09.11.2007 / 11:06 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Differenzierte Betrachtungsweisen (103-121)


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Moderne Wissenschaft ist ein Wunderding, weil man, wenn man sie betreibt, so unglaublich präzise ermitteln kann, wie toll* man ist, und zwar mit Hilfe einer sogenannten Statistik. Nicht so wie in der Literatur oder im Internet, wo man nie weiss, ob man gerade berühmt ist oder arbeitslos. Neulich fand ich mit Hilfe der Datenbank heraus, dass meine Publikationen insgesamt 269mal zitiert wurden, und zwar folgendermassen auf die Jahre 2003 bis 2007 verteilt: 7, 31, 50, 82, 99. (Ich weiss das natürlich nur, weil ich eigentlich hätte Vorlesungen vorbereiten müssen, denn jeder ist ein bisschen Kathrin Passig.)

Was man an diesen Zahlen erkennt: Ich werde jedes Jahr besser**, das heisst, die Anzahl meiner Zitate, ich nenne sie mal die Funktion f(t), steigt stetig an. Schöner noch: Die Rate des Anstiegs, also die erste Ableitung von f(t), hiermit genannt f '(t) wird keinesfalls kleiner mit den Jahren, sondern bleibt angenehm im lauwarmen 20er Bereich. Nichts deutet demnach darauf hin, dass ich in Zukunft weniger schnell besser*** werden werde als bisher. Wenn ich das nächste Mal Vorlesungen vorbereiten muss, werde ich mit Sicherheit dieses Zahlen mit irgendeiner Funktion fitten, dann in die Zukunft extrapolieren und vorhersagen, wieviele Zitate ich haben werde, wenn ich 45 bin. Dann kann man leicht mit den Kollegen vergleichen, die heute schon 45 sind, und wenn man sehr viele Vorlesungen vorbereiten muss, auch noch mit den Einträgen auf der Job Rumour Mill kreuzkorrelieren. Erschreckende Vorstellung, es gibt Menschen, die heute schon so alt sind wie ich in 13 Jahren.

What makes an honest function? 8 Seiten später schon die Antwort: Euler's notion of a function would, we presume, have demanded something like C∞-smoothness. Das ist natürlich prä-wilhelminischer Quatsch. "Euler's notion" ist für die raue Welt der modernen Differential- und Integralrechnung das, was der Pontiac Sedan für eine Bezwingung des Ben Macdui ist – ungeeignet. Zugunsten der Firma Pontiac muss man einräumen, dass Ben Macdui, der zweithöchste Berg Schottlands, noch nie mit irgendeinem Auto bezwungen worden ist.

Heute dagegen muss natürlich alles irgendwie differenzierbar oder integrierbar sein, sogar Weltreligionen und Neonazis. Man schiebt seine verqueren Funktionen einfach in die Wundersoftware Mathematica und irgendwie wird die dann schon damit fertig werden, notfalls mit Eispickel, Steigeisen und Stubenarrest, oder wie das heisst, wenn alles andere nichts mehr hilft. Speaking of which: Als ich noch klein war, lieferte ich in Mathe-Klausuren oft ungefragt die dritte, vierte, fünfte, sechste, siebte, achte, neunte, zehnte Ableitung von irgendwelchen Funktionen, als Verhandlungsangebot, nur um darüber hinwegzutäuschen, dass ich ausser Differenzieren nichts konnte. Meist bekam ich dafür nichts als ein grosses rotes Fragezeichen an den Rand. Es ist oft so schwer, von der Welt verstanden zu werden.

Da, jetzt sind es schon 100 im Jahr 2007. Hurra!

* Nur wenn man "toll" in sehr merkwürdiger Art und Weise definiert.

** Nur in einem sehr weit entfernten, sehr kleinen Universum.

*** Auch dieses "besser" müsste man streng genommen nochmal differenziert betrachten.

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