03.11.2007 / 03:13 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)
Im Dunkeln ins Büro fahren, im Dunklen zurückkommen. Im Winter kostet es keine grosse Mühe, den Tagesablauf so zu regulieren, dass man den Fahrraddynamo monatelang nicht anfassen muss. Man braucht nämlich gar nicht nach Murmansk zu ziehen, um dem hysterischen Wechsel von Tag und Nacht zu entgehen. Prokrastinationsbuchfortschritte in acht Stunden Büroaufenthalt: null. Natürlich waren andere, dringende Dinge zu tun, z.B. die Fahnenkorrekturen in einem Buch, das eigentlich im August hätte erscheinen sollen (nach einer Verschiebung von Januar auf August). Auch morgen werde ich keinesfalls arbeiten können, denn die zweite Hälfte der dritten Staffel von "The Wire" wartet, und immerhin dauert jede Folge eine ganze Stunde. In Neil Fiores The NOW Habit steht ausdrücklich drin, dass der mehr schafft, der mehr Freizeitvergnügungen nachgeht, also mache ich bisher alles richtig. Auch Sascha hat offenbar nichts am Buch getan, was ganz gut ist, denn so kann ich mich weiterhin tatkräftig und überlegen fühlen.
Das folgende Buch, Gesteinsbestimmung im Gelände, erwarb ich vor einiger Zeit, um damit einen alten Plan seiner Umsetzung näherzubringen: Ich hätte gern eine Zeitungskolumne oder einen vergleichbaren Job, bei dem man mich dafür bezahlt, die Natur in der Stadt zu preisen. Schlecht informierte Menschen loben immer die Natur da draussen auf dem Lande, dabei gibt es in der Stadt viel mehr von allem. Auf dem Land bekommt man zeitlebens nur Fichten, Buchen und ab und zu mal einen Ahorn zu sehen, in Berlin gibt es Schnurbäume (am U-Bahnhof Jannowitzbrücke, in der Rütlistrasse, im Volkspark Friedrichshain), einen Tulpenbaum einfach so in einem Garten (Nähe Gaudystrasse) und einen Drummond's Spitzahorn (TOTAL-Tankstelle Holzmarktstrasse). Auch über die Geologie des Strassenpflasters und der steinernen Tresenplatten in Stehimbissläden ist sicher einiges zu sagen, jedoch nur von jemandem, der auch was über Geologie weiss.
Gesteinsbestimmung im Gelände wird sich nicht mit Tresenplatten befassen, das wäre zu viel verlangt, aber irgendwo muss ein Anfang gemacht, eine Schneise ins Unwissen geschlagen werden. Zum Beispiel im Kapitel 3.2, "Wichtige gesteinsbildende Minerale einschliesslich Gesteinsglas", Abschnitt "Feldspäte". Wer hätte gedacht, dass der Plural von Feldspat Feldspäte ist? Mit noch herrlicheren Wörtern geht es gleich weiter: Gerüstsilikate, monokline und (seltener) trikline Symmetrie, tafeliger Habitus idiomorpher Gesteine, Anorthoklas und Plagioklas, metamorphe Gesteine, Labradorisieren. Gesteine haben also einen Reifegrad, eine schöne Vorstellung, wie die reifen Gesteine auf das unreife, erst wenige Milliarden Jahre alte Kindergestein herabsehen. Feldspäte haben eine Neigung zu Verzwillingung, was auch immer das sein mag, unten auf Seite 39 sind "verschiedene Feldspäte als Einsprenglinge in einem Porphyr" abgebildet, ich glaube, so was habe ich schon mal gesehen. Poliert, als Pizzeriatresen. Na-Ca-Feldspäte heissen Plagioklase, was man sich schon mal merken sollte, denn Plagioklase lassen sich "bei Korngrössen ab 1 mm" zuverlässig erkennen; es kommt dabei nur darauf an, die "mit der Lupe gewöhnlich gut erkennbare, streifig-lamellare polysynthetische Verzwillingung zu beachten bzw. gezielt zu suchen. Sie ähnelt bezüglich strenger Parallelität, Geradlinigkeit und wechselnder Lamellenbreite den Strichcodes auf Verkaufsverpackungen." Das ist doch schon mal ein Anfang. Gut, das waren jetzt erst zwei Seiten, aber erstens ist es bei einem Buch von 439 Seiten ja wohl egal, ob ich zwei Seiten lese oder zwanzig, und zweitens lese ich den Rest eben ein andermal.
Fundort: Ungelesene Bücher, eigene
02.11.2007 / 22:40 / Jan Bölsche liest: Mecki im Schlaraffenland (Eduard Rhein)

Auch ein unrealistisches Ziel: Geldverdienen mit unbezahlter Schleichwerbung Das Erste, was wir über Mecki erfahren, ist sehr sympathisch: er besitzt sieben echte syrische Goldhamster. Das Erste, was wir über den Autor erfahren, hingegen ist, dass er nicht vor Schleichwerbung in Kinderbüchern zurückschreckt, indem er einen der Hamster sagen lässt: "Dich, den weltberühmten Redaktionsigel von HÖRZU wird man da doch sicher mit offenen Armen empfangen!"
Gemeint ist ein Ort namens Schlaraffenland, zu dem Mecki aber selbst durch Nachfragen bei seinen sehr klugen Freunden in der HÖRZU-Redaktion keinen besseren Routenplan in Erfahrung bringen kann als: "Immer der Nase nach".
Das Schlaraffenland finden durch Geradeausgehen – ein Plan, den Timothy Ferriss wohl als "unrealistic" einstufen müsste, und somit als leichter umzusetzen als jeden realistischen. Der ziemlich überzeugende Grund hierfür: Realistische Ziele verfolgen alle. Der Konkurrenzdruck ist enorm, wenn man etwa versucht, ein eher so mittelgutes Bilderbuch in den Markt zu drücken. Unrealistische Ziele hingegen – beispielsweise als österreichischer Bodybuilder zum amerikanischen Präsidenten gewählt zu werden, sind leichter zu erreichen, als man so denkt. Weil das kaum jemand versucht, stehen die Mitösterreicher Mitbodybuilder nicht alle im Weg rum. Ferriss, dem chinesischen Nationalmeister im Kickboxen, der kein bisschen kickboxen kann, glaubt man das aufs Wort. Das einzige, was er vom Kickboxen weiss, ist, dass einen Tag vor dem Wettkampf die Gewichtsklassen der Kämpfer mittels Wiegen ermittelt werden, und dass der Kampf durch technischen K.O. für beendet erklärt wird, sobald einer der Kontrahenten zum dritten Mal von seinem Gegner aus der Kampfarena geschubst wird. Über Kickboxen muss man mehr nicht wissen. Darüber, wie man mittels Dehydration immens viel Gewicht verlieren kann, ohne dabei zu sterben, schon.
Ferriss würde Mecki sagen: "HÖRZU! Gleich morgen machst du den ersten Schritt zur Umsetzung deines Traums!". Das sei der Anfang eines Prozesses, den er "Dreamlining" nenne und der die systematische Festlegung von Milestones auf dem Weg zur Wunscherfüllung darstelle.
Genauso machen sie es. Gleich am nächsten Morgen wird geradeaus gegangen, stets besorgt darum, von einem offenbar lästigen Bekannten namens "Charly Pinguin" verfolgt zu werden. Der Antagonist wirft seinen frackförmigen Schatten voraus. Ganz ohne Reisebericht endet die erste Seite mit einem Paukenschlag: Bumm! Ein Schild mit der Aufschrift "Schlaraffenland". Ferriss hatte Recht!
02.11.2007 / 20:09 / Stese Wagner liest: Der grosse Gatsby (F. Scott Fitzgerald)
Meine erste Ausgabe des grossen Gatsby kaufte ich mir etwa zu der Zeit, in der ich anfing, in Bars "Einen Bourbon, bitte" zu sagen, wenn ich mit Bestellen an der Reihe war. Selbstverständlich mochte ich überhaupt keinen Bourbon, aber das klang gut und vor allem mondän – eben so, wie ich mir Fitzgeralds schillernde Dandymädchen vorstellte.
Wie ich darauf kam, ist mir heute unklar, denn mehr als die ersten vier Seiten des Buches habe ich nie gelesen. Wenn ich nachts nach Hause kam, war ich vom Bourbon betrunken, die Buchstaben verliefen vor meinem Gesicht. Da war deutlich angenehmer, im Halbdunkeln auf dem Sofa zu liegen und Space Nights zu gucken, als zu lesen, wie ein Mann aus dem Mittelwesten mit seinem halben Dutzend Bücher über Bank-und Kreditwesen in ein Haus auf der schlechten Seite von Long Island zieht. Heute weiss ich, dass es meine Pflicht als angehende Dandyette gewesen wäre, trotzdem weiterzulesen. Die ganze Nacht und den ganzen Tag, auf dasselbe Sofa hingestreckt, die Betrunkenheit ignorierend, um erst dann wieder aufzustehen, wenn jemand an der Tür klopft, den man mit dem Satz "Ich bin ganz steif ... seit ich denken kann, habe ich auf diesem Sofa gelegen" für immer für sich einnehmen kann.
Nun, mein Versäumnis von damals gilt es jetzt wieder gutzumachen. Deshalb habe ich mich bestens vorbereitet: Die alte Taschenbuchausgabe ist vom Dachboden geholt und abgestaubt worden, statt hochprozentigem Bourbon steht leichter Champagner auf dem Silbertablett und ich lagere bereits auf dem Sofa. Jetzt muss ich nur noch die Kraft finden, den Buchdeckel zu heben.
Stese Wagner / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen
02.11.2007 / 16:40 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)
Man muss natürlich im Urschleim anfangen. Im Unterschied zu den Urmenschen glauben wir heute daran, dass es im Universum einigermassen geregelt zugeht. Anlass dazu gibt u.a. die Tatsache, dass der grosse Lauf der Dinge offenbar komplett unabhängig ist von der Frage, ob man die Frau getötet oder das Abendbrot stehengelassen hat. Im selben Masse, in dem immer mehr Regeln in der Welt gefunden worden sind, haben sich unsere Götter stark verändert und haben jetzt z.B. keine Hörner mehr auf dem Kopf. Manche behaupten gar, es gäbe sie gar nicht mehr, was natürlich Quatsch ist: Wenn ich Gott wäre, würde ich mir auch eine Software "Gravity 0.9 beta" schreiben, die die Erde automatisch um die Sonne kreisen lässt, nur damit ich mich nicht jedes verdammte Jahr darum kümmern muss. Trotzdem darf ich ja wohl ab und zu unerwartet mit dem Fuss aufstampfen.
Wir überspringen hier ein paar Bronze- und andere Metallzeiten und kommen direkt zu Pythagoras und seinen Jüngern, wobei es sich um eine Art Geheimsekte handelte, von deren Erkenntnissen wir nur wissen, weil sich Spione eingeschlichten hatten. Interessante Vorstellung, Mathematik als Geheimdienst: "Hey, ich habe das rechtwinklige Dreieck erfunden." – "Pssssssst! Bist Du wahnsinnig?" – Als jedenfalls Pythagoras und Co. nach und nach immer mehr abstrakte Mathematik unters Volk warfen, trat gleichzeitig die Frage auf, ob diese Welt der Mathematik, allgemeiner: die platonische Welt der Ideen, wirklich existiert, oder ob wir sie uns nur ausdenken. Gibt es Zahlen wirklich, auch ausserhalb unseres Kopfes? Gab es den Mandelbrot-Apfel schon vor seiner Entdeckung? Andersrum: War das Fermatsche Theorem schon wahr, bevor es bewiesen wurde? (Wem auffällt, dass objektive Wahrheit und platonische Existenz hier nahezu synonym verwendet werden, der hat Penrose richtig verstanden.) Die Antwort lautet natürlich "ja, und wer es nicht glaubt: Tod durch den Strang".
Und jetzt zurück zu Gott, vermutlich zum letzten Mal für eine Weile. Die mathematische Welt, von deren Existenz wir überzeugt sind, regiert offenbar die physikalische Welt. (Vielleicht nicht alles, auf diese Meinung steht noch nicht die Todesstrafe, aber doch sehr grosse Teile davon.) Gleichzeitig regiert die physikalische Welt wesentliche Teile, evt. sogar alle, unserer mentalen Welt, auch wenn sich hier Descartes (siehe dort) unruhig im Grabe herumwirft. Aber solange mir niemand einen Geist ohne Körper zeigt, teile ich hier Penroses Vorurteil. Und zum dritten können wir mit unserem mentalen Weichteil da im Schädel drin wiederum grosse Teile, eventuell alle, der mathematischen Welt erfassen, sonst läge auch dieses dicke Buch nicht da, wo es jetzt liegt. Warum also ist es so, dass die physikalische Wirklichkeit so präzise der Mathematik folgt, von deren Existenz einige hier vermutlich immer noch nicht ganz überzeugt sind? Und wie kommt es, dass ein grauer Haufen aus Physik künstliche Gehirne erfinden kann? Wer da noch behauptet, die Welt sei frei von Mysterien, der soll stattdessen Mecki lesen.
Grosse Vorfreude auf die Quanglements.
Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen
02.11.2007 / 03:13 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Haben Sie das alles gelesen? Noch nicht, aber bald.Ich muss dringend ein Buch über Prokrastination schreiben, zusammen mit Sascha Lobo. Niemand ist qualifizierter als wir beide, Bücher über Prokrastination zu schreiben, ganze Bibliotheken könnten wir darüber vollschreiben, aber ach, man kommt ja zu nichts. Abgabetermin ist im Januar, daher musste unbedingt vorher noch schnell ein zeitraubendes neues Projekt gestartet werden: die Lesemaschine. So wird alle überschüssige Prokrastinationsenergie in dieses Gefäss abgeleitet, übrig bleibt reiner Arbeitswille. Die Hälfte eines Buchs vollschreiben, wie schwer kann das schon sein? Allerdings handelt es sich dabei um eine Abwandlung des Gefangenendilemmas, in dem beide geringe Haftstrafen bekommen, wenn niemand aussagt. Sagt einer aus, der andere aber nicht, kommt der eine frei und der andere muss lange einsitzen, sagen beide aus, wird es für beide ein langer Aufenthalt. Schreiben zwei Berufsprokrastinierer zusammen ein Buch, hofft natürlich jeder insgeheim, dass der andere die ganze Arbeit macht, während er selbst andere dringende Dinge erledigt, "The Wire" gucken zum Beispiel.
Oder alle Bücher der Welt lesen. Man kann es ja zumindest versuchen. In der Riesenmaschine wurde das alte Arno-Schmidt-Problem, dass man "im Leben nur 3000 Bücher zu lesen vermag" bereits erörtert und mit vielen guten Lösungsvorschlägen bedacht ("mit einem sehr grossen Tacker alle Bücher zu einem Buch zusammenheften" etc.). Natürlich ist Gründlichkeit hier fehl am Platz, ich werde daher das Prinzip des Riesenmaschine Drive-Thru-Literaturzirkels übernehmen und je zwanzig Seiten aus allen Büchern lesen. Nicht viel, aber immerhin mehr, als die meisten Menschen von den meisten Büchern gelesen haben. Gleich morgen fange ich an.