09.11.2007 / 13:46 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

FNORD (79-80)


(Bild: P_Ka)
Ich habe jetzt mit einem Stift auf ein Stück Papier den Satz geschrieben: "Ich denke, also bin ich." Denn wenn ich den Satz denke, dann rutscht jedes Wort, sobald ich es mir im Geiste aufgesagt habe, in die Vergangenheit und in meine Erinnerung. Alle Erinnerung kann mir aber von der fiesen Betrügermatrix vorgegaukelt sein. Also habe ich es aufgeschrieben. Jetzt weiss ich ganz genau, dass ich das gesagt habe. Da steht es, schwarz auf weiss. Aber woher weiss ich, dass ich das aufgeschrieben habe? Es geistern schliesslich genug Verträge und Formulare herum, auf denen meine Unterschrift steht und ich auch keinen blassen Schimmer mehr habe, wie die da draufkommt. Oder Mahnungen im Briefkasten, bei denen ich mir vorher bombensicher war, dass ich die Einzugsermächtigung schon längst unterschieben hätte. Aber Pfeifendeckel. Da kann mir die Matrix diesen Zettel mit dem "Ich denke, also bin ich" ja locker vorgegaukelt haben, die ist nämlich viel mächtiger als eine Mahnbescheidabteilung.

Der Satz, "Ich denke, also bin ich" ist notwendigerweise wahr, solange er ausgesprochen oder gedacht wird, sagt Descartes. Von wegen. Da kann die Matrix immer noch dazwischenpfuschen und mich täuschen. Aber es muss mich doch geben, sonst täuscht sie niemanden. Wann gibt's mich denn absolut sicher? In so einer Art Präsenzzeit vielleicht, in der ich auf keine Erinnerung zurückgreifen muss. Die Präsenzzeit ist bei manchen Leuten ja extrem kurz. Aber ich krieg das irgendwie nicht gebacken. Ich versuche mal, den Satz "Ich denke, also bin ich" ganz schnell auszusprechen, so schnell, dass die Matrix es vielleicht gar nicht merkt. Aber ... fuck. Das ist immer noch eine winzige Zeitspanne, in der Gegenwart und Vergangenheit vorkommen, und auch paar Sekundenbruchteile Vergangenheit reichen der Matrix, um da was Falsches reinzumüllen. Denn die Matrix ist verdammt schnell und listig. Sie manipuliert jede noch so kurz zurückliegende Vergangenheit, und die Zukunft sowieso. Bleibt nur mein Bewusstseinsakt in einem absolut ausdehnungslosen Jetzt-Punkt übrig. Der ist absolut gewiss. Ich darf ihn nicht in Beziehung setzen mit Vergangenheit und Zukunft, sonst verliert er seine Gewissheit. Es ist so, als würde ich durch absolute Finsternis reisen und auf einmal wird mit einem Fotoblitz schlagartig alles in hellstes Licht getaucht und es ist sofort wieder stockfinster. Ich kann auf einmal alles gewiss erkennen, aber kann diese Erkenntnis mit nichts in Beziehung setzen, ich kann sie nicht aussprechen, sie nicht gedanklich fassen, ich weiss weder, wo ich bin, wer ich bin und was das bedeutet, was ich gesehen habe.

Heftig. Absolut gewiss ist nur ein ausdehnungsloses, punktuelles Jetzt, das völlig leer ist. Ich weiss absolut sicher, dass das existiert, ich weiss aber nicht, was da existiert. Das Stück Papier fliegt jetzt in den Papierkorb.

80 von 229 Seiten

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09.11.2007 / 11:06 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Differenzierte Betrachtungsweisen (103-121)


Quelle, Lizenz
Moderne Wissenschaft ist ein Wunderding, weil man, wenn man sie betreibt, so unglaublich präzise ermitteln kann, wie toll* man ist, und zwar mit Hilfe einer sogenannten Statistik. Nicht so wie in der Literatur oder im Internet, wo man nie weiss, ob man gerade berühmt ist oder arbeitslos. Neulich fand ich mit Hilfe der Datenbank heraus, dass meine Publikationen insgesamt 269mal zitiert wurden, und zwar folgendermassen auf die Jahre 2003 bis 2007 verteilt: 7, 31, 50, 82, 99. (Ich weiss das natürlich nur, weil ich eigentlich hätte Vorlesungen vorbereiten müssen, denn jeder ist ein bisschen Kathrin Passig.)

Was man an diesen Zahlen erkennt: Ich werde jedes Jahr besser**, das heisst, die Anzahl meiner Zitate, ich nenne sie mal die Funktion f(t), steigt stetig an. Schöner noch: Die Rate des Anstiegs, also die erste Ableitung von f(t), hiermit genannt f '(t) wird keinesfalls kleiner mit den Jahren, sondern bleibt angenehm im lauwarmen 20er Bereich. Nichts deutet demnach darauf hin, dass ich in Zukunft weniger schnell besser*** werden werde als bisher. Wenn ich das nächste Mal Vorlesungen vorbereiten muss, werde ich mit Sicherheit dieses Zahlen mit irgendeiner Funktion fitten, dann in die Zukunft extrapolieren und vorhersagen, wieviele Zitate ich haben werde, wenn ich 45 bin. Dann kann man leicht mit den Kollegen vergleichen, die heute schon 45 sind, und wenn man sehr viele Vorlesungen vorbereiten muss, auch noch mit den Einträgen auf der Job Rumour Mill kreuzkorrelieren. Erschreckende Vorstellung, es gibt Menschen, die heute schon so alt sind wie ich in 13 Jahren.

What makes an honest function? 8 Seiten später schon die Antwort: Euler's notion of a function would, we presume, have demanded something like C∞-smoothness. Das ist natürlich prä-wilhelminischer Quatsch. "Euler's notion" ist für die raue Welt der modernen Differential- und Integralrechnung das, was der Pontiac Sedan für eine Bezwingung des Ben Macdui ist – ungeeignet. Zugunsten der Firma Pontiac muss man einräumen, dass Ben Macdui, der zweithöchste Berg Schottlands, noch nie mit irgendeinem Auto bezwungen worden ist.

Heute dagegen muss natürlich alles irgendwie differenzierbar oder integrierbar sein, sogar Weltreligionen und Neonazis. Man schiebt seine verqueren Funktionen einfach in die Wundersoftware Mathematica und irgendwie wird die dann schon damit fertig werden, notfalls mit Eispickel, Steigeisen und Stubenarrest, oder wie das heisst, wenn alles andere nichts mehr hilft. Speaking of which: Als ich noch klein war, lieferte ich in Mathe-Klausuren oft ungefragt die dritte, vierte, fünfte, sechste, siebte, achte, neunte, zehnte Ableitung von irgendwelchen Funktionen, als Verhandlungsangebot, nur um darüber hinwegzutäuschen, dass ich ausser Differenzieren nichts konnte. Meist bekam ich dafür nichts als ein grosses rotes Fragezeichen an den Rand. Es ist oft so schwer, von der Welt verstanden zu werden.

Da, jetzt sind es schon 100 im Jahr 2007. Hurra!

* Nur wenn man "toll" in sehr merkwürdiger Art und Weise definiert.

** Nur in einem sehr weit entfernten, sehr kleinen Universum.

*** Auch dieses "besser" müsste man streng genommen nochmal differenziert betrachten.

121 von 1049 Seiten

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09.11.2007 / 01:29 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

"Kosmos" 1930 (324-330)

Im Traum fahre ich auf meinem Skateboard eine Strasse entlang, das heisst, ich sitze auf dem Skateboard und schiebe mich langsam, kriechend, mit einem Fuss voran. Dann werde ich von zwei zu Fuss gehenden Freunden eingeholt, ich springe auf und stecke das Skateboard in meinen Rucksack. Bestimmt werden die beiden glauben, ich sei darauf bis gerade eben geschmeidig herumgefahren.

Wenn dieser Traum mir nichts über die Arbeit am Prokrastinationsbuch sagen will, dann weiss ich auch nicht. Auf dem Golfplatz in New Montreal, ("brit. Nordamerika"), wurden 1930 in der Höhlung eines Baumstumpfes 120 Golfbälle gefunden, "die hier von Eichhörnchen zusammengetragen worden waren (...) Aus den Fabrikmarken einzelner Bälle konnte festgestellt werden, dass die Eichhörnchen schon gleich nach der Fertigstellung des Golfplatzes vor sieben Jahren damit begonnen hatten, Bälle zu sammeln." Ich weigere mich, zu glauben, dass Eichhörnchen über so viel Selbstdisziplin verfügen, dass sie zwecks delayed gratification Nüsse für den Winter sammeln; es muss ihnen wohl Spass machen. Noch mehr Spass macht es vermutlich, stattdessen Golfbälle zu sammeln, einfach nur, weil man eigentlich einer anderen Tätigkeit nachgehen sollte. Wie gut hat es das Eichhörnchen, wie schwer dagegen der Mensch. Und dabei hat man noch nicht einmal herausgefunden, was die "Vermischtes"-Meldung auf S. 324 unten, "Änderung der Artmerkmale durch Röntgenbestrahlung" noch für Ärger nach sich ziehen wird.

Fundort: Martin Baaskes Bücherregal, Haus der Frohen Zukunft

Prokrastinationsbuch: 8 von 200 Seiten geschrieben.


08.11.2007 / 20:16 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Cogito, ergo sum. (76-79)

Es ist ein bisschen paradox: Wenn es um das Wissen über die tiefsten Gründe der Welt geht, ist heute die Ungewissheit lieber als die Gewissheit. Da wird gerne Karl Popper nachgebetet, dass alle wissenschaftliche Erkenntnis vorläufig sei und auch falsch sein kann ("falsifizierbar ist", wenn man sich salbungsvoll ausdrücken will). Aber im Alltag wird sich furchtbar aufgeregt, wenn Ungewissheit über die Herkunft von Dönerfleisch herrscht, wenn man nie genau wissen kann, ob ein Produkt auch so sauber oder sicher ist, wie es einem erzählt wird, oder ob die Fahrzeiten der Bahn auch eingehalten werden. Wenn dann vor allem in der Lebensmittelfrage die Resignation Überhand gewinnt, heisst es: Man kann ja eh nichts 100% Sauberes mehr essen, selbst die Sojaprodukte der Veganer sind alle genetisch versaut, nix Gewisses weiss man nicht, es hat doch keinen Sinn mehr, eigentlich darf man gar nichts mehr essen, entweder man frisst das verseuchte Zeug, oder man muss aus der zivilisatorischen Nahrungskette aussteigen, sich in die Viktualienautarkie zurückziehen und abgekapselt auf einem Bauernhof sein Futter selbst herstellen. Ich schweife ab. Was ich sagen will, ist: So ähnlich funktionieren die 1. und die 2. Meditation von Descartes, nur halt auf dem Gebiet wissenschaftlicher Erkenntnis:

Descartes sieht alle Erkenntnis mit Zweifeln verpestet, seien es auch nur 0,1% böser Zweifel, dann konsumiert er die Erkenntnis nicht mehr, er will nur absolut sauberes Zeug, er zieht sich zurück in die Autarkie seines Selbst, weil die Welt da draussen stinkt. Auf dem Gehöft seines eigenen Denkens findet er dann die saubere Quelle: Ego cogito, ego sum, "ich denke, also bin ich". Das kann er nicht mehr anzweifeln, denn er kann nicht zweifeln, dass er zweifelt, man kann nur denkend denken, dass man denkt, Denken setzt voraus, dass es jemanden gibt, der denkt, etc. Heureka!

Aber langsam. Sehen wir zu, wie Desactes seine Entdeckung macht. Er sagt in seinem Geiste: "Ich ... denke ... also ..." – Stop! Sobald er beim Wort 'denke' ist, ist das Wort 'Ich' schon wieder weg. Es ist in der Erinnerung. Ist Erinnerung zweifelsfrei? Ne ne, da kann doch die böse Matrix zugeschlagen haben, die überall lauert. Die kann nicht nur realistische Träume vorgaukeln, sondern auch Erinnerung. Mist. Und auch: Sprache, Sprache, das hab ich doch irgendwo gelernt. Diese erlernte Sprache, mit der ich den Satz "Ich denke, also bin ich" ausspreche, ist die denn sicher? Kann doch auch nur ein Unfugding sein, das nur falsche Sätze produziert, die mir zwar richtig erscheinen, es aber gar nicht sind – genauso wie es Descartes bei den mathematischen Sätzen behauptet hat.

Das wird mir jetzt zu unheimlich. Ich gehe einkaufen. Bis später.

79 von 229 Seiten

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08.11.2007 / 12:20 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Nix kapiert (67-75)


(Bild: Robert Scarth)
Dieser Beitrag handelt von den Nummern 6 – 12 (Reclam) der 1. Meditation von Descartes. Er ist in vier Absätze gegliedert. Der erste Absatz ist der erträglichste, der zweite der platteste, der dritte der verworrenste; alle vier zusammen sind zu lang.

1. Also. Descartes These ist: Die ganze Aussenwelt mitsamt unseres Körpers könnte eine reine Fiktion sein. Sogar andere Menschen sind leere Gespenster (metaphysische Zombies). Diese Fiktion ist uns von einer bösen Matrix implantiert oder einfach nur ein allumfassender Traum. Aber geht das überhaupt? Nr. 6 der 1. Meditation bringt ein bemerkenswertes Gegenargument: Träume können nicht komplett fiktiv sein. Man mag noch so irreale Dinge vor sich hinträumen, aber wenigstens die Grundelemente, aus denen die Träume bestehen, sind aus der Wirklichkeit genommen: Farben, Töne, dreidimensionale Räume, überhaupt Raum und Zeit... man kann nicht, sagt Descartes, in jedweder Hinsicht völlig Neues erdichten. Echte Kreativität, die sich alles komplett und ausnahmslos neu aus den Fingern saugt, gibt es nicht. Man kann immer nur aus bereits vorhandenen Realitäten etwas Neues schaffen. (Und selbst in der tollsten Science-Fiction-Serie geht's am Ende ja doch immer um das Altbekannte: Liebe, Hass, Schicksal und Tod.)

2. Ergo: Wenigstens die Grundelemente, aus denen der ganze extramentale Bluff zusammengebaut ist, müssen real und extramental existeren. Für einen rationalistischen Mathematiker wie Descartes sind diese Grundrealitäten aller Dinge natürlich Ausdehnung, Gestalt, Quantität, Raum und Zeit. (Das ist übrigens ganz das neuzeitliche Paradigma: Ohne Mathematisierung der grundlegenden Wirklichkeit keine moderne Physik.)

3. Fiktion ist also nur eine falsche Rekombination der Grundbausteine der Wirklichkeit (z.B. Klingonen, sprechende Tiere, irakische Massenvernichtungswaffen). Die Grundbausteine sind für Descartes mathematische Einheiten und Strukturen. Ohne mathematische Einheiten kann man keine einzige virtuelle Fiktion erschaffen. Also müsste es die Mathematik doch mit unbezweifelbarer Realität zu tun haben. Hier hätte man die von Descartes gesuchte wahre Existenz. Das sagt er in Nr. 8 auch, nur mit einer erstaunlichen Wendung:

"Somit können wir hieraus wohl zu Recht schliessen, dass die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der [aus den Grundbausteinen] zusammengesetzten Körper abhängen, wenigstens zweifelhaft seien, während die Arithmetik, Geometrie und vergleichbare, die lediglich die einfachsten und allgemeinsten Dinge [d.h. die Grundbausteine = die mathematischen Einheiten] behandeln und sich wenig darum kümmern, ob diese in Wirklichkeit da sind oder nicht, etwas Sicheres und Unzweifelhaftes enthalten." (Reclam S. 69, Meiner S. 14.)

Jetzt auf einmal, durch den hier kursiv gestellten Nebensatz, wird von der Existenz der Grundbausteine abgesehen. Eben gerade ging es noch um ihre Existenz. Leute wie Platon und Roger Penrose sind sehr überzeugt davon, dass mathematische Einheiten real existieren. Bei Descartes schweben sie jetzt frei in der Luft, es wird sich "wenig darum gekümmert, ob diese in der Wirklichkeit da sind oder nicht." Descartes hat hier unter der Hand eine neue Ebene aufgemacht: Wir sind auf die Ebene reiner mathematischer Sätze gerutscht, egal, ob die Objekte der Mathematik real existieren oder nicht. Aber das ist doch etwas ganz anderes als die Frage nach realer Existenz, die eben noch das Thema war. Die obige Überlegung, dass die Grundelemente jeder Fiktion doch real existieren müssten, weil keine Fiktion zu 100% aus dem Nichts erdichtet sein kann, ist auf einmal weg und taucht im Folgenden auch nicht mehr auf. Wie kommt Descartes zu diesem plötzlichen Sprung? Ich kapiere das nicht und finde auch nirgendwo eine hilfreiche Erklärung im Text.

4. Jetzt sind da jedenfalls zwei Ebenen: Die Ebene der Existenz irgendwelcher Dinge, und die Ebene der Mathematik, die von Existenz abstrahiert. Der genius malignus, die allmächtige betrügerische Matrix, schlägt im Folgenden auf beiden Ebenen zu: Alle Dinge sind eine von ihr erzeugte Fiktion und auch die gesamte Mathematik. Descartes zweifelt jetzt also auch die ganze Mathematik an. Auch sie ist möglicherweise ein einziger Bluff. 2 + 3 ist vielleicht gar nicht fünf. Wir müssen halt so denken, die Matrix hat unseren Geist so konstruiert. Aber dieser mathematische Denkzwang ist nur rein psychologisch und daraus folgt keine Wahrheit und nichts über die Wirklichkeit. Z.B. kann Roger Penrose nicht mehr aus rein psychologischer Evidenz heraus jubelnd die Realexistenz der Mandelbrotmenge oder anderer mathematischer Scherze folgern.

75 von 229 Seiten

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