06.07.2008 / 14:56 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Vom Schein zum Sein und zurück (175-181)


Menschheit in der Höhle. (Grotta di Annalena, Giardino di Boboli, Florenz. Bild: Darran & Brad, Lizenz.)
Materie ist madig. Man wird müde von ihr, man muss sie ernähren, man muss sie entleeren, man muss sich mühsam in Raum und Zeit fortbewegen gegen Gravitationskräfte, Zentrifugalkräfte und Reibungskräfte. Materie ist lahm, man braucht Zeit, um erwachsen zu werden und Zeit, um seine Rente zu verdienen. Zeit, um Gedankengänge durchzuführen, Dinge zu lesen und Wissen zu sammeln. Wenn ich etwa eine mathematische Theorie erlerne, muss ich sie in beschwerlicher Weise Schritt für Schritt durchdenken und habe am Ende immer noch nichts kapiert, anstatt dass ich alles mit einemmal in einer intuitiven Schau erblicke. Wäre ich so immateriell wie die mathematischen Strukturen, lösgelöst von aller stofflichen Schwerfälligkeit, würde es vieles erleichtern und mir vorallem die Studiengebühren ersparen.

Zudem ist Materie unsicher. Sie verändert sich dauernd, sie verrottet und verfällt und in paar hundert Jahren müssen sich Historiker und Archäologen darüber streiten, was heute wirklich geschah. Materie ist unsicher, darum machen wir dauernd zweifache Durchschläge unserer Dokumente, machen Backups und bauen Archive, errichten Datenbehörden und Schiedsgerichte zur Entscheidung über all die ephemeren Begebenheiten. Und das Backup, das irgendwann mal auch das Zerplatzen der Sonne überlebt, muss erst noch ersonnen werden.

Weil die Materie so ein trügerischer Puppenflitter ist, hatte Platon auf sie gepfiffen und gesagt: Das Eigentliche ist das Immaterielle, das Dauerhafte und Unwandelbare: Die geistig-logischen Strukturen, nach denen sich auch alles Materielle zu richten hat. Sie gelten selbst dann noch, wenn alle Materie vergangen ist. Er nannte sie die "Ideen" (ίδέα bzw. εἶδος).1 Wir abstrahieren diese festen und verlässlichen Ideen nicht aus der wabernden Materie, sondern sie sind schon immer in jedem menschlichen Geist angelegt, quasi angeboren, und wir müssen uns ihrer nur wieder erinnern (ἀνάμνησις). Dafür müssen wir uns von der materiellen Welt abwenden und uns auf unseren Geist konzentrieren.

Die Meditationen von Descartes funktionieren nun ganz ähnlich: Sie heben an mit der Abwendung von der empirischen Alltagswelt, denn diese ist absolut unsicher und bezweifelbar (1. Meditation), dann tauchen sie ein in die Welt des Geistes und der Vernunft und beweisen allein dort die Wahrheit und unumstössliche Gewissheit des geistigen Ich und seiner Inhalte (hier erst findet man das wahre Sein) – um einen nicht früher als am Ende der 6. Meditation wieder in die normale Sinnenwelt zu entlassen. Erst hier, in der 6. Meditation, wird die Existenz der Materie bewiesen! Vorher spielt sich alles im rein geistigen Raum ab. Das ist im Grunde nichts anderes als Platons Höhlengleichnis2: Der Mensch sitzt von den Banden seines Körpers gefesselt im Kerker der materiellen Welt, was er sieht, sind nur Schatten von Formen und Strukturen, die aus dem Licht der geistigen Welt herabgeworfen werden an die Höhlenwand seines kümmerlichen Verlieses. Er ist es schon immer gewohnt, in den Fesseln der Materie zu leben und kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass es auch ohne sie geht. Schafft er es aber einmal, sich zu befreien und herauszukriechen aus dem Dunkel, hinein in die helle Welt des Geistes, wird er dort das wahre Sein und die volle Wirklichkeit entdecken, von der alle Schatten in der Höhle nur ein billiger Abklatsch waren. Aber er bleibt nicht im Licht, sondern kehrt wieder zurück in die Grotte, um den anderen zu berichten und ihnen den Schein als solchen zu entlarven. Genauso Descartes. Er fordert sogar in den Axiomen, Sätzen und Postulaten am Ende der 2. Erwiderungen in ziemlich unhöflichem Ton von seinen Lesern, diese Abwendung von der materiellen Welt mitzuvollziehen.3 Man muss sich vor Augen halten, was der Vater der Neuzeit hier für eine Provokation aufgebaut hat, denn heute läuft der Weltanschauungs-Mainstream genau umgekehrt: Was sicher existiert, ist die Materie und alles Geistige wird reduziert auf materielle Hirnvorgänge.

Auch Descartes nennt das Geistige "Ideen". Auch bei ihm gibt es "angeborene Ideen" (ideae innatae), selbst wenn er sie nur als Gedanken in unserem Bewusstsein (modi cogitandi) versteht. Äusserst bemerkenswert finde ich, dass Descartes in der 5. Meditation bereits die Wesensattribute der Materie aufzeigt, bevor überhaupt ihre Existenz bewiesen ist. Aber wie kann man bitteschön wissen, was das Wesen der Materie ist, wenn man noch überhaupt keinen Kontakt zu ihr hat? Auch hier folgt er Platon: Die Idee des Wesens der Materie ist ihm angeboren, sie ist ihm

"[...] so offenbar und meiner Natur entsprechend [...], dass ich nichts Neues kennenzulernen meine, wenn ich sie zum ersten mal entdeckte. Ich glaube eher, mich nur dessen zu erinnern, was ich schon längst wusste, oder erstmals aufmerksam zu werden auf etwas, das längst schon in mir war, ohne dass ich früher den Blick meines Geistes darauf gerichtet hätte." (Reclam S. 162f., Nr. 4; Meiner S. 53f., Nr.4)

So schön das klingt, ich finde es dennoch happig: Denn einerseits sagt Descartes, das Wesen der Materie bestehe in mathematischen Strukturen. Andererseits behauptet er, es handle sich bei Mathematik um angeborene Ideen in unserem Geiste. Und schliesslich sagt er in der 6. Meditation, Geist und Materie seien radikal voneinander getrennt. Wie passt das zusammen? Wenn Mathematik geistig ist und Materie völlig geistlos, dann darf die Materie keine mathematischen Strukturen haben – für einen Naturwissenschaftler wäre das eine Katastrophe. Bei Platon ist das noch konsequent gehandelt: Die Materie ist für ihn kein Objekt von Wissenschaft. Das will sich Descartes als moderner Mathematiker und Physiker natürlich nicht leisten. Also rennt er voll ins Dilemma. Ein Dilemma, das die ganze Neuzeit beherrscht.4

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1 Vgl. Platon: Euthyphron 6d9-e1. Die Ideen sind das immaterielle Wesen (essentia) der Dinge, sie sind sogenannte Universalien. Die mathematischen Entitäten gehören für Platon noch nicht direkt zum Bereich der Ideen, sondern bilden quasi ihre Vorstufe – im Gegensatz zu vielen heutigen Platonisten in den Naturwissenschaften, für welche schon das Mathematische die platonischen Entitäten sind, z.B. C.F. v. Weizäcker oder Roger Penrose. Mathematik ist aber rein quantitativ, also auch wieder nur so ein "Auseinander" und "Nebeneinander" wie die Materie, während Platons Ideen sich auf die inhaltliche Füllung unserer Begriffe beziehen, d.h. auf ihre qualitative Einheit.

2 Politeia VII, 514a-517b.

3 Meiner-Ausgabe, S. 147 – 149. Auf den Seiten 145 – 154 steht übrigens eine sehr lesenswerte Zusammenfassung von Kernthesen der cartesischen Philosophie.

4 Vgl. Martin Schottenloher: Geometrie und Symmetrie in der Physik, 1995, S. 3 – 18.


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Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (4) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von RKS:

Lieber unermüdlicher Descartbohrer,
blöderweise habe ich hier vor einer Weile "Buch kaufen ..." angeklickt und – rechnend – nur die dünne grüne Meiner-Ausgabe bestellt, die ja nur rund achtzig Seiten hat. Folge: Ich kann Ihrer Empfehlung, die lesenswerte Zusammenfassung der Kernthesen zu verarbeiten, nun leider nicht folgen. Ich habe auch viel zu viele angelesene Bücher auf dem Tisch. Mein Text zeigt mir aber schon deutlich: Ich schaffe es einfach nicht richtig, mich zum denkenden Zeitgenossen Decartes' zu stilisieren, um nachzuempfinden, wie sein Text seinerzeit Furore machen musste. Bei jedem fünften Satz von ihm, wenn er bona fides apodiktisch wird, bin ich sofort geneigt, ihm aus der heutigen Sicht zu widersprechen und mir einzubilden, ich hätte ihn damit auch widerlegt.
Mir fehlt einfach sein Gottesglaube und seine ontologische Gewissheit.
Beste Grüsse an Sie; bald haben Sie diese selbst auferlegte Ochsentour ja geschafft.

10.07.2008 / 13:24

Kommentar #2 von Ruben:

Die 80-seitige Ausgabe des Grundtextes ist natürlich leider zu wenig. In der vollständigen Ausgabe mit allen Einwänden und Erwiderungen würden Sie auch sehen, dass es Descartes' Zeitgenossen ebenso ergeht wie Ihnen: Sie widersprechen ihm am laufenden Band, und das nicht selten mit gutem Grund.
Sie werden aber auch ohne eigene Lektüre bei mir mitlesen können. Die 6. Meditation wird noch ein schöner Brocken. Geist und Materie!

10.07.2008 / 13:54

Kommentar #3 von RKS:

Lieber Ruben Schneider,
genau auf diesen Brocken freue ich mich. Der zugrunde liegende Sachverhalt ist schliesslich, unabhängig von aller angelesenen Philosophie, einem jeden schon durch den Kopf gegangen. Wahrscheinlich kann man die Menschen (oder die prinzipiellen Denkweisen), grob, in die zwei Hauptkategorien unterscheiden oder einteilen: Eben die Anhänger des Dualismus, die der organisierten Materie "geistige" Leistungen partout nicht zutrauen können, und die anderen, die zwar auch nicht mehr geleistet haben, als das schöne geheimnisvolle Wort EMERGENZ zu erfinden. Es sind aber eben jene, die nicht anders können, als sich den leblosen, wieder in seine ("ewigen") Atome zerfallenden Körper zustimmend vorzustellen, und dann anzunehmen – ohne sagen zu können: wie – in einem hochkomplexen Atom- und Molekülverband "erscheint" eben bei der Verarbeitung der von aussen kommenden Signale "das Bild der Welt", deren Artikulation dann selbstverständlich auf die sozial angelieferte Sprache angewiesen ist. Unsere Welt wäre dann die sprachlich gestützte Verarbeitung der eindringenden Phänomene. Das meiste davon machen wir eben nicht selbst, sondern wir müssen uns verlassen auf die formengestaltende Kraft der Muttersprache aus dem Vaterhaus. Wenn sich das uns Gesagte "draussen" empirisch bewährt, gilt es als real. Leuchtet uns das Überlieferte nicht ganz ein, basteln wir eben sprachlich/begrifflich/metaphorisch daran herum, bis uns "unsere" Welt plausibel erscheint. Sicherheit, wie sie der von uns vermutete grosse Realbeobachter GOTT haben sollte, steht uns eben einfach nicht zu als endliche Wesen. Damit sollten wir uns gewiss zufrieden geben.
Klar ist mir aber: Dem suchenden und sicher gehen wollenden Descart darf man solche avancierten Überlegungen, wie sie uns mehr oder weniger vertraut erscheinen, nicht abverlangen. Schliesslich war sein Denken schon vorauseilend und "modern" genug. Dass alle dies gesehen und am Ende anerkannt haben, hat schliesslich seinen Ruhm der französischen clarté begründet.
Viel Freude bei Ihrer Arbeit wünscht Ihnen Ihrer treuester Leser.

10.07.2008 / 18:21

Kommentar #4 von Ruben:

Da stimme ich Ihnen völlig zu, und ich werde versuchen, auch auf diese Punkte zu sprechen zu kommen.

10.07.2008 / 18:47