27.09.2008 / 00:58 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Blasenplatzen gestern und heute

Andernorts kündigen Investmentbanker und Präsidentschaftskandidaten an, wegen der derzeitigen Finanzkrise aus ihrem jeweiligen Geschäft auszusteigen, um hintenrum dennoch weiterzumachen – diesem klugen Beispiel folgend, steigt nun auch die Lesemaschine aus ihrem Gewerbe aus, um nichtsdestotrotz hintenrum weiterzulesen: Aus gegebenem Anlass an dieser Stelle nicht mit Descartes, denn ich möchte mich dieser Tage über jene "Great Depression" informieren, die zur Zeit in aller Munde ist und uns offenbar als Neuauflage wieder menetekelnd über den Köpfen baumelt.

Zwar in nicht ganz so neuer Auflage, aber dennoch überzeugend, fiel mir heute in der Bibliothek nebenstehendes Büchlein in die Hände. Der Schwarze Freitag. Es handelt sich um eine bündige, wirtschaftshistorische Darstellung der Hyperinflation der Jahre 1914 – 1923 und des Börsenkrachs einschliesslich des anschliessenden Zusammenbruchs der Weltwirtschaft von 1929 – 1933. Eine zufällig aufgeschlagene Seite liest sich bereits sehr vielversprechend:

"Sämtliche Guthaben bei Banken und Sparkassen wurden durch die Umstellung 1 Billion Mark = 1 Reichsmark vernichtet. So schrumpften bei der Sparkasse Frankfurt a.M. die Sparguthaben von 8,12 Billionen Mark, die sich auf 153 423 Einleger verteilten, über Nacht auf ganze 8120 Reichsmark zusammen." (S. 56)

Ebenso wie seinerzeit die Reichsmark und teils auch über Nacht, ist die Zahl derer geschrumpft, die diese bizarre Geldwertvernichtung noch leibhaftig erlebt haben. Am Stichtag das Kilo Roggenbrot für 233 Milliarden Mark oder für eine Trambahn-Fahrkarte mal 150 Milliarden Mark hinblättern – wir müssen es uns selbst ausmalen, es klingt absurd nach Blingbling und dicker Hose, aber es wird eher dem Erlebnisgehalt gleichen, wenn man bei Lidl oder Aldi fiebernd auf Billionen-Schnäppchenjagd geht (wenn Lidl und Aldi dann überhaupt noch existieren).

In Zeiten wie diesen, in denen böse Blasen und Unheilkarbunkel eitern und aufplatzen und ihren fauligen Inhalt in die Geldhäuser entleeren, sollte man durchaus einmal den irisierenden Blick von den zu Tale fahrenden Aktienkurven ab-, und einem guten Buch wie diesem zuwenden. Der ganze Talmarsch von der Börsenhausse bis hinab zu Adolf Hitler wird begreiflich nachgezeichnet – zwar auch dort im Anhang jede Menge furchterregend wankender Zahlentürme und purzelnder Kursmarken, aber es beruhigt mich dennoch: Wenn wir wieder mit Schnaps bezahlen können, bin ich ein gemachter Mann.


23.08.2008 / 18:30 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Stream of unconsciousness (191-209)


Völlig leer: Ein p-zed. (Bild: Eric Ingrum, Lizenz.)
Angenommen, nach langem Warten sind endlich Aliens auf die Erde gestossen. Es handelt sich um eine uns weit überlegene Spezies mit einer hochentwickelten Wissenschaft und Technik. Sie haben einen Replikator dabei, der jedes physische Ding absolut perfekt reproduzieren kann, so dass Replikat und Original ununterscheidbar sind. Dabei werden nicht nur die statischen, sondern auch die dynamischen Eigenschaften (z.B. ein bestimmter Bewegungsimpuls) vollständig übertragen. Diese Spezies will nun nicht nur Waffen und Rohstoffe, sondern auch Menschen duplizieren. Was passiert dabei?

Wenn der Materialismus wahr ist und Körper und Geist identisch sind, müsste das Replikat dieselben mentalen Eigenschaften wie das Original haben. Man hätte zweimal die gleiche Person. (Was passiert dann in dem versicherungstechnisch interessanten Fall, dass beide aufeinander losgehen?) Nach Platon hingegen müsste der Replikator einen toten menschlichen Körper erzeugen, da die Seele das Prinzip des ganzen Lebens ist, des vegetativen und mentalen, und sie nicht reproduziert werden kann. Für Descartes aber würde man einen lebenden menschlichen Körper vorfinden, der jedoch ohne Verstand, Empfindungen und Gedanken, also völlig ohne Bewusstsein ist: Einen metaphysischen Zombie (p-zombie oder p-zed).

Es gäbe demnach eine mögliche Welt, in der überhaupt nur p-zombies leben: Eine reine zombie-world. Dort läuft alles nach zombie-world-physikalischen Sukzessionsgesetzen ab und durch reinen Zufall ergeben sich die gleichen Ereignisse wie bei uns, nur gänzlich ohne Bewusstsein. Die p-zombies beginnen ihren Tag wie wir, gehen in ihr Zombie-Café und nehmen ein Zombie-Frühstück zu sich und führen Zombie-Gespräche, reissen Zombie-Witze und gucken Zombie-Filme, ihr ganzes Zombie-Leben gleicht äusserlich dem unseren – nur innen drin in ihnen ist alles leer. Da passiert gar nix. Ein ausschliesslicher stream of unconsciousness.

Körper und Geist, res extensa und res cogitans, sind für Descartes also zwei für sich funktionierende Entitäten. Auch der Geist könnte in einer möglichen Welt für sich existieren, als free floating spirit in einer spirit-world. Aber dort ist nicht der ganze Bewusstseinskram vorhanden, der der zombie-world fehlt. In der spirit-world empfinden nicht reine Geister vor sich hin, freuen sich oder sind depressiv, sind verliebt oder zänkisch und erquicken sich an einer reichhaltigen Imagination. Denn Emotionen und Imagination entstehen für Descartes nur, wenn ein Geist in einem p-zombie implementiert wird: Sie entstehen aus der Leib-Seele-Einheit. In der Geisterwelt betreiben die Geister nur rein emotionslose, abstrakte Wissenschaft, sie führen apathisch mathematische Beweise und bauen blutleere philosophische Theorien (etwa über Zombie-Welten). Eine Welt voller Nerds.

Geist und Körper sind in unserer Welt nach kartesischer Theorie nicht einfach zusammengepappt wie zwei Bauklötze. Sie bilden eine substanzielle Einheit. Ein ganzer Kosmos an Bewusstseinsphänomenen resultiert aus dieser Vereinigung. Unsere Seele, schreibt Descartes, hätte keinen Anlass, auch nur einen einzigen Augenblick mit dem Körper verbunden zu bleiben, wenn sie dadurch nicht lauter angenehme, lustvolle und nützliche Gemütsbewegungen erhalten würde, die die gesamte Annehmlichkeit des Lebens ausmachen. Der Geist ist ein ziemlicher Hedonist.

209 von 229 Seiten

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12.08.2008 / 18:10

My mind is a piece of mental shit (181-190)


The third planet of Dune (Bild: hamed, Lizenz.)
Das Ende der Descarteslektüre naht. Darum habe ich Lust, hier nochmal ein richtig übles Ding reinzulassen: Das kartesische Argument für die Wesensverschiedenheit von Geist und Körper in der 6. Meditation. Dieser Beitrag wird eine Meile trockener metaphysischer Wüstensand, schonungslos. Aber ich denke, das lohnt sich, denn es handelt sich dabei um einen echten Klassiker der Philosophy of mind – und ich hoffe, ich bekomme dieses schwierige Zeug wenigstens halbwegs korrekt hin.1

Die erste Feststellung ist auch gleich schonmal nichts saftig Empirisches, sondern eine recht aride Angelegenheit: 'Geist' ist bei Descartes nicht identisch mit Bewusstsein. Das lässt sich vielleicht so klarmachen: Die Selbsterkenntnis der 2. Meditation ist keine "empirische" Erfahrung irgendwelcher Bewusstseinszustände (awareness, Emotionen, Qualia, etc.). Sondern sie ist ein rein geistiger Akt: Die absolut gewisse Existenz des Ich wurde reduktiv und damit indirekt bewiesen. Wer hat denn schon jemals sein Ich unmittelbar erfahren, also nicht nur irgendwelche Bewusstseinsqualitäten, sondern das nackte Ich als solches? Das Ich ist eben nicht als direkte Erfahrungstatsache gegeben wie die sonstigen Bewusstseinsphänomene, sondern seine Erkenntnis ist ein abstrakter, rein geistig-mentaler Beweis, wie bei einer komplett unanschaulichen mathematischen Struktur. Von der habe ich ja auch keine direkten Bildchen oder Erlebnisgehalte im Kopf und wer behauptet, er könne unanschauliche mathematische Strukturen spüren, dem ist grundsätzlich mit Vorsicht zu begegnen. Also: Rein mentale Erkenntnis kann es nur von rein mentalen 'Dingen' geben, denn die Art der Erkenntnis ist bestimmt durch die Art des Erkenntnisobjekts.

Alle grossen philosophischen Probleme haben mit Modalitäten zu tun, das heisst mit Möglichkeit und Notwendigkeit. Die Frage, ob Geist und Körper (neurophysiologische Entitäten oder Ereignisse) identisch sind oder nicht, lässt sich im Rahmen der Modallogik formulieren, einem heftigen formalen Instrument der zeitgenössischen Philosophie: Identität ist eine strikt notwendige Relation. Z.B. ich bin strikt notwendig mit mir selbst identisch und kann nicht möglicherweise etwas anderes sein, etwa ein Stein. Modallogisch gesprochen: Die Proposition ω: 'Geist und Körper sind identisch (G ≡ K)' ist in unserer Welt Wi genau dann wahr, wenn sie in allen logisch möglichen Welten Wj wahr ist, in denen sie existieren und die epistemisch zugänglich sind. Wobei eine "mögliche Welt" eine maximal konsistente Menge von kontrafaktischen Sachverhalten (maximally consistent state of affairs) ist, denen ein Wahrheitswert zuerteilt werden kann. Wumm. Das ist jetzt richtige Philosophensprache, und dann schreibt so ein Philosoph gerne auch solche Formeln dazu auf sein Papier:

M ⊨ □ω[Wi] ⇔ ∀j≠i ∀Wj, G,K∈Wj:[R(Wi, Wj) → M⊨ω[Wj]] für ein Kripke-Modell M.

Sieht gut aus. Anschaulicher gesprochen: Eine mögliche Welt ist eine Art formallogisches Paralleluniversum, ein kompletter Zustand, wie die Welt hätte sein können2, etwa mit völlig anderen Naturkonstanten oder gar Naturgesetzen, solange sie logisch widerspruchsfrei sind. In manchen dieser Welten ist die Erde der Wüstenplanet Dune, in anderen wird der triumphale Empfang der Titanic im New Yorker Hafen gefeiert und die Rückzahlung aller deutschen Kriegsschulden, in wieder anderen ist Beethoven ein Zuhälter und es existieren Zwergsumpfhühner, die der komplexwertigen Integralrechnung fähig sind. Was auch immer. In keiner möglichen Welt aber kann Beethoven ein Klistier oder das Sumpfhuhn eine Atomrakete sein, denn das wäre nicht nur recht albern, sondern auch kontradiktorisch: Beethoven ist so ziemlich notwendigerweise ein Mensch und das Huhn notwendigerweise ein geflügeltes Wirbeltier.

Descartes' Argument besagt nun:
(1) Die mentalen Eigenschaften sind logisch vollkommen unabhängig von den physischen (beide sind vollständig disjunkt und einander sogar kontradiktorisch entgegengesetzt3).
(2) Also gibt es mindestens eine mögliche Welt Wj, in welcher ich nur mit mentalen, nicht aber physischen Eigenschaften existiere.
(3) Wenn es möglich ist, dass ich ohne physische Eigenschaften existiere, dann kommen mir diese Eigenschaften nicht notwendig zu.
(4) Allen Körpern kommen physische Eigenschaften notwendig zu.
(5) Also bin ich nicht mit meinem Körper identisch.

Dasjenige, wovon die mentalen Eigenschaften prädiziert werden (ihr Träger), ist also eine eigenständige Entität, welcher notwendig mentale, aber nicht notwendig physische Attribute zukommen: Der Geist. Es ist somit zumindest logisch möglich, dass der Geist ohne Körper existieren kann, auch wenn das in unserer Welt faktisch nie der Fall sein wird. Damit ist □ω falsch, d.h. Körper und Geist sind nicht identisch.

Der wesentliche Einwand gegen diese Argumentation kommt m.E. von Antoine Arnauld. Er betrifft den Übergang von (2) auf (3). (2) könnte einfach eine inadäquate Abstraktion sein, wie es z.B. logisch möglich ist, sich einen ausdehnungslosen Punkt zu denken. Aber daraus folgt nicht, dass es in der Realität ausdehnungslose Punkte geben kann (Experiment: Zeichnen Sie mal einen ausdehnungslosen Punkt). Ausdehnung gehört vielleicht dennoch notwendig zum realen Punkt dazu. Genauso könnte die logische Möglichkeit der Existenz des Geistes ohne Körper einfach eine unvollständige Abstraktion sein, und in Wahrheit geht's nicht ohne Körper.4 Aber Descartes sagt: Nein, die Erkenntnis des Geistes ohne Körper ist vollständig. Wir erkennen unseren Geist zwar nicht umfassend in allen seinen Einzelheiten (cognitio adaequata), aber wir erkennen seine Wesensattribute vollständig (complete intellegere), da fehlt nichts. Und das ist der ganze Knackpunkt an seinem Argument.

Als Fazit kann man jetzt vielleicht sagen: Der ganze dicke Sack voller Bewusstseinsphänomene wie Qualia u.a. ist für Descartes körperlich (mit)verursacht. Das rein Mentale aber, also der Teil unseres Oberstübchens, der abstrakte Beweise führt und Wissenschaft betreibt, der ist nicht einfach platt identisch mit ein paar Kilogramm funktional organisiertem Eiweissschleim. Anders gesagt: Das eigentliche Leib-Seele-Problem beginnt erst richtig beim Phänomen der Wissenschaft. Angenommen, es gibt eine neurophysiologische Theorie T1, die alles Mentale komplett auf Eiweisschleim reduziert. Reduziert sie sich dann auch selbst komplett auf Eiweisschleim? Sie müsste alle wissenschaftlichen Prädikate wie "ist beweisbar", "es folgt, dass", "es erklärt", "bezieht sich auf", "ist möglich" etc., auf Schleimaktivität zurückführen. Dazu bräuchte es eigentlich eine Metatheorie T2, die das leistet und selbst wieder wissenschaftliche Prädikate enthält. Deshalb braucht es dann eine Theorie T3, die T2 auf Eiweissschleim reduziert, und dann eine Theorie T4, die T3 usw. Ein infiniter Progress. Oder vielleicht ist es auch einfach nur ein fehlerhafter Zirkel. Auf jedenfall aber mental shit.
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1 Wer's wirklich genau wissen will, schaut nach in: Godehard Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem, 3.Aufl. 2008.

2 Im nominalistischen Possibilismus sind diese möglichen Welten sogar als real existierend angenommen und die Wirklicheit ist indexikalisch: Für jede dieser Welten ist die eigene aktuell existierend, die anderen nur möglich. Für den platonistischen Aktualismus dagegen sind mögliche Welten nur Weisen der Beschreibung, wie unsere aktuelle Welt hätte sein können.

3 Ein Beispiel für die Entgegensetzung: Das Mentale ist privat, das physische ist nicht privat. Hirnströme sind beobachtbare 'public entities', sie sind komplett in der 3.-Person-Perspektive beschrieben, während mein Ich sich gerade notwendig dadurch auszeichnet, dass es privat und 1.-Person-Perspektive ist. Niemand anderer kann meine Perspektive einnehmen und mein Ich unter meiner 1.-Person-Perspektive beschreiben, erst recht keine objektiv-intersubjektive wissenschaftliche Theorie.

4 Man nennt den Übergang von (2) auf (3) in der Literatur auch gerne einen Übergang von einer Modalität 'de dicto' zu einer Modalität 'de re'. Erstere bezieht sich auf das, was uns in einem bestimmten epistemischen Zustand als möglich erscheint, letztere auf das, was real möglich ist.

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18.07.2008 / 13:37 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Res cogitans in Wacholderschinken


Cartesischer Geist (Bild: Ruben Schneider).
Was an besonderen Schlagworten von René Descartes kleben geblieben ist im Wachbewusstsein des Abendlandes, ist wohl irgendwas mit "Cogito, ergo sum" und die Trennung von Geist und Materie. Gerade an letzterem Punkt scheinen sich kontemporäre Weltbildentwickler besonders abzuarbeiten. Was sich in unserem Kopf so abspielt, diese zweifelsohne wichtigen und oft auch lästigen Bewusstseinsphänomene, ist das nun bloss die neuronale Aktivität in einem Klumpen Eiweissschleim zwischen paar Schädelwänden, oder ist es tatsächlich ein immaterieller Flattergeist?

Descartes, der Kopfmensch, der sich an seinem Rationalismus aufgeilt, Descartes, der Leibfeind, hier in der 6. Meditation beweist er überhaupt erst die Existenz der Materie und vollzieht angeblich die radikale Trennung von Geist und Körper: Beides eigenständige Entitäten für sich. Damit gilt er als der grosse Bösewicht, der den Menschen auseinandergehackt hat in zwei Teile, er ist der Buhmann der ganzheitlichen Medizin, die Materialisten finden ihn sowieso von Beruf scheisse und offenbar ist er auch das erklärte Feindbild weiter Teile der Hirnforschung. Gerade durch deren Forschungsergebnisse scheint die Cartesische Philosophie tausendfach widerlegt zu sein, denn immer mehr Bewusstseinsphänomene lassen sich, wie man hört, auf neurobiologische Ereignisse reduzieren.

Nachdem ich mich jetzt wiederholt durch die 6. Meditation und ihre Einwände gequält habe, bin ich inzwischen vollkommen aus der Spur, was meine Meinung über Descartes' Thesen angeht. Seine Philosophie ist zu komplex, als dass man sie pauschal kritisieren könnte. Ich kann meine Eindrücke momentan nur als provokante Bemerkungen in den Raum werfen:

· Er behauptet in Wahrheit nirgendwo die Trennung von Geist und Körper.

· Er sagt hingegen, Geist und Körper seien so eng verbunden, dass sie gleichsam vermischt (quasi permixtum) sind. Und er meint, in bisher unübertroffener Weise die Einheit von Leib und Seele bewiesen zu haben (und ich halte diesen Beweis auch für famos).

· Was er behauptet, ist die Wesensverschiedenheit von Geist und Materie, und ich finde es sauschwer, zu fixieren, was er unter 'Geist' versteht.

· Das Wesen des Geistes ist bei ihm nicht das Bewusstsein.

· Die ganzen Bewusstseitsphänomene, deren neurobiologische Verursachung man heute beweist, sind ebenfalls für Descartes körperlich (mit)verursacht.

Was ist Geist für ihn dann? Und was versteht er unter Wesensverschiedenheit? Mal sehen, wie ich mit dem Text weiter zurecht komme. Obige Punkte dürften mein bisheriges Descartes-Bild, das ich so von den gängigen Darstellungen übernommen habe, jedoch schonmal gut ins Wanken bringen. Heute auf dem Heimweg sah ich an einem Laternenpfahl die Werbung einer Lebensberatungs-Hotline mit integriertem philosophischen Sorgentelefon. Wenn ich genug Bier intus habe, rufe ich dort an.


06.07.2008 / 14:56 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Vom Schein zum Sein und zurück (175-181)


Menschheit in der Höhle. (Grotta di Annalena, Giardino di Boboli, Florenz. Bild: Darran & Brad, Lizenz.)
Materie ist madig. Man wird müde von ihr, man muss sie ernähren, man muss sie entleeren, man muss sich mühsam in Raum und Zeit fortbewegen gegen Gravitationskräfte, Zentrifugalkräfte und Reibungskräfte. Materie ist lahm, man braucht Zeit, um erwachsen zu werden und Zeit, um seine Rente zu verdienen. Zeit, um Gedankengänge durchzuführen, Dinge zu lesen und Wissen zu sammeln. Wenn ich etwa eine mathematische Theorie erlerne, muss ich sie in beschwerlicher Weise Schritt für Schritt durchdenken und habe am Ende immer noch nichts kapiert, anstatt dass ich alles mit einemmal in einer intuitiven Schau erblicke. Wäre ich so immateriell wie die mathematischen Strukturen, lösgelöst von aller stofflichen Schwerfälligkeit, würde es vieles erleichtern und mir vorallem die Studiengebühren ersparen.

Zudem ist Materie unsicher. Sie verändert sich dauernd, sie verrottet und verfällt und in paar hundert Jahren müssen sich Historiker und Archäologen darüber streiten, was heute wirklich geschah. Materie ist unsicher, darum machen wir dauernd zweifache Durchschläge unserer Dokumente, machen Backups und bauen Archive, errichten Datenbehörden und Schiedsgerichte zur Entscheidung über all die ephemeren Begebenheiten. Und das Backup, das irgendwann mal auch das Zerplatzen der Sonne überlebt, muss erst noch ersonnen werden.

Weil die Materie so ein trügerischer Puppenflitter ist, hatte Platon auf sie gepfiffen und gesagt: Das Eigentliche ist das Immaterielle, das Dauerhafte und Unwandelbare: Die geistig-logischen Strukturen, nach denen sich auch alles Materielle zu richten hat. Sie gelten selbst dann noch, wenn alle Materie vergangen ist. Er nannte sie die "Ideen" (ίδέα bzw. εἶδος).1 Wir abstrahieren diese festen und verlässlichen Ideen nicht aus der wabernden Materie, sondern sie sind schon immer in jedem menschlichen Geist angelegt, quasi angeboren, und wir müssen uns ihrer nur wieder erinnern (ἀνάμνησις). Dafür müssen wir uns von der materiellen Welt abwenden und uns auf unseren Geist konzentrieren.

Die Meditationen von Descartes funktionieren nun ganz ähnlich: Sie heben an mit der Abwendung von der empirischen Alltagswelt, denn diese ist absolut unsicher und bezweifelbar (1. Meditation), dann tauchen sie ein in die Welt des Geistes und der Vernunft und beweisen allein dort die Wahrheit und unumstössliche Gewissheit des geistigen Ich und seiner Inhalte (hier erst findet man das wahre Sein) – um einen nicht früher als am Ende der 6. Meditation wieder in die normale Sinnenwelt zu entlassen. Erst hier, in der 6. Meditation, wird die Existenz der Materie bewiesen! Vorher spielt sich alles im rein geistigen Raum ab. Das ist im Grunde nichts anderes als Platons Höhlengleichnis2: Der Mensch sitzt von den Banden seines Körpers gefesselt im Kerker der materiellen Welt, was er sieht, sind nur Schatten von Formen und Strukturen, die aus dem Licht der geistigen Welt herabgeworfen werden an die Höhlenwand seines kümmerlichen Verlieses. Er ist es schon immer gewohnt, in den Fesseln der Materie zu leben und kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass es auch ohne sie geht. Schafft er es aber einmal, sich zu befreien und herauszukriechen aus dem Dunkel, hinein in die helle Welt des Geistes, wird er dort das wahre Sein und die volle Wirklichkeit entdecken, von der alle Schatten in der Höhle nur ein billiger Abklatsch waren. Aber er bleibt nicht im Licht, sondern kehrt wieder zurück in die Grotte, um den anderen zu berichten und ihnen den Schein als solchen zu entlarven. Genauso Descartes. Er fordert sogar in den Axiomen, Sätzen und Postulaten am Ende der 2. Erwiderungen in ziemlich unhöflichem Ton von seinen Lesern, diese Abwendung von der materiellen Welt mitzuvollziehen.3 Man muss sich vor Augen halten, was der Vater der Neuzeit hier für eine Provokation aufgebaut hat, denn heute läuft der Weltanschauungs-Mainstream genau umgekehrt: Was sicher existiert, ist die Materie und alles Geistige wird reduziert auf materielle Hirnvorgänge.

Auch Descartes nennt das Geistige "Ideen". Auch bei ihm gibt es "angeborene Ideen" (ideae innatae), selbst wenn er sie nur als Gedanken in unserem Bewusstsein (modi cogitandi) versteht. Äusserst bemerkenswert finde ich, dass Descartes in der 5. Meditation bereits die Wesensattribute der Materie aufzeigt, bevor überhaupt ihre Existenz bewiesen ist. Aber wie kann man bitteschön wissen, was das Wesen der Materie ist, wenn man noch überhaupt keinen Kontakt zu ihr hat? Auch hier folgt er Platon: Die Idee des Wesens der Materie ist ihm angeboren, sie ist ihm

"[...] so offenbar und meiner Natur entsprechend [...], dass ich nichts Neues kennenzulernen meine, wenn ich sie zum ersten mal entdeckte. Ich glaube eher, mich nur dessen zu erinnern, was ich schon längst wusste, oder erstmals aufmerksam zu werden auf etwas, das längst schon in mir war, ohne dass ich früher den Blick meines Geistes darauf gerichtet hätte." (Reclam S. 162f., Nr. 4; Meiner S. 53f., Nr.4)

So schön das klingt, ich finde es dennoch happig: Denn einerseits sagt Descartes, das Wesen der Materie bestehe in mathematischen Strukturen. Andererseits behauptet er, es handle sich bei Mathematik um angeborene Ideen in unserem Geiste. Und schliesslich sagt er in der 6. Meditation, Geist und Materie seien radikal voneinander getrennt. Wie passt das zusammen? Wenn Mathematik geistig ist und Materie völlig geistlos, dann darf die Materie keine mathematischen Strukturen haben – für einen Naturwissenschaftler wäre das eine Katastrophe. Bei Platon ist das noch konsequent gehandelt: Die Materie ist für ihn kein Objekt von Wissenschaft. Das will sich Descartes als moderner Mathematiker und Physiker natürlich nicht leisten. Also rennt er voll ins Dilemma. Ein Dilemma, das die ganze Neuzeit beherrscht.4

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1 Vgl. Platon: Euthyphron 6d9-e1. Die Ideen sind das immaterielle Wesen (essentia) der Dinge, sie sind sogenannte Universalien. Die mathematischen Entitäten gehören für Platon noch nicht direkt zum Bereich der Ideen, sondern bilden quasi ihre Vorstufe – im Gegensatz zu vielen heutigen Platonisten in den Naturwissenschaften, für welche schon das Mathematische die platonischen Entitäten sind, z.B. C.F. v. Weizäcker oder Roger Penrose. Mathematik ist aber rein quantitativ, also auch wieder nur so ein "Auseinander" und "Nebeneinander" wie die Materie, während Platons Ideen sich auf die inhaltliche Füllung unserer Begriffe beziehen, d.h. auf ihre qualitative Einheit.

2 Politeia VII, 514a-517b.

3 Meiner-Ausgabe, S. 147 – 149. Auf den Seiten 145 – 154 steht übrigens eine sehr lesenswerte Zusammenfassung von Kernthesen der cartesischen Philosophie.

4 Vgl. Martin Schottenloher: Geometrie und Symmetrie in der Physik, 1995, S. 3 – 18.


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