26.11.2007 / 20:57 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Fred Adams und Greg Laughlin: The Five Ages of the Universe (vii-xxxiii)

2006 in einem britischen Pub in London, Ontario. London, Ontario hat mit London, UK so viel zu tun wie ein Trabant mit dem Mond, aber britische Pubs sehen überall auf der Welt exakt gleich aus. Sie kommen aus grossen Spritzgussfabriken in Taiwan und werden dann nur noch in die genormten Einbauslots in den Gebäuden gerollt. Wir sitzen daher auf plüschigen Stühlen vor Fake-Kaminfeuern, trinken Bier ohne Kohlensäure, und weil eine Doktorandin anwesend ist, die heute ihren ersten Konferenzvortrag gehalten hat, sprechen wir darüber, dass man sich im Leben eigentlich immer wie ein Betrüger fühlt. Wir füllen unsere Berufe mehr schlecht als recht gerade so aus, dass niemand merkt, dass wir eigentlich gar keine Autoren, Astronomen, Ärzte oder Anwälte sind. Mir gegenüber sitzt ein Mann im mittleren Alter, der bisher noch nicht viel gesagt hat, vielleicht ist er schüchtern. Deshalb frage ich ihn: "What about you, do you feel like an impostor?". Er denkt ein bisschen nach und antwortet dann, nein, eigentlich nicht. Später erfahre ich, dass es sich um Fred Adams handelt, einen offenbar allen ausser mir bekannten Astrophysiker.

Das heisst natürlich gar nichts, sicher kann man auch als Nobelpreisträger immer noch nachts wach liegen und darüber nachdenken, wann die anderen wohl dahinterkommen, dass man in Wirklichkeit keine Ahnung hat. Interessant wäre, ob die immer wieder in der Presse auftauchenden Ärzte mit gefälschten Zeugnissen nie unter diesem Problem zu leiden haben und sich ganztags wie authentische, kompetente Betrüger fühlen. Falls unter den Lesern dieses Beitrags betrügerische Ärzte sein sollten, würde ich mich über eine kurze Stellungnahme freuen.

"The Five Ages of the Universe" ist laut Vorwort "the most complete and detailed treatment of the future to date", und mit "future" meinen die Autoren hier nicht so einen Kinderkram wie 2036, sondern die nächsten 10149 Jahre. Da muss man sich ein bisschen absichern, deshalb folgt ein Satz, der eigentlich in keinem Vorwort fehlen sollte:

"Almost everything we discuss in this book rests on an additional article of faith. We assume that the laws of physics will continue to hold and will not change with time, at least not until after the time line of this chronicle has run out."

Auf den Inhalt der Einleitung möchte ich nicht näher eingehen. Das Buch ist auch für Laien problemlos verständlich, enthält aber neben schönen und poetischen Wörtern eine Vielzahl von Fakten, die man nicht in seinem Kopf aufbewahren sollte, wenn man später im Leben noch ungestörte Drogenerlebnisse haben möchte. Nur so viel: Schwarze Löcher verdunsten! Es gibt nur 1023 Sandkörner auf der Welt, 1022 Sterne und 1078 Protonen im Universum, aber das Buch deckt einen Zeitraum von 10100 Jahren ab! Kurz: "The number of years between here and eternity is truly immense." Das sind widerwärtige Zumutungen. Schweigen wir davon.

Prokrastinationsbuch: 13 von 200 Seiten geschrieben.


22.11.2007 / 20:53 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Tex Rubinowitz: Das staubige Tier (13-40)

Klaus Nüchterns Vorwort zu Das staubige Tier überblättere ich vorsichtshalber, denn was kann in so einem Vorwort schon drinstehen? Am Ende müsste ich Kritik an Klaus Nüchtern üben, was undankbar wäre, da er mir 2006 durch seine Klagenfurtjurorentätigkeit zu immerhin einem Neuntel von sehr viel Geld verholfen hat. Nebenbei auch 2007 zu einer Steuernachzahlung von wiederum einem Neuntel von fast genauso viel Geld, denn Preisgelder sind steuerpflichtig, wenn sie nicht für das Lebenswerk verliehen werden. Meine Argumentation "Wenn ich nie wieder was schreibe, ist das mein Lebenswerk" stiess bei der Steuerberaterin auf taube Ohren, und so werden von den Geldern der Kärntner Steuerzahler jetzt in Neukölln Gehsteigplatten verlegt.

An Tex Rubinowitz dagegen darf ich Kritik üben, denn er hat das gern und kann zu diesem Zweck stundenlang nachts in verrauchten Chatklausen herumpöbeln. Wo andere Menschen von Kaffee angetrieben werden, von Ehrgeiz oder von Angst, da strömen durch die Psyche von Tex Rubinowitz giftige Industrieabwässer, an die er sich angepasst hat wie ein Bakterium an Batteriesäure. Deshalb verschweige ich hier, dass Das staubige Tier ein ausgezeichneter Wienführer ist, das steht sowieso schon alles in Aleks Scholz' Rezension des Buchs. Stattdessen möchte ich Individualismus und Distinktionsgewinnlertum verteufeln, die wie ein Pesthauch durch dieses Buch wehen. Im ersten Text "Die Fliege" beklagt der Autor, dass immer alle die Mona Lisa sehen wollen, er selbst hat natürlich "ein bestimmtes Bild, das ich immer wieder und immer wieder gern aufsuche, nur kennt das kein Schwein, weil es so versteckt ist und ein einsames Dasein fristet", winzig klein ist das Bild natürlich auch, aber es reicht noch nicht: "Die Sensation, das eigentlich Grossartige an diesem Bild ist aber eine winzig kleine Fliege auf seinem Wams (...) keinem Menschen fällt sie auf." Da muss erst der sensible Wahrnehmer Rubinowitz kommen.

Im zweiten Text geht es ums "einsamste Museum Wiens": "Seit zwanzig Jahren warte ich nun schon, dass da mal einer reingeht. Gesehen habe ich, ausser mir, noch nie einen." Der dritte und vierte Text untergraben meine Vorwurfspläne erst mal durch Makellosigkeit, aber gute Vorwurfspläne halten das aus, so schnell gebe ich nicht auf. In #5 interessiert sich der Autor "für Eier", na gut, übertriebenen Distinktionswunsch kann man ihm dafür nicht unterstellen, es geht nicht einmal um Kreuzkröten-, sondern um ganz normale Hühner- und Enteneier. Auf Seite 38 können wir ihn in einem chinesischen Lokal ertappen, das "naturgemäss von Restaurantkritikern gemieden wird", aber die Beweislage dünnt sich jetzt gefährlich aus. Gerade als ich aufgeben will, beginnt Text #8 mit "Wenn für die Bevölkerung die Badesaison beginnt, nämlich am 1. Mai jeden Jahres, ist sie für mich zu Ende, weil ich Kaltschwimmer bin. Warmes Wasser interessiert mich einfach nicht ..." Weiter kann ich der Sache nicht nachgehen, ohne meinen Nur-den-Anfang-Lese-Vorsatz zu gefährden, weil das Buch so dünn ist, dass ich dann schon fast am anderen Ende wieder herauskäme. Um nicht als individualismuszerfressenes Wrack wie Tex Rubinowitz zu enden, werde ich in nächster Zeit therapeutische Massnahmen ergreifen, die Mona Lisa gut finden und täglich warm baden.

Fundort: Unter dem Laptop von Aleks Scholz, rechte Seite ("wegen der Kühlung")

Prokrastinationsbuch: 13 von 200 Seiten geschrieben.


21.11.2007 / 22:18 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

C.W. Ceram: Götter, Gräber und Gelehrte (13-37)

Dieses Buch stinkt. Obwohl es nagelneu ist (2. Auflage der Sonderausgabe vom Dezember 1999, Rowohlt), riecht es wie fussschweissige Turnhallenmatten. Von welchem Teil des Buchs das Muffeln herrührt, Hochglanzseiten, normale Seiten, Klebebindung, Pappeinband, ist nicht auszumachen. Warum werden Verlage nicht klüger, was stinkende Bücher angeht? In allen Lesememoiren berühmter Leute ist vom Wohlgeruch neuer Bücher die Rede, da kann man doch mal in den Auftrag an die Druckerei schreiben: Das Buch soll bitte nicht nach Turnhallenschweiss stinken.

Ich habe "Götter, Gräber und Gelehrte" wie jeder normale Mensch schon mal mit 14 gelesen. Die Leseontogenese rekapituliert die Lesephylogenese, und in der Pubertät arbeitet man sich allmählich durchs zwanzigste Jahrhundert, bis sich die Lesekiemen verwachsen. Später muss man dann ersticken, wenn man auch nur die erste Seite eines Buchs von Heinrich Böll aufschlägt.

Der erste Satz lautet:

Ich rate dem Leser, das Buch nicht auf der ersten Seite zu beginnen.

Schon aus Misstrauen muss ich jetzt natürlich alles ganz von vorne lesen, wer weiss, worüber der Autor hier hinwegtäuschen will. Und es ist leider immer noch alles so interessant wie damals, das ganze Erwachsenwerden war für die Katz, ich hätte genausogut 14 bleiben können. Wahrscheinlich stimmt das alles überhaupt nicht, was Ceram da behauptet, aber ist mir ein Funken Kritikfähigkeit zugewachsen? Willenlos fahre ich auf der Kindereisenbahn durchs antike Wunderland, rechts Herculaneum, links Winckelmann. Wäre nicht der beissende Gestank, ich hätte noch einmal alle 447 Seiten lesen und neue, grossartige Berufswünsche fassen müssen. Aber dafür reicht die Zeit nicht, denn ich habe zu tun, vom Nichtstun wird man nicht zum C.W. Ceram der Prokrastinationsforschung. "Götter, Gräber und Gelehrte" ist in einer Auflage von fünf Millionen erschienen, da müssen Lobo und ich noch hin, und was ist daran bitte unrealistischer als an Heinrich Schliemanns Jugendplänen?

Schöne Wörter: Stubenfleiss, Lapilli, Striegel, grindigte Köpfe, Perückengelehrsamkeit, betölpeln, Grabädikula, Pentagondodekaeder

Nicht so schöne Wörter: blauen ("Und wieder blaute der Himmel.")

Dazugelernt: Keine Zeit mit dem Zusammenraffen von Wertsachen verlieren. Winckelmann war von "besonderer Veranlagung". Antike Zecher liessen sich beim Singen von Hasen die Hand lecken.

Fundort: Bücherregal von Aleks Scholz ("Mein Verleger sagt, ich muss das lesen, angeblich kennt das jeder ausser mir.")

Prokrastinationsbuch: 11 von 200 Seiten geschrieben.


19.11.2007 / 12:21 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Steven Johnson: Everything Bad Is Good For You (xv-25)

Seite xv-xvi von Everything Bad Is Good For You enthalten vorbildlicherweise eine Zusammenfassung des restlichen Buchs, eigentlich könnte man das Lesen an dieser Stelle auch gleich wieder einstellen. Andererseits steht da auch nicht mehr, als man durch Osmose von Zeitgeistthemen ohnehin schon weiss, das Buch enthält aber sicher noch ein, zwei Informationen, die darüber hinausgehen.

Im Prokrastinationsbuch wird man auf die Einleitung verweisen müssen, in der Johnson ausführlich sein Kindheitshobby Baseball-Simulationen auf Papier beschreibt. Der Spielvorgang dürfte dabei für Ausserirdische ununterscheidbar vom Ausfüllen der Steuererklärung sein (bei beidem kommt gemeinhin ein 20-seitiger Würfel zum Einsatz). Was macht also die Arbeit zur Arbeit und das Vergnügen zum Vergnügen? Komplexität kann schon mal nicht das Unterscheidungskriterium sein.

Im ersten Kapitel, "Games", geht es dann um die Frage, warum Computerspiele keine Zeitverschwendung sind. Es ist natürlich genaugenommen in diesen glücklichen Zeiten gar nichts mehr Zeitverschwendung; die Tätigkeit, die einen nicht wenigstens zum Computerspielerezensenten oder Seriendrehbuchautor qualifiziert, muss erst noch erfunden werden. Beim Lesen der Johnsonschen Buch-Computerspiel-Vergleiche wird mir klar, dass die Lesemaschine ein fossiles Gerät aus dem vorigen Jahrtausend ist, man hätte eine Spielemaschine gründen müssen, warum sind wir da nicht selbst draufgekommen? Jetzt ist es zu spät, wir sitzen in der Falle und müssen uns mit einem Unterhaltungsmedium befassen, das seine beste Zeit hinter sich hat. Aber wer weiss, vielleicht kommt uns bald die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne unserer Generation zu Hilfe, alle Autoren verlieren das Interesse an der Lesemaschine, und wir können endlich die von Kai Schreiber intern bereits geforderten Projekte Musikmaschine, Filmmaschine und Belegte-Brote-Maschine in Angriff nehmen.

Fundort: Bücherregal von Aleks Scholz ("Hilft ungemein, wenn man mitreden will. Ich habe letztes Jahr eine ganze Tagung nur mit diesem Buch bestritten.")

Prokrastinationsbuch: 10 von 200 Seiten geschrieben.


18.11.2007 / 16:36 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

James Ellroy: White Jazz (1-20)

Elmore Leonard, Jim Thompson, Charles Willeford, Chester Himes, James Crumley, James Lee Burke, Mickey Spillane, Joe R. Lansdale, Walter Mosley, James M. Cain, you name it, I read it. Damals, in der Krimibuchhandlung. Die Kunden: "Les mal was von James Ellroy!". Die Kundinnen: "Haben Sie was, was genau wie Elizabeth George ist?". Praktisch nur Kundinnen, Scheissladen. "Haben Sie was, wo eine Katze der Detektiv ist?" Davon geträumt, die jungen Mütter mit der abgesägten Schrotflinte zu beraten.

Fuck, ich hab's versucht. Trotzdem nach ein paar Seiten immer Schluss bei Ellroy. Bin jetzt über 30, kann nicht mehr alles ändern. Bleibe jemand, der nur die Anfänge von James-Ellroy-Büchern liest. Von allen anderen Büchern auch nur den Anfang, Problem gelöst.

Seite 3-8 von White Jazz: Zeitungsartikel von 1958. Fuck, das sind gar keine Rezensionen zum Buch. Muss also alles lesen. Gleich auf der ersten Seite sechs Namen. Fünfeinhalb zu viel. Nächste Seite: Fünf neue Namen, Andeutung politischer Verwirrungen. Verfilmung vermutlich: Elf Personen, identische Trenchcoats, Hüte, keine Chance. Fange an, mich nach einem Detektiv zu sehnen, der eine Katze ist.

Dann endlich Handlung. Weniger Redundanz als ein Loch zwischen den Augen. An sich kein Problem, bei James Crumley genauso. Muss man eben alles lesen, fuck it. Nur: Macht bei Crumley Spass. Hier nicht. Noch fünf Seiten. Another ten minutes of pure shitwork. Der Autor, kann man sich denken: "Kurze Sätze machen viel mehr Arbeit." Yeah right. Scheissdialoge: "But you've got the cojones to snitch." Fuck, fuck, fuck. Dann endlich Seite 20. Licht aus.

Fundort: Bücherregal von Aleks Scholz. ("Ich glaube, ich habe dieses Buch nur gekauft, weil ein Hund vorne drauf ist.")

Prokrastinationsbuch: 10 von 200 Seiten geschrieben.


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