dem Normalleser, der lediglich die Tatsache wahrnimmt, dass 30 Seiten lang Wörter zum Thema Garten stilvoll aneinander gereiht wurden. Er legt daraufhin das Buch weg, weil ihm langweilig geworden ist, wir hingegen überlegen, eine Gartendokumentation zu machen, verwerfen die Idee und lesen auch nicht weiter.

Daher kommt auch mein Problem mit Büchern über Hollywood: ich habe zu viele Filme nicht gesehen und dementsprechend bei ihrer Erwähnung kein Bild vor Augen. Deswegen habe ich "Easy Riders, Raging Bulls" von Peter Biskin abgebrochen, der auf jeder Seite mindestens zwei Filme aufführt, von denen ich in meinem Leben nichts gehört, geschweige denn gesehen habe. Robert Evans hingegen hat bis 1993 ausnahmslos Filme produziert, die ich kenne. The Godfather, Rosemary's Baby, Chinatown, Marathon Man, Popeye, The Cotton Club, The Two Jakes und Sliver. Was danach kam, ist nicht der Rede wert, zumindest nicht hier, denn sein Buch erschien 1994. Ich gehe also davon aus, dass ich während der Lektüre nicht ständig zur Videothek rennen muss, um mich neben Evans Autobiographie auch noch mit seiner Filmographie vertraut zu machen.

Evans leitet sein Buch mit dem Satz ein:

"There are three sides to every story: yours ... mine ... and the truth."

Im Gegensatz zu Ihnen sehe ich Robert Evans nun vor mir. Supatopcheckerbunny meets Hollywood. Gute Filmidee.

1 von 462 Seiten

Murmel Clausen / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


13.11.2007 / 12:03 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Wir werfen mit euren Knochen die Äpfel von den Bäumen (175-308)

Jetzt muss ich aber mal von dieser negativen Einstellung herunter! Das Buch habe ich mir selber ausgesucht, und es hat 24 Euro 90 gekostet. Wäre ja gelacht, wenn wir uns den Herrn Ripple nicht schönlesen!

Sprache. Das Buch liest sich nicht schwer, aber etwas hinderlich sind die weitgreifenden Appositionen, die einen Satz immer länger und länger drücken. Ob das auf die Übersetzung zurückzuführen ist, kann ich leider nicht sagen. Ich habe einmal nachgeschaut, was der Übersetzer Klaus Berr sonst noch übertragen hat, und ich war recht erstaunt: Michael Crichton, Noah Gordon, Arthur Hailey und Kathy Reichs, die mit den Knochenromanen. Wie ist das eigentlich mit Übersetzern? Kann man sich die Karriere mit Unterhaltungsliteratur versauen oder ist das den Verlagen egal, heute Crichton, morgen Pynchon?

Jetzt aber wieder zurück zum Text. Teil 1 ist nach 227 Seiten beendet. Tom Ripple notiert dazu:

Bis hierher bin ich also gekommen. Ich weiss noch immer nicht, was das Ganze soll, aber ziemlich lange gedauert hat es schon.

Schön gesagt. Teil 2 setzt 10 Jahre später ein. Mrs. Ripple hat mit den Kindern ihren Mann verlassen, Tom Ripple ist Frührentner und wohnt mittlerweile in Suffolk. Davon war ich ehrlich überrascht: mühsam hat er die Romanumgebung eingerichtet, und dann ist alles weg und der Roman muss vollständig neu möbliert werden. Das heisst, die Kinder kommen auch in Teil 2 an, dazu auch mal ein längeres Zitat, recht typisch für den Chadwickschen Stil:

..., dass Kinder immer weniger an einen denken (von einem halten), als man selber an sie denkt (von ihnen hält). Und warum auch nicht, werden sie doch zu einem immer grösseren Teil der eigenen Vergangenheit, je weniger Zukunft man selber hat, und man selber wird zu einem immer kleineren Teil ihrer Zukunft, die wiederum zu ihrer Vergangenheit wird, während zu diesem Prozess ständig andere hinzukommen, die einen selber zunehmend herausdrängen.

Genau, liebe Eltern, und irgendwann einmal, dann ist euer Anteil nämlich null.

Zustand: Warmgelesen. Was ist wohl in dem vergessenen Koffer von Nanny Phipps, der Vormieterin in Suffolk?
Prophezeiung: Der neue Verlobte der Tochter Virginia, das ist ein ganz schlimmer Finger.

308 von 928 Seiten

Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


13.11.2007 / 03:57 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Splendid isolation (89-97)


Descartes (weiss & wahrhaftig), isoliert. (Bild: Jono Rotten)
Als nächstes kommt das sogenannte Wachsbeispiel auf den Seiten 89 – 97 in der Reclamausgabe (S. 22 – 26 Meiner-Ausgabe). Dazu können Sie sich selbst was zusammenreimen, ich muss jetzt noch etwas anderes loswerden.

Da sind, finde ich, zwei ziemlich ungeheuerliche Bemerkungen im Descartestext. Erstmal behauptet er, dass nichts evidenter und leichter erkennbar sei als der eigene Geist. Er will damit sagen, dass es ein naives Vorurteil sei, dass die empirische Erkenntnis evidenter sei als die geistige – geschenkt. Es ist evidenter, dass ich denke, als dass ich irgendetwas so wahrnehme, wie es ist. Das sollte bei der ganzen Zweifelsmaschinerie in der 1. und 2. Meditation klar geworden sein. Aber leichter, ist das Geistige wirklich leichter zu erkennen? Sowas kann doch nur ein Mathematiker wie Descartes behaupten. Das sind Leute, die dann auch an Tafeln unter verzwickte mathematische Sätze schreiben: "Beweis: Trivial." – Und auch sonst sind Geist und Denken nicht immer so leicht transparent. Wissen Sie immer so genau, was Sie gerade denken? Ich nicht.

Dann behauptet Descartes noch, dass der Geist immer denke. Der Geist hat keine Aussetzer. Interessanterweise ist das eine These, die man weder beweisen noch widerlegen kann. Wenn man z.B. einen Filmriss hat, kann es ja dennoch sein, dass man in der Zeitspanne, die dem Gedächtnis fehlt, sich angeregt unterhalten hat oder komplexe Träume hatte. Aber was ist, wenn ich mich wirklich mal bewusstlos gesoffen habe und der res cogitans die Lichter ausgehen? Höre ich dann auch auf zu existieren, ich, dessen Existenz darin besteht, eine res cogitans zu sein? Darf man mich im Zustand tiefsten Rauschkomas ohne moralische Bedenken ins Jenseits befördern oder ähnliches? Meines Wissens nach taucht bei Descartes das erste mal in der Geschichte der Gedanke auf, das Wesen des Geistes bestehe in seinem aktuellen Vollzug. Vor Descartes war der Geist auch noch etwas Potenzielles (Stichwort intellectus possibilis in der Scholastik). Später wird Geist dann auch noch auf reines Bewusstsein reduziert (das ist er bei Descartes noch nicht). Heute diskutiert man fast nur noch über Bewusstsein, wenn man vom Geist-Körper-Problem spricht. Das sind massive Bedeutungsverschiebungen von Worten im Laufe der Geschichte, die man immer im, ähm, Geiste behalten sollte, wenn über 'Geist' diskutiert wird.1

Damit aber genug zur 2. Meditation. Was ist das Fazit bis jetzt? Der Vater der Neuzeit suchte die absolute Wahrheit, zweifelte alles an, was sich auch nur im Geringsten anzweifeln lässt, fand sein Ich als absolut wahrhaftig existierend, und sitzt nun da in seiner splendid isolation. Hände und Taschen sind leer, die Welt ist weggezweifelt, der eigene Leib ist weggezweifelt, Wissenschaften und Mathematik sind weggezweifelt, alles ist weggezweifelt. Sackgasse. Wie Gilbert Ryles 'Geist in der Maschine', ohne Ausweg. Er kann jetzt mit sich selbst Scrabble spielen, sein Weg als Wissenschaftler scheint hier zu Ende sein. Wie findet er wieder raus in die Welt, wenn er nur sein Ich zur Verfügung hat?

1 Z.B. ist auch das klassische Leib-Seele-Problem nicht dasselbe wie ein Geist-Körper-Problem oder gar ein Bewusstsein-Gehirn-Problem.

97 von 229 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


12.11.2007 / 19:13 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Italo Svevo: Zeno Cosini (27-46)

Wie fast alle bisher hier gelesenen Bücher habe ich auch "Zeno Cosini" auf Empfehlung von Herrn Rutschky gekauft. Es soll darin, so hört man, um, nun ja, das Thema mit P. gehen, und tatsächlich versucht der Erzähler auf den ersten Seiten bereits so tapfer wie vergeblich, das Rauchen aufzugeben. Betrachten wir also heute das Unterthema "Gute Vorsätze".

Die Wände in Cosinis Wohnungen sind über und über mit den Daten bedeckt, an denen er seine ein für allemal letzte Zigarette geraucht hat. Aber lernt er daraus? Natürlich nicht. Ein Merkmal herausragender Prokrastinierer scheint zu sein, dass sie eine überaus verwegene Vorstellung von der Selbstdisziplin hegen, die sie gleich ab morgen aufbringen werden. Wenn man öfter als, sagen wir, dreimal am selben Problem gescheitert ist, drei sinnlose Diäten gemacht, sich dreimal vorgenommen hat, ab morgen immer sofort nach dem Essen abzuspülen – warum ist es dann so schwer, einzusehen, dass der Lösungsansatz grundsätzlich verfehlt ist? Ich habe dazu bisher noch nicht einmal eine Theorie, werde mir aber bald eine ausdenken.

Gestern ging es um Dinge, die man eigentlich tun sollte, aber nicht tut. Heute geht es um Dinge, die man unterlassen sollte, aber trotzdem tut. Beides wäre mit dem lateinischen Gerundivum leichter ausgedrückt, und irgendwer müsste mal untersuchen, ob die Blüte des Römischen Reichs damit zu tun hatte, dass To-Do-Listen dort ihren Niederschlag in der Grammatik gefunden haben. Wo ist die Sprache, die eine gesonderte Wortform für Tätigkeiten hat, die man ebensogut unterlassen kann, einen Spezialausdruck für Egales? Aber auch das Litauische verfügt über ein Gerundivum, das dem Land bisher nicht viel geholfen hat, deshalb zurück zu den praetermittenda:

"Ich schloss damit, dass es mir leichter wäre, auf die drei täglichen Mahlzeiten zu verzichten als auf die Zigaretten; denn dazu muss man sich immer wieder mit derselben Anstrengung entschliessen, jeden Augenblick, den ganzen Tag lang. Und wenn man mit diesen aufreibenden Entschlüssen ununterbrochen beschäftigt ist, bleibt einem für nichts anderes mehr Zeit (...)"

Was Cosini hier beschreibt, hat auch die Wissenschaft gerade erkannt: Selbstkontrolle nutzt sich ab, wenn man sie betätigt. Wer den ganzen Tag damit beschäftigt ist, auf Zigaretten zu verzichten, hat keine Energie mehr für sinnvolle Tätigkeiten übrig. Ich werde mich daher jetzt mit dem Buch aufs Sofa zurückziehen, um die restlichen 600 Seiten aufzusaugen. Widerstand ist mir zu riskant, ich habe schliesslich noch Dinge zu erledigen.

Prokrastinationsbuch: 10 von 200 Seiten geschrieben.


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