01.06.2008 / 02:13 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Descartes und die Pharmakonzerne (138-165)


Mal was anderes als Descartes: Moxibustion.
Die 4. Meditation ist ein retardierendes Moment zum Thema Unwissenheit und Irrtum, ich möchte jetzt nicht darauf eingehen. Davon habe ich erstmal genug. Was mich mehr interessiert, ist die 5. Meditation, denn was hier passiert, finde ich einen ziemlichen Hammer.

Gestern habe ich lange mit einer Freundin über das Thema Wissenschaftlichkeit von TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) gesprochen, und dabei sind wir darauf gestossen, dass das Hauptkriterium für Wissenschaftlichkeit der Medizin, die Messbarkeit und Quantifizierbarkeit, direkt auf Descartes zurückgeht: Hier am Beginn der 5. Meditation erhebt er die Ausdehnung und Quantität zum Wesensattribut aller Materie (also zu dem, was das Wesen der Materie ausmacht). Alles Qualitative, also das, was man nicht in Zahlen messen kann, fliegt raus. Wenig später wird er sagen, dass das Wesensattribut des Seelisch-Geistigen dem der Materie genau entgegengesetzt ist, weshalb Geist und Materie absolut unvereinbar sind. Und warum er das letztendlich macht, offenbart er im Discours de la Méthode: Er will das Seelische aus dem Körper raushauen, um eine rein quantifizierende naturwissenschaftliche Medizin betreiben zu können.1 Geist und Materie sollen für sich abgeschlossene Systeme sein, von denen keines in das jeweils andere reinfunken kann. Die ganze bio-psycho-soziale und ganzheitliche Medizin, die man heute so feierlich wiederentdeckt, wurde von Descartes ausgehebelt.

Diesen Unterschied finde ich absolut entscheidend: Nachdem alle Materie weggezweifelt war, hatten wir es bis zum Ende der 3. Meditation mit rein Geistigem zu tun. Dieses ist bestimmt durch Inhalte, nicht durch Ausdehnung: Gedanken haben keine Länge, Breite oder Höhe. Sie haben Inhalte, und Inhalte unterscheiden sich qualitativ, nicht quantitativ: Ein Gedanke ist inhaltsreicher oder -ärmer als der andere, und nicht paar Zentimeter länger oder kürzer – man kann hier auch nicht sagen, sie unterscheiden sich in zeitlicher Ausdehnung, der Dauer, denn nicht jeder denkt gleichschnell. Was Gedanken generell unterscheidet, ist ihr inhaltlicher Gehalt. – Wenn es jetzt aber auf der Seite der Materie nur Ausdehnung und keinerlei Inhalte gibt, dann haben wir es bei Geist und Materie tatsächlich mit völlig separaten Dingen zu tun. Nun hat aber die gesamte aristotelisch-scholastische Tradition gesagt, dass es keine Materie ohne Inhalte gibt. Alles ist aus "Stoff" (materia, ὕλη) und "Form" (forma, λόγος, bzw. εἶδος) zusammengesetzt2 – in heutigen Worten: Es gibt immer nur Materie und Information (in inhaltlichem Sinne) zusammen, es gibt nichts, was keinen Informationsgehalt hätte.

Der einzige von der Kirche jemals dogmatisierte philosophische Satz ist der, dass die Seele die forma, der Informationgehalt des Körpers sei.3 Und diese Seele umfasst beim Menschen nicht nur den intellektiven Geist, sondern auch das gesamte vegetativ-sensitive Leben des Leibes. Leib und Seele sind hier keine eigenständigen "Dinge" (res) wie bei Descartes, aus denen dann der Mensch wie aus Bausteinen zusammengepappt wäre, sondern sie sind sogenannte komplementäre Koprinzipien (principia ex quo), d.h. sie sind Seinsursprünge, die den ganzen leibseelischen Menschen konstituieren und die stets nur in diesem Ganzen verwirklicht sind. Diese klassische Sichtweise der Seele ist also eine durch und durch ganzheitliche, von einer Trennbarkeit von Geist und Körper zu sprechen ist hier völlig daneben – das vollzieht eben erst Descartes. Die alte aristotelisch-thomistische Philosophie unterscheidet Geist und Materie zwar klar, aber wenn ich eins von ihr jemals gelernt habe, dann, dass Unterscheiden nicht gleich Trennen ist: Verschiedenheit bedeutet keine Geschiedenheit; wenn etwas real klar unterscheidbar ist, heisst das nicht, dass es physisch auch trennbar ist. Letztlich ist auch das gesamte moderne Geist-Materie-Problem eine cartesische Hypothek, denn es gibt kein scholastisches Materie-Form-Problem.4

Und ich glaube auch, dass Descartes die Reduzierung der Materie auf reine Quantität durch einen suggestiven Trick vollzieht: In der 1. Meditation hatte er ein gutes Argument dafür vorgebracht, dass wenigstens quantitative Grundeinheiten existieren müssten, hat es dann aber sang- und klanglos unter den Tisch fallen lassen. Es wurde lediglich pauschal und wolkig durch die allgemeine Hypothese des genius malignus angezweifelt, ohne ein konkretes Gegenargument. Jetzt, am Anfang der 5. Meditation, zaubert er genau diese Quantitäten als Wesensattribut der Materie als erstes wieder aus dem Hut. Dieser Trick ist nichts Geringeres als der Beginn des modernen Auseinanderbrechens der Welt in Geist und Materie, und die Basis der seelenlosen Körpermedizin (und auch der körperlosen Seelenheilkunde der Psychoanalyse). Wahrscheinlich war Descartes von der Pharma-Industrie gekauft.

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1 Im 6. Teil des Discours wird der Fortschritt der Medizin von der Kenntnis der Physik hergeleitet; und auch in dem berühmten Baum, der im Brief, den Descartes an den Übersetzer der Prinzipien der Philosophie geschrieben hat, als Bild für die Philosophie/Wissenschaft genommen wird, entspringen aus der Physik die Mechanik, die Medizin und die Moral.

2 Für Liebhaber: "τρία δὴ τὰ αἴτια καὶ τρεῖς αί ἀρχαί, δύο μἐν ἡ ἐναντίωσις, ἦς τὸ μἐη λόγος καὶ εἶδος τὸ δἐ στέρησις, τὸ δε τρίτον ἡ ὕλη" (Aristoteles, Met. Λ, 1069b32-34).

3 Konzil von Vienne, 1312.

4 Vgl. David Braine: The Human Person: Animal and Spirit, University of Notre Dame Press 1992.

165 von 229 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Nur damit das auch ankommt, ausdrücklich::

Ich finde die Descartes-Lektüre und die diversen Kontextualisierungen aufschlussreich. Bin gespannt, worauf das noch hinausläuft.

04.06.2008 / 12:41

Kommentar #2 von RKS:

Lieber Ruben Schneider,
aus Borkum zurück, sehe ich, Sie lassen nicht locker und werden immer besser und durchsichtiger, ein Plausibilitätspräsenter. Man fühlt sich gut bedient. Descartes wäre es wohl zufrieden, zu sehen, wie Sie sich nachhaltig bemühen, die tatsächlichen Relationen seiner Denkwelt "bildgebend" zu durchleuchten. Descartes in Rubens geistigem Descartresonanztomograf, bravo.
Ich möchte Sie schon mal vorab hinweisen auf den kommenden Band der Suhrkamp-Reihe Edition Unseld, Nr. 13, "Geist und Materie"; eine Aufsatzsammlung, die des grossen Erwin Schrödinger gedenken will und selbstverständlich nicht um Descart herumkommen wird.
Alles Gute und bitte weiter auf Resonanzkurs.

09.06.2008 / 12:55