07.11.2007 / 23:33 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (143-161)

Es wird schwer werden, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat nicht zu lesen, denn es fängt schon mal sehr gut an: mit einer Tabelle der Abkürzungen nämlich. "UB" steht für "unbekanntes Buch, "QB" für "quergelesenes Buch". Andererseits wäre es sicherlich die eleganteste Lösung, gerade dieses Buch konsequent nie zu lesen. Allerdings rät mir der weise Herr Rutschky dazu, denn angeblich ist hier Material für das Prokrastinationsbuch zu finden. Ob er das Buch selbst gelesen oder nur so wie ich vorsichtig den Klappentext und das Inhaltsverzeichnis betrachtet hat, weiss ich nicht. Ich werde kompromisshalber versuchen, eine prokrastinationsrelevante Stelle zu finden.

Zum Beispiel das Kapitel "Sich nicht schämen", denn schliesslich muss man sich auch bei der Prokrastination als Erstes über Scham und Schuldgefühle hinwegsetzen lernen. Gleich auf der ersten Seite dieses Kapitels heisst es:

"Wie wir gesehen haben, hat das Sprechen über ein Buch wenig mit seiner Lektüre zu tun. Die beiden Tätigkeiten sind völlig unabhängig voneinander, und ich für meinen Teil rede, seit ich praktisch zu lesen aufgehört habe, nur um so länger und besser über die Bücher, da mir diese Abstinenz die nötige Distanz – Musils "Überblick" – dazu verschafft."

Now we're talking! Allerdings fragt man sich, was da wohl auf den ersten 142 Seiten passieren mag, wenn eine so zentrale Aussage des Buchs jetzt erst auftaucht. Vielleicht steht in jedem Kapitel dasselbe und Bayard glaubt, wir merken es nicht? Weiter geht es wieder mit Lesemaschine zweiten Grades, nämlich Auszügen aus David Lodges Schnitzeljagd. Lodges Protagonist ist empört über das "Scheissbuch" eines Universitätskollegen, das er gar nicht gelesen hat, "das war auch gar nicht nötig, ich hab oft genug mit ihm in diesen öden Prüferkonferenzen gesessen, ich kann mir schon denken, wie es ist." Eine völlig legitime Haltung laut Bayard, denn:

"Im Gegensatz zu dem berühmten Proust'schen Postulat der Trennung von Autor und Werk – oder eher im Gegensatz zu einer bestimmten Lesart dieses Postulats – ist ein Buch kein Meteorit und kein Produkt eines verborgenen Ichs. Es ist oft nichts anderes als die Verlängerung der Person, die wir kennen (unter der Bedingung natürlich, dass wir uns die Mühe gemacht haben, sie kennenzulernen), und es ist absolut möglich, sich wie Dempsey einzig durch den Umgang mit dem Autor eine Meinung zu bilden."

So weit, so gut, das gilt sicher nicht nur für Jochen Schmidt, dem man neulich in irgendeiner Zeitung vorwarf, er schreibe ja wohl keine richtige Literatur, weil es in seinen Büchern immer nur um ihn selbst gehe, und der seitdem vermutlich an flammenden Leserbriefen ("aber Proust!") arbeitet. Problem: Die Autoren sind oft weniger sympathisch als ihre Bücher, so dass man das Werk missmutig zur Bücherspende geben muss, wenn man den Autor einmal auf einer Lesung erlebt hat. Noch schlimmer ist es, wenn der Autor sympathisch, das Buch aber unlesbar ist. Nicht alle Autoren sind so zuvorkommend, ihre Person in ihren Büchern exakt in die passende Richtung zu verlängern.

Wer jetzt beschliesst, dieses Buch auch einmal nicht zu lesen, der sei gewarnt: Der Autor ist Psychoanalytiker, es geht also neben all diesen schönen Dingen auch um verängstigte innere Kinder, durch Literatur zu stopfende Lücken in der Persönlichkeit, und so weiter, das Übliche halt. Aber es ist ja alles für einen guten Zweck, nämlich die Befreiung vom "repressiven Bild einer lückenlosen Bildung ... dem wir vergeblich ein ganzes Leben lang hinterherrennen". Deshalb gehen wir versöhnlich mit einem Zitat auseinander, das die Lesemaschine ganz gut beschreibt:

"In diesem kulturellen Kontext bilden die Bücher – die gelesenen wie die ungelesenen – eine Art zweite Sprache, die wir benutzen, um über uns selbst zu reden, um uns vor anderen auszudrücken und mit ihnen zu kommunizieren."

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.