11.06.2010 / 15:37 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Finale Häutung

Klagenfurt wirft seine Kandidaten voraus, und als gewissenhafte Beobachterin bemühe ich mich auch in diesem Jahr, von jedem Kandidaten vorher etwas zu lesen. Ich begann mit A wie Altwasser, Peter Harry, bin mir aber noch nicht sicher, ob ich über A hinauskommen werde. Volker Harry Altwasser wird vermutlich aus seinem am Tag nach dem Wettbewerb erscheinenden DDR-Abwrackroman "Letztes Schweigen" lesen. Weil DDR in Klagenfurt immer gut läuft und der Mann seinen Job ernst nimmt (keine Liebesromane), ist er Preiskandidat. Ausserdem wurde er von Meike Fessmann eingeladen, die bei ihrem Klagenfurtdebüt im vorigen Jahr gleich den 3Sat-Preis gewann.


Gelesen: Volker Harry Altwasser, Letzte Haut
Ich bin schon mittendrin, 1943, der Protagonist befindet sich zur Zeit an der Ostfront, strafversetzt wegen Querulantentum. Es handelt sich um den Richter Dr. Schmelz, einen aufrechten Fachidioten, der immer noch an die Gewaltenteilung und das positive Recht glaubt und zuletzt der SS auf den Wecker fiel, weil er einem ihrer Mitarbeiter Korruption nachweisen wollte.
Der Roman beruht auf der Geschichte des SS-Ermittlungsrichters Georg Konrad Morgen. Der ermittelte ab 1944 im KZ Buchenwald und schaffte es, den früheren Lagerleiter Koch zu überführen. Koch wurde noch 1945 von einem SS-Sondergericht verurteilt und anschliessend hingerichtet.
Die systematische Ermordung der Insassen interessiert Dr. Schmelz bei den Ermittlungen kaum, seine Position: Wenn der Führer das so angeordnet hat, kann er mit juristischen Mitteln da sowieso nichts erreichen. Aber was Recht ist muss Recht bleiben, also beschäftigt er sich mit den Taten, die auch nach Nazirecht strafbar bleiben: Unterschlagung, Veruntreuung und die Ermordung von Häftlingen aus persönlichen Gründen (Mordmerkmale: niedere Beweggründe, Verdecken eines Verbrechens). "Niedere Beweggründe" ist ja auch so ein unscharfer Rechtsbegriff, den Juristen mit dem jeweils aktuellen Geist abgleichen. Zwischen Karrieregeilheit und Rechtspositivismus schlängelt der Mann sich so durch und wird selber zum Mörder – im Dienst seiner Sache.

Nun also Schützengraben, viel Blut, herausquellendes Gedärm und wechselnde Kameraden. Gerade lese ich auf Seite 216 vom "Rottenführer Grass" und vom "Schützen Walser".
Auf Seite 217 und 218 denke ich, wenn Altwasser jetzt mit Kempowski kommt, hört der Spass auf – schon erscheint auf Seite 219 der "Oberschütze Kempowski". Hört aber noch lange nicht auf.
S. 224: "Hauptsturmführer Mann". Ha. Ha. Ha. Bisher gefiel mir das Buch ganz gut.
S. 231: "... Kanonier Köppen, wie der voranschritt." Aha, es scheint also nichts Persönliches zu sein. Ich finde trotzdem, er hätte den Namensgenerator nehmen können oder ein Telefonbuch aus dem vorigen Jahrhundert.
S. 239: "Scharführer Benn, Ohrenarzt im Zivilen."
Wer ist der Nächste, Volker Harry Altwasser? Hat schon jemand einen Tipp?
Ha, hätte man auch drauf kommen können:
S. 240: "Nachdem Stabsscharführer Hesse die Division schneidig und vorschriftsmässig zum Appell vorbereiten hatte, ..." Fehlerchen "vorbereiten" lasse ich mal drin, steht beispielhaft für viele Fehlerchen, 1. Auflage, musste schnell raus? Ärgerlich finde ich den "Erprinz von Waldeck Pymont", der in Wahrheit "Josias zu Waldeck und Pyrmont" hiess – kein Tippfehler, denn das r in Pyrmont fehlt durchgehend. Himmler heisst ja auch nicht Himmr, also was soll das? Vielleicht das Lektorat Mist gebaut mit "alle ersetzen"?

Wenige Stunden später, S. 305: "Ihr Name ist von nun an Altwasser, Harry Altwasser, soweit klar?"

Die Dialoge sind nicht der Rede wert (harhar). Aber ich interessiere mich gerade nicht für die Feinheiten.

Das ist so ein "So-könnte-es-gewesen-sein"-Roman, ein Versuch der Erklärung, wie jemand geworden ist, was er ist. Wie der ehrgeizige Richter, der an die Gewaltenteilung glaubt, am irgendeinem heraushängenden Ende gegen die Vernichtungsmaschine kämpft, ohne sie als solche in Frage zu stellen. Er verliert genau so schnell das Mitleid mit den Opfern, wie er sich vorher an der Ostfront an das Töten gewöhnt hat. Der Bericht von der Front: Ein Versuch der Erklärung, wie unter den Umständen überhaupt jemand überleben konnte. Was das für einer sein muss, der überlebt, während um ihn herum alle draufgehen. Das ist (siehe Dialoge) nicht immer superelegant geschrieben ("kein Thema", "so etwas von egal"), aber Altwasser hat sehr gewissenhaft recherchiert (bzw. recherchieren lassen) und sich bei der Einfühlung in seinen Helden nichts geschenkt, auch keine Geschmacklosigkeit. Aber was soll's: Geschmacksfragen haben die Täter auch nicht geschert. Ordentlich aufgebaut, mit unterschiedlichen Erzählperspektiven, sachdienliche Hinweise zu den Geschehnissen im übrigen Kriegsgebiet. Das tröstet mich gerade über die Albernheit mit den Autorennamen hinweg. Vermutlich auch über meine kleine Krise auf Seite 311, ausgelöst durch eine Slapstick-Szene, in der der Held Dr. Schmelz eine heisse Leiter hoch klettert und an einem Förderband nein. Das will ich nicht nacherzählen.
Unnötig unappetitlich die Rahmengeschichte, in der der alte Dr. Schmelz sich 1982, allein in seiner Wohnung, erinnert, schuldig fühlt und sich dafür büssen lässt. Die Sache mit der Haut.

Pro: Den Autor hat die Geschichte und die Figur wirklich interessiert. Contra: Krankheit/Haut als zu Tode gerittene Metapher.