25.12.2007 / 09:32 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Erziehung zum Sozialismus

1978 las Helga Schütz aus dem Roman "Julia oder Erziehung zum Chorgesang".

Recycling, postsozialistisch
Ich hatte ein paar "Kinder von Golzow"-Filme gesehen, da übten die Zehnjährigen die "Kinderhymne" von Brecht/Eisler (reinhören dort). Ein paar Tage später saß ich frierend auf dem Chorpodest im Kölner Dom und sonder Maß ohrwürmte es mir: "Weihrauch sparet nicht noch Myrrhe, Kyrie nicht Hochgesang". Quasi im Tabernakel lag der nächste Text bereit: Chorgesang und frühe DDR.

Wenn DDR-Autoren nach Klagenfurt ausreisen durften, was nicht immer der Fall war, gewannen sie meistens auch einen Preis. Sie taten gut daran, das Geld an Ort und Stelle zu verjubeln, sonst drohte Zwangsumtausch. Ulrich Plenzdorf gewann 1978 mit "kein runter kein fern" den Bachmannpreis (100.000 ÖSchi), das kannte ich aber schon. Helga Schütz ging knapp leer aus, DDR war vielleicht aufgebraucht, schließlich waren auch noch die Schweizer und die Westdeutschen zu berücksichtigen. Viel 70er schwappte 1978 durch die Texte: Hannelies Taschau ("Mein Körper warnt mich vor jedem Wort") reagiert auf die Selbstmorde in Stammheim, Hanns-Josef Ortheil ("Der Weg, der Fermer nach Seebüll führte") lässt seinen Helden vom Wehrdienst desertieren, Ursula Krechel ("Zucker, die Lähmung der Moleküle") wohnt in einer WG und hat was mit ihrem Professor, Angelika Mechtel ("Aufzeichnungen über eine Reise zu Felix") reist einem spanischen Dissidenten hinterher (der: tot). Die meisten Protagonisten sind Studenten. Und die Schweizerin Gertrud Leutenegger gewann den Preis der Jury für einen Text, in dem ein weisser Clown auf einem Fahrrad durch Zürich fährt ("Zürich oder Immer wieder ist Atlantis in Gefahr") – Rosina Wachtmeister lässt grüßen.

Helga Schütz dagegen: Um 1960 in der noch jungen DDR.

Liebe Julia! Abitur, ja, was ist denn das für ein Beruf und bist du dann was gebessert als in der Baumschule? Inge Sohla hat eine schöne Stelle im Wasserwerk als selbständiger Betriebsgärtner. Du musst es ja wissen.

Julia, als Kind mit den Eltern von Schlesien nach Sachsen gekommen, zieht vom sächsischen Dorf nach Potsdam, um statt Gärtnerlehre Abitur zu machen. Eigentlich will sie Sängerin werden, im Chor lernt sie Noten.
Leipzig 2007
Sozialistische Nebenwirkungen der Ausbildung: Mit zwei Mitschülern muss sie "ein Schiebernest" ausheben, den kleinen Laden einer Frau Reichelt. Deren Bild hängt später als Mahnmal am Konsum-Kaufhaus: "Legt den Schiebern und Spekulanten das Handwerk". Julia zweifelt: "Liebe Frau Reichelt, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie ausgehoben habe. Punkt."

Später warnt Julia einen Lehrer, der ein Agent sein soll, denn "Er hat sich von seinen Schwiegereltern ein Paar Schuhe kaufen lassen und war selber mit drüben im Westen bei Leiser, um die Schuhe zu probieren." Außerdem habe er ein Arbeiterkind "mit einer Fünf in Geschichte ausgestattet".

Das ist sehr schön und sauber erzählt. Keine lästige Verliebtheit in die Figur, obwohl Helga Schütz ihr eigenes Leben abbildet. Gute Namen: Julia, Leupold, Ebert, Pagel. Verliebt in den Lehrer, Systemkritik, Schikane und Misstrauen: Alles drin. Interessieren würde mich, ob die Autorin Haue vom Staat dafür bekam. Ob Klagenfurt-Kandidaten vorher anmelden mussten, was sie zu lesen gedächten. Denn auch Plenzdorfs Text ist unfreundlich gegen den Arbeiter- und Bauernstaat. Beide protestierten 1976 gegen die Ausbürgerung Biermanns, ihre Texte wurden nicht alle im Osten gedruckt.

Am Ende Schülerkino, Julia verlässt vor der Zeit die Aula.

Jetzt, in dieser schwierigen Lage. jetzt, wo die Partei nicht ein noch aus weiss, verlassen Sie eine sowjetische Filmvorführung. Wenn auch leise ... Mir fällt dazu nichts ein, außer daß es ein langweiliger Film war. Ich habe mich gelangweilt.

Prädikat: Historisch wertvoll, "Ich ist der Autor" hier mal gelungen. Werde das Buch kaufen.

1978 war übrigens das Jahr der Sitzenbleiber: 10 der 25 Teilnehmer versuchten es später wieder, darunter die späteren Bachmann-Preisträger Erica Pedretti (1984) und Hermann Burger (1985). Zuletzt trauten sich das jeweils erfolglos Artur Becker (2001 und 2004) und Dirk von Petersdorff (1993 und 2006).

Texte aus 7 von 30 Jahren gelesen.



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