01.11.2007 / 20:34 / Jan Bölsche liest: Mecki im Schlaraffenland (Eduard Rhein)

All you can eat. Plus a whole chicken

Reading, after a certain age, diverts the mind too much from its creative pursuits. Any man who reads too much and uses his own brain too little falls into lazy habits of thinking.
– Albert Einstein


böhmisches Rumgehänge
Im Gegensatz zu "Mecki im Schlaraffenland" spricht mir das Buch, das dieses Zitat enthält, "The 4-hour workweek" von Timothy Ferriss, aus dem Herzen. Jedoch: Nur wer dessen Botschaft nicht verstanden hat, würde an dieser Stelle darüber schreiben, denn es hat über dreihundert Seiten.

"Mecki im Schlaraffenland" hingegen nicht. Und ich habe meine Lektion gelernt.
Stattdessen: 48 Seiten, vollgemalt mit einem hedonistischen Igel, der vermutlich erfahren wird, dass ein Zuviel des Guten sich ins Gegenteil verkehrt. Und das bleibt sicher nicht die einzige inhaltliche Parallele zu "The 4-hour workweek".

Meckis Schöpfer, Eduard Rhein, hat Nachkriegsdeutschland erfunden: Hörzu, die Cash-Cow des Fernsehzeitschriftenmarktes, die Axel Springer überhaupt erst möglich machte, ein Verfahren zum Herstellen von Schallplattenaufnahmen und eben Mecki, den Namensgeber eines beliebten Kurzhaarschnitts. Dass diese Frisur auch gerade bei homosexuellen Frauen gut ankam, wusste man damals allerdings noch nicht, denn wer sich als eine solche zu outen wagte, lief Gefahr, geheilt zu werden. In diesem Klima also wuchsen sie auf, Mecki und sein Freunde.

Fast dreissig Jahre später, Ende der siebziger Jahre, las ich dieses Buch zum ersten Mal. Und so soll es nun alle dreissig Jahre sein. Ab jetzt!


01.11.2007 / 20:34 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Der Kraftmakler (1-2)


Moses: Türmchen mit menschlichem Antlitz?
Städte wurden ja bekanntlich von Ameisen erfunden, und ohne weiteres Nachdenken bei ihnen abgeschrieben. Anders als die pfiffige Ameise, die sich zu einem Kollektiv verkürzt und dann mit tausend Beinchen Erdkrumen bewegt, bis Schönes und Wohnliches dabei rauskommt, ist der Mensch aber so eine Art Individuum und möchte deshalb planen und tun und machen, und kleine dekorative Elemente an alles drankleben, damit es menschlicher aussieht und nicht insektoid. Das klappt aber nicht, und je grösser die Stadt wird, desto weniger klappt es, denn es stehen dann ja auch viel mehr Gebäude in ihr drin und man sieht dann, um mal flink ein Sprichwort zu prägen, die Stadt vor lauter Gebäuden nicht mehr. Und was man nicht sieht, kann man auch nicht planen, das wüssten auch Ameisen, wenn sie sowas wissen könnten.

Aber auch Städte, die wegen ihrer lächerlichen Grösse vollkommen unsichtbar geworden sind, haben mal klein angefangen, als winziger, einsamer Ziegelstein, und also fangen wir jetzt auch mit einem Ziegelstein an. Er ist 1400 Seiten dick, wiegt eine Bruttoregistertonne und enthält mehr Buchstaben als New York Ratten, vielleicht jedenfalls. Vorner drauf ist ein kleines Türmchen mit Gesicht, ein wenig rätselhaft vielleicht, aber gleich auf dem Vorsatzblatt sieht man, wo es hingehen soll, nach New York nämlich. Das gesamte Stadtgebiet von New York ist da abgebildet, Parks, Strassen, Spielplätze, Wohnanlagen, Brücken, aber es fehlen Teile. Das, wird der mutige Leser mit ein paar Worten belehrt, liegt daran, dass die fehlenden Teile anders als die eingezeichneten, nicht von Robert Moses geplant und verwirklicht wurden. Der nämlich über Jahrzehnte die Stadtentwicklung New Yorks unter seiner Fuchtel hatte, und durch das Anlegen des Einen und das spurlose Ausradieren des Anderen nicht nur New York, sondern wegen New Yorks Vorreiterrolle gleich die gesamte nordamerikanische Stadtlandschaft geprägt hat. Vorreitterrolle schreibt man mit nur einem T, aber was ist ein Buchstabe zu viel gegen die Umgestaltung eines ganzen Kontinents?

Diesem Kontinentgestalter, diesem planenden Ameisenkönig unter den Affen, werden wir jetzt einen Ziegelstein lang folgen, und ihm dabei zusehen, wie er New York nimmt und auf links zieht wie ein altes Sofakissen. Und am Schluss dieses Einstiegsartikels sage ich nochmal den Namen der Stadt um die es dabei geht (New York): New York.

2 von 1162 Seiten

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01.11.2007 / 18:32 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

The bumpy road to reality

Ein Stockwerk weiter unten lässt sich Aleks Scholz von Roger Penrose an die Hand nehmen und mehr oder weniger behutsam zu dem hinführen, was uns alle heftig zu umgeben scheint und fortwährend beschäftigt: Zur Wirklichkeit. Auch ich möchte dorthin. Allerdings wähle ich für den Weg zur Wirklichkeit ein anderes Vehikel, ein etwas älteres und scheinbar angestaubtes, aber meiner Meinung nach dennoch höchst taugliches: René Descartes und seine "Meditationen über die Erste Philosophie". – Wer erinnert sich nicht: Cogito, ergo sum – Was ist mein Geist? – Existiert die Aussenwelt überhaupt? – Matrix klassisch.

Descartes geistert nicht wenig durch die gegenwärtige Medien- und Fachpublikationslandschaft. Gerade in der Zeit der hochaktiven Hirnforschung und der Philosophy of Mind taucht er fortwährend auf und es vergeht kaum ein Halbjahr, ohne dass wieder irgendwer meint, Descartes widerlegt zu haben. Mit Descartes hebt das Denken der Neuzeit an und sie scheint beständig mit ihm zu hadern. Wer ist also dieser Descartes, was sagte er und was wollte er sagen? Seine Texte lesen sich scheinbar einfach, gehören aber zu den tückischsten der Philosophiegeschichte, und aufgrund dieser fallen- und schlaglochreichen "bumpy road to reality" muss man sehr aufpassen beim Lesen – man liest es am besten mehrfach. Dies ist also eine Zweit- oder Drittlektüre, denn natürlich habe ich ihn bereits gelesen. Aber diesmal soll es etwas gründlicher und aufmerksamer zugehen, was schon eine ziemliche Zumutung ist in meinem zerschlissenen Alltag. Ich werde Häppchenweise lesen. Schließlich geht es um die Wurst: Alle reden immer von dieser Wirklichkeit und widmen ihr die raffiniertesten Experimente und Theorien. Doch sie verwenden dabei in jedem Satz und jeder Behauptung Grundannahmen, von denen überhaupt nicht so klar ist, ob sie denn auch stimmen.

Philosophie beginnt da, wo der sogenannte "ontologische Schock" einsetzt: Wenn man merkt, dass die einfachsten Annahmen nicht so ohne weiteres hinhauen.
- Die Annahme zum Beispiel, dass man sich tatsächlich auf irgendeine geistunabhängige Realität außerhalb unseres Denkens bezieht, wenn man von den Dingen da draussen spricht (Externality).
- Oder die Annahme, dass es, wenn es da draussen etwas gibt, auch mehrere Einzeldinge sind und nicht nur ein riesiges Objekt: "The Blobject" (the big object), in dem wir nur rein willkürlich irgendwelche Segmente umreißen und dann meinen, diese Segmente würden auch unabhängig von uns Einzeldinge sein – ein Tisch, ein Baum, ein Molekül, ein Ding, ein Zustand, ein Etwas,... (Individuality).
- Oder: Treffen unsere grundlegendsten Wörter und Begriffe, ohne die wir keine einzige wissenschaftliche Theorie über die Welt bilden können, überhaupt die Wirklichkeit? Sind unsere Gründe für die Annahme, dass wir irgendetwas sicher wissen können über diese angebliche Wirklichkeit da draussen, denn überhaupt tragfähig? (Objectivity)
Externality, Individuality und Objectivity – das sind auch in der heutigen Metaphysik noch drei große Grundprobleme. Alle drei Fragen finden sich in exponierter Weise in Descartes' Meditationen und erhalten dort eine ebenso raffinierte wie weitreichende Antwort.

Was können wir tatsächlich sicher wissen? Bekanntlich lautet eine der Kernaussagen Descartes': Selbst wenn mir alle bisherigen Gewißheiten dahinschwinden und ich alles bezweifle, eines weiß ich absolut sicher: Dass ich zweifle, und somit existiere. Aber kann es nicht sein, dass ich selbst diese Behauptung nicht so ohne Weiteres als sicheres Wissen formulieren kann? Diese Frage ist, wie sich noch zeigen wird, berechtigt und beunruhigend.

Die Reclamausgabe der Meditationen kostet nur ein paar Euro. Schöner ist natürlich die vollständige Ausgabe der Meditationes mit dem ziemlich umfangreichen Briefwechsel von Descartes, der mit seinen damaligen Lesern geführt werden musste, weil sie eben genau in obengenannte Schlaglöcher gerieten und sich mitunter heftig beschwerten (erschienen im Meiner-Verlag, 493 Seiten).


01.11.2007 / 18:29 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Die Strasse zur Wirklichkeit (1-7)

Man darf sich nicht von der Wirklichkeit korrumpieren lassen. (Zitat von Catalin D. Florescu) Schon, aber wie stellt man das an? Es klingt so, als dürfe man nicht nass werden, wenn man ins Wasser geht, oder als solle man in einen stockdunklen Keller gehen, ohne die Treppe runterzufallen. Die Wirklichkeit ist ein vielarmiger Tintenfisch, der uns von allen Seiten mit seinen Tentakeln belästigt.

Zur Zeit, zumindest in Schottland, vorwiegend mit Dunkelheit. Kommt man abends nach Hause, brennt schon das Licht an der Aussentreppe, weil irgendein Idiot sich im Dunkeln nicht durch die hohle Gasse traut. Ich muss an dieser Stelle leider ein Subjekt in den Text einführen, weil es technisch nicht möglich ist, dass jeder in einer hohlen Gasse wohnt. Viele haben auch kein Meer hinterm Haus, und ich hätte auch keine Ahnung davon zu dieser Jahreszeit, wenn es nicht akustische, wenn auch schwer verständliche Signale geben würde. Die Wirklichkeit bündelt Dunkelheit seltsam oft mit Kälte, und Kälte wiederum mit Wind, undichten Fenstern und dem Auftreten von Raubspinnen in der Wohnung, die man nur rauskriegt, wenn man die Heizung nicht einschaltet (Kälte). So ist die Realität eingerichtet, dunkel und entweder kalt oder voller Spinnen, die ekelhafte Geräusche beim Zerquetschen von sich geben, vermutlich unfreiwillig.

Es ist Ende Oktober, glaube ich, und den nächsten Sonnenstrahl erwartet man hier für Anfang März. Harte Zeiten, in denen die einzige Unterhaltung darin besteht, dass vor dem Fenster der Ast eines Baumes im Wind vor der Laterne hin- und hertreibt, und so grausige Schatten an den Wänden entlangzucken. Manchmal liegt das dicke Buch im Dunkeln, manchmal im Halbdunkeln, so dass man den Untertitel "a complete guide to the laws of the Universe" gerade so erkennen kann. Hält man den gewaltigen Quader ins Licht, so erkennt man, dass er voll ist mit Twistor-Theorien, FAPP-Philosophien, Quanglements und Clifford-Bündeln. Clifford-Bündel klingt fast so wie ein vollsynthetischer Schlafsack, der einen auch dann warm hält, wenn Raureif von den Wänden fällt.

Penrose, der Mathematiker aus Oxford, stellt seinem grössenwahnsinnigen Werk ein Vorwort voraus, das eine lange Apologetik enthält, warum sein Buch voll mit Mathematik ist. Er möchte vermeiden, dass man sich vor dem Buch fürchtet, so wie vor der Dunkelheit, ein ehrbarer Versuch, aber natürlich nutzlos, denn, hallo, das Buch wiegt anderthalb Kilo und es kann sehr viel Blut aufsaugen. Dieses Buch ist so angsteinflössend, es sollte verboten werden, es mit ins Flugzeug zu nehmen. Was Penrose aber stattdessen im Vorwort liefert, ist ein gutes Beispiel für den Irrsinn, mit dem man jeden Tag so klarkommen muss: Auf wirklich vollen zwei Seiten erklärt er, was drei Achtel sind. Er kommt zu dem überraschenden Schluss "irgendwas, das existiert", aber wie er dazu kommt, das schafft Vertrauen. Dieses Buch wird an keiner Stelle den einfachen Weg gehen und meinetwegen von Branes und Strings reden, wie das Scharlatane wie Stephen Hawking tun; dieses Buch wird alles verdammt noch mal erklären. Von ganz von vorne.

Am Schluss des Vorworts schlägt Penrose vor, die mathematischen Formeln und ihre Herleitung entweder zu ignorieren oder halt nicht, und genau das gedenke ich den Winter über zu tun. Vollständig ignorieren kann man auch den danach folgenden Prolog, der eine langweilige Fiktion von Handwerkern, dunklen Wolken und Menschenopfern enthält, samt kompletten Zerwürfnis mit der Welt, auch wenn Parallelen zur richtigen Wirklichkeit nicht zu übersehen sind. Hoffnung verspricht allein Pythagoras, womit das Buch dann richtig losgeht. Wir sind auf Seite 7, nur noch 1042 Seiten to go. Aber bestimmt sind einige davon voll mit Bildern.


01.11.2007 / 18:28 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Andrae liest Schmidt

Als ich Schmidt vor ungefähr fünfzehn Jahren zum ersten Mal sah, dachte ich: Was ist denn mit dem los? Er stand nackend neben meinem damaligen Freund unter einem Wasserfall irgendwo in Frankreich oder Spanien und gab mit seinen Mäuschen* an den Oberarmen an. Das lange blonde Haar trug er im Rücken zu einem ansehnlichen Pferdeschwanz gebunden. Mein damaliger Freund langweilte mich sehr mit diesem Diavortrag über eine Tour durch die Pyrenäen. Aber dieser gut gebaute Hüne, an dessen stählerner Brust die Wassertropfen aufgeprallt wären wie Ionen auf eine Kathode bei einer selbständigen Gasentladung, um dort Elektronen herauszuschlagen, hätte sein flauschiger, goldener Pelz dort nicht ebendies zu verhindern gewusst, zog mich in seinen Bannkreis und sollte mich daraus so schnell nicht wieder entlassen. Ein tolles Bild! Wer war dieser Mann? Ich stellte diese Frage meinem damaligen Freund und erhielt zur Antwort: Jochen Schmidt. Ein Name, den ich mir merken musste.

Noch fünfzehn Jahre später bin ich fasziniert von allem, was Jochen Schmidts Körper betrifft. Klar also, dass ich mir sein neuestes Buch besorgen musste, zumal er sich extra dafür mit Anziehsachen in eine Sauna zwischen eine Frau und einen Mann gesetzt hatte, wie ich freudig erregt feststellte, als ich es zum ersten Mal in den zitternden Händen hielt. Amazon hatte ganze Arbeit geleistet und mir den Stoff, nach dem ich verlangte, binnen weniger Stunden geliefert. Meine strahlende Hoffnung in all den Tagen, die Schmidts neuester Streich nun schon unberührt neben meinen Bett liegt, ist die, dass er sich diese ganzen hässlichen Anziehsachen darin vom Leib reißen wird und ich mir weiterhin verzückt die Frage stellen kann: Was ist denn mit dem los? Toi toi toi.

*musculus


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