24.06.2010 / 18:03 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010

Lesemaschine betreut Klagenfurt


Bachmanngucken wie zuhause: Klagenfurt 2010

Nebenan in der Riesenmaschine arbeitet die automatische Literaturkritik, hier wird noch von Hand gemeint: Die Lesemaschine bespricht alle Wettbewerbstexte der 34. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.
Wir haben die Lesetermine vorher verteilt, damit niemand sich jemanden aussuchen kann. Nun müssen wir das lesen, was das das Los für uns vorgesehen hat.

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13.06.2010 / 16:46 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Moppel Wawerzinek, der Wiedergänger

1991 war in Klagenfurt das Jahr "Babyficken", das Jahr, in dem der erste Text mit Migrationshintergrund den Bachmannpreis gewann und das Jahr, in dem sich Karl Corino in der Abstimmung um den Ernst-Willner-Preis "zwischen Diphterie und Scharlach" für Marcel Beyer (Diphterie) entschied. Sein Favorit, vielleicht auch sein Kandidat, war Peter Wawerzinek, der in diesem Jahr auf Einladung von Meike Fessmann wieder dabei ist. Fessmann setzt offenbar ganz auf die Karte DDR, spielt also quasi mit zwei schwarzen Bauern. Methode Hildegard E. Keller, die trotz zweier Preise im Vorjahr (Krampitz und Sander) ihre Strategie in diesem Jahr geändert hat. Studiodekor damals: Lila Puzzle. In diesem Jahr ist es blau.

Peter Wawerzinek las 1991 in Klagenfurt "Moppel Schappik", vermutlich aus Moppels Schappiks Tätowierungen.

Thema: Moppel Schappik zieht nach Berlin und leidet offenbar unter Reim- und Wortspielzwang.

Das ist noch der Osten, wie lang existierte das "Gastmahl des Meeres" am Alexanderplatz? Ich las vorige Woche was vor im ehemaligen ungarischen Kulturzentrum, direkt neben dem Gastmahl des Meeres, ein perfektes 70er-Ambiente mit Spiegeln, rechten Winkeln und viel Braun. Der neue Betreiber versucht, dem Ganzen den typisch Berlin-Mittigen Sperrmüll-Touch zu geben, es noch ostiger aussehen zu lassen als ohnehin schon. Moppel Schappik schlürft Anfang der 80er Taschenkrebse, bevor er "mit einem Halbstarken über Giftpflanzen, Rumbatanzen, Weitflugschanzen blaablaate, die Kellnerin in einen Dialog über das industrielle Bauen und Frauenverhauen verwickelte und frech-forschelnd seiner Wege ging".
Immerhin hat er einen Videorekorder, oder ist das irgendwie übertragen zu verstehen, dass er nun in seinem Schaukelstuhl sitzt und Literaturverfilmungen anschaut, statt mit Proleten zu reden?

Ungarisches Kulturzentrum/hbc

Prater, Alexanderplatz, Gastmahl des Meeres, Kollwitzplatz, Leninallee, war alles mal weit weg von Klagenfurt. Heute dagegen schickt der Prenzlauer Friedrichshain Jahr für Jahr grössere Abordnungen zum Vorlesen an den Wörthersee.

Dieser Schappik ist ein Bohèmien, Medizinstudium in Rostock abgebrochen, auf dem Friedhof gejobbt, dann nach Berlin. Lungern, beobachten, umziehen, Gedichte schreiben: "Im Verlaufe eines Tages ist die Nacht die schönste Jahreszeit."

Ist Schappik ein alter ego von Wawerzinek? Der: In Rostock geboren, Studium abgebrochen, Totengräber und anderes, dann Berlin. Von Wawerzineks Homepage: "...war er bereits in den Achtzigerjahren als Performance-Künstler und Stegreifpoet aktiv und unter dem Namen "ScHappy" in der Ostberliner Literatenszene im Stadtteil Prenzlauer Berg bekannt." Kein Geheimnis, dass seine Texte "stark autobiografisch geprägt" sind.

Prädikat: Verspielt. Überspielt.

Auch von Wawerzinek erscheint demnächst ein DDR-Roman, seine eigene Geschichte vom Aufwachsen in der DDR: Rabenliebe. Eine Erschütterung.
Hier Leseprobe.


11.06.2010 / 15:37 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Finale Häutung

Klagenfurt wirft seine Kandidaten voraus, und als gewissenhafte Beobachterin bemühe ich mich auch in diesem Jahr, von jedem Kandidaten vorher etwas zu lesen. Ich begann mit A wie Altwasser, Peter Harry, bin mir aber noch nicht sicher, ob ich über A hinauskommen werde. Volker Harry Altwasser wird vermutlich aus seinem am Tag nach dem Wettbewerb erscheinenden DDR-Abwrackroman "Letztes Schweigen" lesen. Weil DDR in Klagenfurt immer gut läuft und der Mann seinen Job ernst nimmt (keine Liebesromane), ist er Preiskandidat. Ausserdem wurde er von Meike Fessmann eingeladen, die bei ihrem Klagenfurtdebüt im vorigen Jahr gleich den 3Sat-Preis gewann.


Gelesen: Volker Harry Altwasser, Letzte Haut
Ich bin schon mittendrin, 1943, der Protagonist befindet sich zur Zeit an der Ostfront, strafversetzt wegen Querulantentum. Es handelt sich um den Richter Dr. Schmelz, einen aufrechten Fachidioten, der immer noch an die Gewaltenteilung und das positive Recht glaubt und zuletzt der SS auf den Wecker fiel, weil er einem ihrer Mitarbeiter Korruption nachweisen wollte.
Der Roman beruht auf der Geschichte des SS-Ermittlungsrichters Georg Konrad Morgen. Der ermittelte ab 1944 im KZ Buchenwald und schaffte es, den früheren Lagerleiter Koch zu überführen. Koch wurde noch 1945 von einem SS-Sondergericht verurteilt und anschliessend hingerichtet.
Die systematische Ermordung der Insassen interessiert Dr. Schmelz bei den Ermittlungen kaum, seine Position: Wenn der Führer das so angeordnet hat, kann er mit juristischen Mitteln da sowieso nichts erreichen. Aber was Recht ist muss Recht bleiben, also beschäftigt er sich mit den Taten, die auch nach Nazirecht strafbar bleiben: Unterschlagung, Veruntreuung und die Ermordung von Häftlingen aus persönlichen Gründen (Mordmerkmale: niedere Beweggründe, Verdecken eines Verbrechens). "Niedere Beweggründe" ist ja auch so ein unscharfer Rechtsbegriff, den Juristen mit dem jeweils aktuellen Geist abgleichen. Zwischen Karrieregeilheit und Rechtspositivismus schlängelt der Mann sich so durch und wird selber zum Mörder – im Dienst seiner Sache.

Nun also Schützengraben, viel Blut, herausquellendes Gedärm und wechselnde Kameraden. Gerade lese ich auf Seite 216 vom "Rottenführer Grass" und vom "Schützen Walser".
Auf Seite 217 und 218 denke ich, wenn Altwasser jetzt mit Kempowski kommt, hört der Spass auf – schon erscheint auf Seite 219 der "Oberschütze Kempowski". Hört aber noch lange nicht auf.
S. 224: "Hauptsturmführer Mann". Ha. Ha. Ha. Bisher gefiel mir das Buch ganz gut.
S. 231: "... Kanonier Köppen, wie der voranschritt." Aha, es scheint also nichts Persönliches zu sein. Ich finde trotzdem, er hätte den Namensgenerator nehmen können oder ein Telefonbuch aus dem vorigen Jahrhundert.
S. 239: "Scharführer Benn, Ohrenarzt im Zivilen."
Wer ist der Nächste, Volker Harry Altwasser? Hat schon jemand einen Tipp?
Ha, hätte man auch drauf kommen können:
S. 240: "Nachdem Stabsscharführer Hesse die Division schneidig und vorschriftsmässig zum Appell vorbereiten hatte, ..." Fehlerchen "vorbereiten" lasse ich mal drin, steht beispielhaft für viele Fehlerchen, 1. Auflage, musste schnell raus? Ärgerlich finde ich den "Erprinz von Waldeck Pymont", der in Wahrheit "Josias zu Waldeck und Pyrmont" hiess – kein Tippfehler, denn das r in Pyrmont fehlt durchgehend. Himmler heisst ja auch nicht Himmr, also was soll das? Vielleicht das Lektorat Mist gebaut mit "alle ersetzen"?

Wenige Stunden später, S. 305: "Ihr Name ist von nun an Altwasser, Harry Altwasser, soweit klar?"

Die Dialoge sind nicht der Rede wert (harhar). Aber ich interessiere mich gerade nicht für die Feinheiten.

Das ist so ein "So-könnte-es-gewesen-sein"-Roman, ein Versuch der Erklärung, wie jemand geworden ist, was er ist. Wie der ehrgeizige Richter, der an die Gewaltenteilung glaubt, am irgendeinem heraushängenden Ende gegen die Vernichtungsmaschine kämpft, ohne sie als solche in Frage zu stellen. Er verliert genau so schnell das Mitleid mit den Opfern, wie er sich vorher an der Ostfront an das Töten gewöhnt hat. Der Bericht von der Front: Ein Versuch der Erklärung, wie unter den Umständen überhaupt jemand überleben konnte. Was das für einer sein muss, der überlebt, während um ihn herum alle draufgehen. Das ist (siehe Dialoge) nicht immer superelegant geschrieben ("kein Thema", "so etwas von egal"), aber Altwasser hat sehr gewissenhaft recherchiert (bzw. recherchieren lassen) und sich bei der Einfühlung in seinen Helden nichts geschenkt, auch keine Geschmacklosigkeit. Aber was soll's: Geschmacksfragen haben die Täter auch nicht geschert. Ordentlich aufgebaut, mit unterschiedlichen Erzählperspektiven, sachdienliche Hinweise zu den Geschehnissen im übrigen Kriegsgebiet. Das tröstet mich gerade über die Albernheit mit den Autorennamen hinweg. Vermutlich auch über meine kleine Krise auf Seite 311, ausgelöst durch eine Slapstick-Szene, in der der Held Dr. Schmelz eine heisse Leiter hoch klettert und an einem Förderband nein. Das will ich nicht nacherzählen.
Unnötig unappetitlich die Rahmengeschichte, in der der alte Dr. Schmelz sich 1982, allein in seiner Wohnung, erinnert, schuldig fühlt und sich dafür büssen lässt. Die Sache mit der Haut.

Pro: Den Autor hat die Geschichte und die Figur wirklich interessiert. Contra: Krankheit/Haut als zu Tode gerittene Metapher.


12.04.2010 / 02:00 / Angela Leinen liest: Jahrestage (Uwe Johnson)

Zwei bis drei Jahrestage (1-10)


Sommer 1967, Bad Godesberg
Heute hätte ich beinahe Uwe Johnsons "Jahrestage" gekauft. Sieht sehr modern aus, diese Ausgabe mit dem aufgeklebten Pappdeckel. Das Innehalten hat sich gelohnt: Der Einband steht ja kein bisschen über, das Ding ist einfach billig gemacht. Der rote Seitenschnitt bekommt schon vom Anfassen hässliche Stellen. Ich glaube, das haben die so gemacht, damit es schon vor dem Lesen zerlesen aussieht. Damit man es nicht mehr lesen muss.
Das ist wie mit den Jeans, man bekommt ja praktisch nur noch getragene Ware, je teurer desto getragener. Aber ich will nicht nörgeln, schwierig genug, eine zu finden, die passt, da nimmt man zur Not auch eine Getragene. Und wie ich, wenn mir einmal eine Jeans passt, gleich zwei oder drei davon kaufe, lese ich auch bewährte Bücher immer wieder. "Jahrestage" passen, da kann man auch zwei, drei im Regal haben. Ich habe die vierbändige orange Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von 1988 und den schönen Dünndruckband zum 50. Jubiläum des Verlages von 2000. Beide gelesen. In der Pappschachtel wird auch nichts Anderes stehen. Nehme ich also wieder die Orange.
Mein Vater übrigens sagte früher, wenn es ihm zu bunt wurde, immer: "Wir sind doch hier nicht in der DDR, wo jeder machen kann, was er will." Das ist jetzt auch kein Kracherscherz, aber immerhin eine Umleitung zum Buch. Gesine Cresspahl nämlich wollte auch lieber ein bisschen mehr machen, was sie will, und hat die DDR deshalb frühzeitig verlassen. Gesine kenne ich noch aus der Schule, da lasen wir "Musmassungen über Jakob".

21. August 1967, meine Mutter geht mit mir schwanger, meinen Bruder in einer Kinderkarre vor sich her schiebend. Ihre Haare sind toupiert, ihr Rock ist kurz, mein Bruder trägt eine kurze gestrickte Trägerhose. In ein paar Tagen, am 25. August, wird mein Vater 29, Erich Honecker 55 und Leonard Bernstein 49. Bonn, Berlin, New York. Wenn man bei Google "Wetter 21. August 1967" eingibt, bezieht sich gleich der erste Treffer auf Uwe Johnsons "Jahrestage". Laut Spiegel beginnen Schmidt und Brandt an diesem Tag mit der Anerkennung der DDR. Es herrscht grosse Koalition.

Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, an der Küste New Jerseys.


01.02.2008 / 16:37 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Primadonna quasi assoluta

1990 las Alain Claude Sulzer "Am Arm des Apothekers"

"Mezzosopranistin" (Papier, Tesa, Filzstift) von K. Leinen
Karl Corino, der sich im letzten Jahr durch Pamp (Verweigerung bei PeterLicht) und Trotz (über die Schmähung seines Kandidaten Björn Kern) in den Schmollwinkel manövrierte (Zusammenfassung), war 1990 auch schon Juror. Zu "Klagenfurter Texte 1990" schrieb er ein Vorwort: "... obwohl ich einräume, dass einem schon die sich hin und wieder ergebende 'Minderheitsposition' in der Jury erheblich zu schaffen machen kann." In Optiker-Fragen kannte er sich aber sicher aus. Wenn Sulzer nicht sein Kandidat war, wird er ihn getadelt haben.

Inhalt: Die "berühmteste Sängerin der Welt" lebt im Alter im Badezimmer ihrer Pariser Wohnung, in Einsamkeit denkt sie zurück an sich selber mit 13. Ohne Brille tapste sie am Arm ihres Vaters, des Apothekers, in (induziert) die Opera Colon in Buenos Aires, in der sie dann 18 Jahr später ihr Debüt gab.

Beginn (kleiner Ausschnitt aus dem zweiten Satz):

... Nun aber sass sie in ihrem geräumigen Badezimmer, die Beine übergeschlagen, die Augen hinter dicken, stark gewölbten Gläsern wie durch zwei Lupen vergrössert, ... und starrte auf die Tonbänder zu ihren Füssen...

Sulzer erzählt so dicht an Maria Callas entlang, dass er auch ihre wirklichen Lebensdaten hätte nehmen können. Ein paar Änderungen zwischen New York, Athen und Buenos Aires, was soll's. "Sie war so kurzsichtig, dass sie nun, ohne Brille, ihre Umgebung ... lediglich in Umrissen erahnte" – stimmt. Nur verkleinern die Brillen gegen Kurzsichtigkeit die Augen.

Dann erfahren wir, dass so ein Sängerleben nicht immer so glitzy ist wie in dem Moment, in dem die Diva sich Norma fühlt – wir ahnten es.

Maria Callas starb im September 1977 in Paris. Ich war neun und hatte begonnen, donnerstags den Stern zu durchblättern. Kurz vor Deutscher Herbst und dem Tod von Elvis Presley wird darin auch ein grosser "Die Diva starb einsam"-Artikel gestanden haben. Ich erinnere mich, schon als Kind bebilderte Berichte gelesen zu haben über Tabletten und den Alten mit den Tankern, Bilder einer stark geschminkten Frau, mal dick und jung, mal älter und dünn.

Ausser dass Sulzer ihr die Brille umgedreht hat, erfahre ich nichts Neues. Aber muss das? Mich erinnert es an Stefan Zweig. Nichts gegen Stefan Zweig, "Sternstunden der Menschheit" ist immer noch ein prima Konfirmationsgeschenk. Zweig aber schrieb die bunten Bilder zu nicht fotografierten Ereignissen. In einem Band: "Dunkle Stunden der Kunst" wäre Sulzers Erzählung gut aufgehoben. Makellos unmodern formuliert, sauber aufgebaut, einwandfreie Rückblenden. Um es interessant zu machen, hätte der vornehme Sulzer aber viel indiskreter mit Frau Callas umgehen müssen. Oder sich eine eigene Sängerin erfinden.

Prädikat: Bei lobenswerter Ich-Enthaltsamkeit leider unergiebig.

Texte aus 8 von 30 Jahren gelesen.


1978, 1980, 1981, 1991, 1996, 1999, 2005


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