08.11.2007 / 02:22 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Stadtplanung (59-70)


Wenn das die angehenden Stadtplaner sehen.
I'll kill you, ruft der alkoholkranke Nachbar offenbar immer, wenn er freundlichen Umgang mit Vermietern pflegt, die ihn grade aus seiner Wohnung geklagt haben, und so rief er es auch dem kleinen Ungarn zu, der scheu im Hausflur stand, I'll jump your bones, so wurde es mir jedenfalls erzählt. Die Wissenschaft hat nachgewiesen, dass bis zu 75% unseres Lebens indirektes und nachvollzogenes Fremdleben ist. Erfundenes, Nacherzähltes, Nachgelesenes, und natürlich nacherzähltes Gelesenes. Das ist toll, aber was bedeutet es? Und stimmt das überhaupt, oder hab ichs grade erfunden? Es passiert jedenfalls was im Apartment über uns, davon zeugen schon die Schabenscharen, die wegen Abriss ihrer Möbel bei uns auf Wohnungssuche gehen, und doch nur ihr Ende finden. Dumme Tiere, wir alle.

Auf dem Weg nach Journal Square zähle ich ein paar Blocks lang die Mülleinheiten auf der Strasse, hunderte kommen da zusammen, ich höre folgerichtig schon nach drei wieder auf, aber müssen denn Strassen in verschnarchten Wohngebieten wirklich aussehen wie das Innere unserer Mülltonne aussähe, wenn wir uns nur von Zigaretten, Kartoffelchips und kostenlosen Zeitungen ernährten? Schon gut, nicht beantworten, wir sind eh alle derselben Meinung, da steht zum Beispiel ein Ladeninhaber und kommt seiner Vision eines sauberen Gehwegs qua Fegens ein wenig näher. Was also fegt er? Er fegt den Müll. Und wo aber fegt der Mann den Müll hin? Er fegt den Müll über den Bordstein auf die Strasse. Nuja, ich will ausnahmsweise mal nicht schimpfen, immerhin ein Anfang ist gemacht, der Gedanke zählt, es wurde hier zwar kein Riverside Park grosspurig geplant, keine Waterfront von einem kleinen Angestellten der Stadtbehörden in die Revitalisierung geträumt, keine matschigen sechs Meilen als Familienausflugspark neu erfunden, aber immerhin ein bisschen Müll vom Gehweg auf die Strasse gefegt, und vielleicht hat ja der brave Mann in seinem Lädchen einfach noch nicht gehört, dass es manchmal Wind gibt, der sowohl den Müll von alleine wegbläst, als auch den weggefegten zurück. Vielleicht hat er aber auch nur Ehrgeiz für zehn und baut in wenigen Jahren schon monströse Brücken über den Fluss Hackensack, der wirklich so heisst.

An Journal Square dann ist die obere Rolltreppe in Betrieb, ich reibe mir ungläubig die Augen, bekomme Angst, es ist aber alles in Ordnung, auf der zweiten Ebene stehen die Absperrungen, so soll es sein. Nach zwanzig Minuten kommt der Zug, eine Durchsage: dieser Zug endet hier, eine weitere Durchsage: Züge nach Newark verschieben sich fünfzehn Minuten, dann noch eine: Zugverkehr nach Newark ist eingestellt, wegen Police Action. Curse you, Moses.

70 von 1162 Seiten

Kai Schreiber / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


07.11.2007 / 23:33 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (143-161)

Es wird schwer werden, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat nicht zu lesen, denn es fängt schon mal sehr gut an: mit einer Tabelle der Abkürzungen nämlich. "UB" steht für "unbekanntes Buch, "QB" für "quergelesenes Buch". Andererseits wäre es sicherlich die eleganteste Lösung, gerade dieses Buch konsequent nie zu lesen. Allerdings rät mir der weise Herr Rutschky dazu, denn angeblich ist hier Material für das Prokrastinationsbuch zu finden. Ob er das Buch selbst gelesen oder nur so wie ich vorsichtig den Klappentext und das Inhaltsverzeichnis betrachtet hat, weiss ich nicht. Ich werde kompromisshalber versuchen, eine prokrastinationsrelevante Stelle zu finden.

Zum Beispiel das Kapitel "Sich nicht schämen", denn schliesslich muss man sich auch bei der Prokrastination als Erstes über Scham und Schuldgefühle hinwegsetzen lernen. Gleich auf der ersten Seite dieses Kapitels heisst es:

"Wie wir gesehen haben, hat das Sprechen über ein Buch wenig mit seiner Lektüre zu tun. Die beiden Tätigkeiten sind völlig unabhängig voneinander, und ich für meinen Teil rede, seit ich praktisch zu lesen aufgehört habe, nur um so länger und besser über die Bücher, da mir diese Abstinenz die nötige Distanz – Musils "Überblick" – dazu verschafft."

Now we're talking! Allerdings fragt man sich, was da wohl auf den ersten 142 Seiten passieren mag, wenn eine so zentrale Aussage des Buchs jetzt erst auftaucht. Vielleicht steht in jedem Kapitel dasselbe und Bayard glaubt, wir merken es nicht? Weiter geht es wieder mit Lesemaschine zweiten Grades, nämlich Auszügen aus David Lodges Schnitzeljagd. Lodges Protagonist ist empört über das "Scheissbuch" eines Universitätskollegen, das er gar nicht gelesen hat, "das war auch gar nicht nötig, ich hab oft genug mit ihm in diesen öden Prüferkonferenzen gesessen, ich kann mir schon denken, wie es ist." Eine völlig legitime Haltung laut Bayard, denn:

"Im Gegensatz zu dem berühmten Proust'schen Postulat der Trennung von Autor und Werk – oder eher im Gegensatz zu einer bestimmten Lesart dieses Postulats – ist ein Buch kein Meteorit und kein Produkt eines verborgenen Ichs. Es ist oft nichts anderes als die Verlängerung der Person, die wir kennen (unter der Bedingung natürlich, dass wir uns die Mühe gemacht haben, sie kennenzulernen), und es ist absolut möglich, sich wie Dempsey einzig durch den Umgang mit dem Autor eine Meinung zu bilden."

So weit, so gut, das gilt sicher nicht nur für Jochen Schmidt, dem man neulich in irgendeiner Zeitung vorwarf, er schreibe ja wohl keine richtige Literatur, weil es in seinen Büchern immer nur um ihn selbst gehe, und der seitdem vermutlich an flammenden Leserbriefen ("aber Proust!") arbeitet. Problem: Die Autoren sind oft weniger sympathisch als ihre Bücher, so dass man das Werk missmutig zur Bücherspende geben muss, wenn man den Autor einmal auf einer Lesung erlebt hat. Noch schlimmer ist es, wenn der Autor sympathisch, das Buch aber unlesbar ist. Nicht alle Autoren sind so zuvorkommend, ihre Person in ihren Büchern exakt in die passende Richtung zu verlängern.

Wer jetzt beschliesst, dieses Buch auch einmal nicht zu lesen, der sei gewarnt: Der Autor ist Psychoanalytiker, es geht also neben all diesen schönen Dingen auch um verängstigte innere Kinder, durch Literatur zu stopfende Lücken in der Persönlichkeit, und so weiter, das Übliche halt. Aber es ist ja alles für einen guten Zweck, nämlich die Befreiung vom "repressiven Bild einer lückenlosen Bildung ... dem wir vergeblich ein ganzes Leben lang hinterherrennen". Deshalb gehen wir versöhnlich mit einem Zitat auseinander, das die Lesemaschine ganz gut beschreibt:

"In diesem kulturellen Kontext bilden die Bücher – die gelesenen wie die ungelesenen – eine Art zweite Sprache, die wir benutzen, um über uns selbst zu reden, um uns vor anderen auszudrücken und mit ihnen zu kommunizieren."

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


07.11.2007 / 16:19 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Reihenhaus, jetzt (1-63)


North Circular Road, Ort des Geschehens Quelle
Ich lese gerade, dass "Ilsebill salzte nach" aus Grass´ Butt von Stiftung Lesen als der schönste Anfangssatz eines deutschen Romans gewählt wurde. Charles Chadwick beginnt mit "Eine Weile waren die Häuser links und rechts von uns leer", das ist gewiss nicht gross, aber besser als dieser eitle erste Grassatz, finde ich, 1:0 für England.

London 1970. Tom Ripple, Anfang 40, wohnt in der Nähe der North Circular Road gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Der Roman besteht aus seinen Aufzeichnungen, die er während reichlich freier Zeit in seinem langweiligen Job schreibt, und zwar für "ein bisschen Selbsterkundung". Seine Frau ist Sozialarbeiterin und geht ihrem Mann mit ihrer Gutartigkeit auf die Nerven, die Kinder sind unauffällig. Das Personal wird komplettiert durch zwei Nachbarpärchen sowie Ripples Chef und einen Gehilfen. Alles sehr ruhig bis jetzt. Es liest sich so, als würde langsam der Teppich ausgerollt, auf dem bald die Romanmöbel aufgestellt werden.

Auffällig: Chadwick, oder Ripple, liebt die Klammer. Er macht sehr ausführlich nachdrücklich Gebrauch davon, durchaus auch einmal über 20 Zeilen. Durchschnitt sind drei Klammern pro Seite, aber ich hab auch schon fünf gefunden. Die Klammer ist im Roman aus gutem Grund nicht besonders beliebt. Ich finde, entweder gehört etwas dazu, dann steht es da, oder nicht, dann steht es eben nicht da. Klammertext aber ist nur halb dabei, wie eine Schnuppermitgliedschaft, ein Probeabo, ein dritter Torhüter.

Zustand: misstrauisch, aber wir haben ja Zeit.
Prophezeiung: wahrscheinlich hat einer dieser frühen Figuren ein erhebliches Tragikpotential ab Seite 500. Ich tippe auf den Nachbarn, den neugierigen Mr. Webb.


07.11.2007 / 11:04 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Follow the dead rabbit (86-102)


Foto, Lizenz
Seit gestern liegen zwei tote Kaninchen auf dem Parkplatz neben dem Institut, nur wenige Meter voneinander entfernt. Das ist seltsam, weil man die Tage davor nur ein Kaninchen dabei beobachten konnte, wie es an Myxomatose zugrunde ging; am Schluss bewegungsunfähig, von Fliegen gequält, Buckel am ganzen Körper, mit blutenden Augen. Wenn ein Buch mit dem Anspruch antritt, 'a complete guide to the laws of the Universe' zu sein, dann muss es ja wohl auch erklären, warum niedliche Felltiere von unansehnlichen Viren verunstaltet werden müssen. Jedoch kein Wort von Myxomatose, ja, nicht mal von Kaninchen im Index von The Road to Reality. Und statt "furry animal" steht da "fuzzy metric". Na toll.

Physikbücher, die für irgendeine Allgemeinheit verständlich sein sollen, funktionieren immer nach dem gleichen Schema. Zunächst geht es sehr langsam und bedächtig los, etwa über 5% des Gesamtumfangs. In dieser Phase kommt man gut klar, sieht aber nicht so recht, was das jetzt mit dem Urknall zu tun hat, aber, hey, wer weiss. Später wird sich herausstellen, dass man dieses Vorgeplänkel auch mit dumdidum (engl.: well, well, well) hätte vollschreiben können. Dann aber fällt dem Autor auf, dass er in diesem Tempo 20.000 Seiten braucht, und nicht nur 1000, und er zieht die Daumenschrauben kurz und heftig an. An diesem Punkt steigen 99% der Leser aus, und eigentlich könnte man alles, was danach kommt, wieder mit dumdidum bedrucken, niemand wird es je lesen. Bei Penrose wird dieser wichtige Übergang zwischen zwei dumdidum-Populationen vollkommen unterschiedlicher Natur auf cirka Seite 93 erreicht. Die Dichte an ernsthaften Gleichungen erreicht die kritische Schwelle von fünf pro Seite, und zugleich torpediert der unerbittliche Engländer den armen Trottel mit Aufträgen in Fussnoten: Do this. Spell this out. Check this. Show this. Show this (ignoring x=0). Wenigstens Ausrufezeichen hätte er zur Ermunterung einbauen können.

Ich habe das alles schon tausendmal erlebt und falle auf solche idiotischen Tricks nicht mehr rein. Niemand kann mir erzählen, dass Penrose diese Logarithmen und Potenzen von komplexen Zahlen und ihre geometrische Darstellung in der komplexen Ebene später noch braucht, bestimmt erzählt er uns das nur, weil, ähm, weil er eine schwere Kindheit hatte. Und deshalb sehe ich auch keinen Anlass, mein rudimentäres Vordiplomswissen in höherer Mathematik auszugraben, und verharre in einem diffusen, prä-komplexen Zahlennebel, komme, was da wolle. Man muss einfach immer weitermachen, immer weiter, das ist überhaupt das Wichtigste im Leben. Immer weitermachen. Manchmal, so wie hier, fühlt es sich so an wie Walk the Plank, jedoch immerhin.

Ich kann also jedem nur empfehlen, Kapitel 5 mit staunender Ignoranz zur Kenntnis zu nehmen. Penrose verwendet in diesem Kapitel circa zehn Mal die Worte "magisch" und "mysteriös", ein klares Zeichen, dass er selbst nicht weiter weiss. Ich gehe davon aus, dass er sich demnächst besinnt und das restliche Buch mit Bildern gesunder Kaninchen füllt.

102 von 1049 Seiten

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06.11.2007 / 22:16 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Aufstieg, Abstieg (38-55)


Pfusch, Elend, Verfall.
Seit zwei Monaten steige ich in Jersey City, dem Stiefvorort Manhattans, der sich wegen des zu ihm gehörenden Ellis Island frech "America's Golden Door" nennt, und aber trotzdem bestenfalls New Yorks Hintertreppe ist und unschön riecht, tagtäglich drei Treppenabschnitte aus Journal Square ins Innere der Erde hinab. Auf allen drei Abschnitten gibt es Rolltreppen, auf allen drei Abschnitten sind sie ständig kaputt. Auf den Sperrholzplatten, die die Treppen abriegeln, steht ein Reparaturdatum angekündigt, das ständig wie der Weltuntergangstermin einer bekloppten Sekte heranrückt, verstreicht und dann ein kleines Stück in die Zukunft verschoben wird. Hin und wieder krabbeln auch Menschen im Handwerkerkostüm die stillgelegten Stufen rauf und runter. Gearbeitet wird da nicht erkennbar. Faules Gesindel.

Am Fuss der drei Treppenfluchten, und also geschätzte zwanzig Meter unter dem Platz befinden sich die Bahnsteige. Die Gleise führen absurderweise auf beiden Seiten ebenerdig direkt ins Freie. Eine breite und tiefe Schneise zieht sich durch die goldene Pforte Amerikas, an den Seiten der Gleishalle tritt nackt das Gestein zu Tage, schön sähe das aus, läge nicht ausserdem alles voll Müll. Hin und wieder kommt ein Gleisarbeiter neben der stillgelegten Rolltreppe herunter auf den Bahnsteig, einen grossen schwarzen Müllsack auf dem Rücken wie der Weihnachtsmann in einer plumpen Adbusters-Kampagne, nimmt den Sack vom Rücken, schwingt ihn mächtig hin und her, und wirft ihn dann über zwei Gleise und Meter müllbesäten Zwischenraums hinweg auf einen Container hin. Manchmal trifft der Weihnachtsmann sogar, dann feiern seine Elfen ein Fest in der kaputten Rolltreppe.

Und schuld an allem Elend ist dieser eine Mann, diese zweite Arschgeige aus Yale, dieser angelernte Oxford-Snob, mit seinen Strassen und seiner Sabotage der U-Bahn-Netze, die Spinnenkröte von Randall Island. Fast möchte ich mich auf eine Bananenkiste stellen und ein bisschen rumtrompeten, aber ich hab keine Bananenkiste, und da kommt schon mein Zug.

55 von 1162 Seiten

Kai Schreiber / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


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