08.11.2007 / 12:20 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Nix kapiert (67-75)


(Bild: Robert Scarth)
Dieser Beitrag handelt von den Nummern 6 – 12 (Reclam) der 1. Meditation von Descartes. Er ist in vier Absätze gegliedert. Der erste Absatz ist der erträglichste, der zweite der platteste, der dritte der verworrenste; alle vier zusammen sind zu lang.

1. Also. Descartes These ist: Die ganze Aussenwelt mitsamt unseres Körpers könnte eine reine Fiktion sein. Sogar andere Menschen sind leere Gespenster (metaphysische Zombies). Diese Fiktion ist uns von einer bösen Matrix implantiert oder einfach nur ein allumfassender Traum. Aber geht das überhaupt? Nr. 6 der 1. Meditation bringt ein bemerkenswertes Gegenargument: Träume können nicht komplett fiktiv sein. Man mag noch so irreale Dinge vor sich hinträumen, aber wenigstens die Grundelemente, aus denen die Träume bestehen, sind aus der Wirklichkeit genommen: Farben, Töne, dreidimensionale Räume, überhaupt Raum und Zeit... man kann nicht, sagt Descartes, in jedweder Hinsicht völlig Neues erdichten. Echte Kreativität, die sich alles komplett und ausnahmslos neu aus den Fingern saugt, gibt es nicht. Man kann immer nur aus bereits vorhandenen Realitäten etwas Neues schaffen. (Und selbst in der tollsten Science-Fiction-Serie geht's am Ende ja doch immer um das Altbekannte: Liebe, Hass, Schicksal und Tod.)

2. Ergo: Wenigstens die Grundelemente, aus denen der ganze extramentale Bluff zusammengebaut ist, müssen real und extramental existeren. Für einen rationalistischen Mathematiker wie Descartes sind diese Grundrealitäten aller Dinge natürlich Ausdehnung, Gestalt, Quantität, Raum und Zeit. (Das ist übrigens ganz das neuzeitliche Paradigma: Ohne Mathematisierung der grundlegenden Wirklichkeit keine moderne Physik.)

3. Fiktion ist also nur eine falsche Rekombination der Grundbausteine der Wirklichkeit (z.B. Klingonen, sprechende Tiere, irakische Massenvernichtungswaffen). Die Grundbausteine sind für Descartes mathematische Einheiten und Strukturen. Ohne mathematische Einheiten kann man keine einzige virtuelle Fiktion erschaffen. Also müsste es die Mathematik doch mit unbezweifelbarer Realität zu tun haben. Hier hätte man die von Descartes gesuchte wahre Existenz. Das sagt er in Nr. 8 auch, nur mit einer erstaunlichen Wendung:

"Somit können wir hieraus wohl zu Recht schliessen, dass die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der [aus den Grundbausteinen] zusammengesetzten Körper abhängen, wenigstens zweifelhaft seien, während die Arithmetik, Geometrie und vergleichbare, die lediglich die einfachsten und allgemeinsten Dinge [d.h. die Grundbausteine = die mathematischen Einheiten] behandeln und sich wenig darum kümmern, ob diese in Wirklichkeit da sind oder nicht, etwas Sicheres und Unzweifelhaftes enthalten." (Reclam S. 69, Meiner S. 14.)

Jetzt auf einmal, durch den hier kursiv gestellten Nebensatz, wird von der Existenz der Grundbausteine abgesehen. Eben gerade ging es noch um ihre Existenz. Leute wie Platon und Roger Penrose sind sehr überzeugt davon, dass mathematische Einheiten real existieren. Bei Descartes schweben sie jetzt frei in der Luft, es wird sich "wenig darum gekümmert, ob diese in der Wirklichkeit da sind oder nicht." Descartes hat hier unter der Hand eine neue Ebene aufgemacht: Wir sind auf die Ebene reiner mathematischer Sätze gerutscht, egal, ob die Objekte der Mathematik real existieren oder nicht. Aber das ist doch etwas ganz anderes als die Frage nach realer Existenz, die eben noch das Thema war. Die obige Überlegung, dass die Grundelemente jeder Fiktion doch real existieren müssten, weil keine Fiktion zu 100% aus dem Nichts erdichtet sein kann, ist auf einmal weg und taucht im Folgenden auch nicht mehr auf. Wie kommt Descartes zu diesem plötzlichen Sprung? Ich kapiere das nicht und finde auch nirgendwo eine hilfreiche Erklärung im Text.

4. Jetzt sind da jedenfalls zwei Ebenen: Die Ebene der Existenz irgendwelcher Dinge, und die Ebene der Mathematik, die von Existenz abstrahiert. Der genius malignus, die allmächtige betrügerische Matrix, schlägt im Folgenden auf beiden Ebenen zu: Alle Dinge sind eine von ihr erzeugte Fiktion und auch die gesamte Mathematik. Descartes zweifelt jetzt also auch die ganze Mathematik an. Auch sie ist möglicherweise ein einziger Bluff. 2 + 3 ist vielleicht gar nicht fünf. Wir müssen halt so denken, die Matrix hat unseren Geist so konstruiert. Aber dieser mathematische Denkzwang ist nur rein psychologisch und daraus folgt keine Wahrheit und nichts über die Wirklichkeit. Z.B. kann Roger Penrose nicht mehr aus rein psychologischer Evidenz heraus jubelnd die Realexistenz der Mandelbrotmenge oder anderer mathematischer Scherze folgern.

75 von 229 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (12) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Frau Grasdackel:

Vor lauter Schreck ist jetzt mein Schokoladentellerchen von einem Stapel mit Papieren herunter auf mein Wasserglas gefallen. Das Glas ist umgefallen und der verbliebene Inhalt hat sich über die gesamte linke Schreibtischhälfte gleichmässig verteilt. Die Scherben habe ich in den Altglasbehälter gegeben. Den Schreibtisch und den Boden lasse ich einfach lufttrocknen und lege mich ins Bett. Nach meinem Erwachen wird kein Wasser mehr zu sehen sein. Bilde ich mir mein nächtliches Missgeschick nur ein? Leider nein. Die Gläser in meinem Küchenschrank, die sich wenig darum kümmern, ob sie in der Wirklichkeit vorhanden sind, sagen mir etwas von zweifelloser Gewissheit: 6 Gläser minus 1 Glas = 5 Gläser.

11.11.2007 / 05:11

Kommentar #2 von Ruben:

Sie haben also nicht mitgelesen. Auf äussere Sinneserfahrung (ich sehe da Gläser am Tisch und im Kühlschrank etc.) dürfen Sie an dieser Stelle der Meditationen nicht zurückgreifen, die unterliegt dem systematischen Zweifel. Auch Ihre Gläser sind nur eine von der Matrix erzeugte Fiktion. Das kann die Matrix beliebig manipulieren. Ihre zweifellose Gewissheit im Rechnen ist im Moment nur psychologischer Denkzwang. Descartes wird später schon noch beweisen, dass das nicht stimmen kann.

11.11.2007 / 11:31

Kommentar #3 von Frau Grasdackel:

Doch doch, Ruben, ich habe die erste Meditation gelesen, sogar ganz langsam. Ich habe begriffen, dass nach und nach Meinungen, Sinne, Wachen/Traum, Körper, Farben, Gestalten, Töne, Physik, Astronomie, Medizin, Arithmetik, Geometrie angezweifelt werden können, weil irgendein böser Geist mich täuschen will. Ich wollte auch "hartnäckig an dieser Art der Betrachtung festhalten". "Indessen ist dies ein mühevolles Unternehmen, und eine gewisse Trägheit führt mich zur gewohnten Lebensweise zurück." Ich versank "von selbst in die alten Meinungen zurück" und gab mich wieder "den schmeichlerischen Vorspiegelungen" meiner heilen Gläser hin.

12.11.2007 / 03:12

Kommentar #4 von Ruben:

Die alten Meinungen sind aber nicht zweifellos gewiss. Ätsch.

12.11.2007 / 03:14

Kommentar #5 von Frau Grasdackel:

Mensch, Sie sind ein Spielverderber!

12.11.2007 / 03:43

Kommentar #6 von Ruben:

Nein, ich freue mich sehr, dass Sie so aufmerksam mitlesen. Und wenn Sie irgendwas nicht verstehen, bitte laut aufschreien. Dann liegt's nämlich nicht an Ihrem Verstand, sondern an dem, was ich mir hier einen zusammenschreibe.

12.11.2007 / 03:45

Kommentar #7 von Frau Grasdackel:

Das freut mich, dass Sie meinen Verstand nicht anzweifeln. Das, was Sie hier zusammenschreiben, finde ich sehr lesenswert und hilfreich.

12.11.2007 / 03:48

Kommentar #8 von Ruben:

Und natürlich bitte auch laut aufschreien, wenn Sie sehen, dass ich blanken Unsinn schreibe – kann auch vorkommen.

12.11.2007 / 03:49

Kommentar #9 von Frau Grasdackel:

Ich glaube nicht, dass Sie blanken Unsinn schreiben könnten, und noch viel weniger, dass ich solchen erkennen könnte.

12.11.2007 / 03:53

Kommentar #10 von Ruben:

Das Wichtigste ist immer der Primärtext, also Descartes selbst, und es kann schon sein, dass ich mal irgendwo nicht genau mitgelesen habe und Sie oder wer anderes das sieht und sagt: Moment, so steht das aber nicht da.
Alles werde ich aber sowieso nicht machen können, merke ich. So kurz der Text von Descartes auch ist, da steckt doch allerhand was drin, ächz.

12.11.2007 / 03:58

Kommentar #11 von Frau Grasdackel:

Ja, das stimmt. Zuerst liest es sich so einfach und harmlos. Je öfter und konzentrierter man es liest, desto bewusster wird einem, welch grossartige Gedankengänge Descartes einem bietet.

12.11.2007 / 04:05

Kommentar #12 von Erika Zabel:

Ihr seid ja zwei Herzen. Uns so früh am morgen.
Descartes ist auch der Einzige, der mir hier wirklich Spass macht.

20.11.2007 / 18:25