12.06.2010 / 21:46 / Kathrin Passig liest: Dark Light: Electricity and Anxiety From the Telegraph to the X-Ray (Linda Simon)

Mesmerismus, Phrenologie, Spiritualismus (168-194)

Die unsichtbare Elektrizität treibt sich im Körper herum, ermöglicht das Mesmerisieren, überbringt Nachrichten aus dem Totenreich und führt zum Überspringen sexueller Erregung. "If the force could invade the mind, it needed to be controlled, not to let loose in the world." Das Mesmerisieren machte den Menschen willenlos und die Persönlichkeit transparent; die Privatsphärenprobleme des 19. Jahrhunderts interessieren mich aber offenbar mehr als die Autorin, die sie nur hin und wieder am Rande streift.

George Beard ist unzufrieden mit der Begeisterung seiner Mitbürger über spiritualistische Beschäftigungen. Die Spiritualismuswelle der 1830er und 1840er hatte er noch für die "mental puberty" der Nation gehalten, aber die neue Faszination des Okkulten in den 1870ern, dieser Blütezeit von Wissenschaft und Technik, ist ihm unerklärlich. Linda Simon vermutet den Ursprung im Wunsch der Hinterbliebenen der 600.000 Bürgerkriegstoten, mit den Geistern der Toten zu kommunizieren.

"Beard was right in thinking that the brains of nineteenth-century men and women were haunted: even educated people like himself cherished the idea that something in the world always would be impenetrable and magical but nonetheless real; many resented scientists' insistent deriding of the occult." Was steckt hinter diesem Wunsch, da möge noch irgendetwas Unerforschtes oder Unerforschbares hinter den Dingen sein? Die Vorstellung, selbst etwas erkannt zu haben, was den Herrn Wissenschaftlern entgangen ist, also eine Art Widerwillen gegen die – echte oder empfundene – Arroganz der Fachleute? Der Wunsch, der Mensch möge nicht nur aus ein, zwei Zentnern Fleisch bestehen, die Liebe magisch und ewig sein und in Wundertüten nicht immer nur Puffreis und Plastik, sondern hin und wieder auch mal ein Wunder? Eigentlich wäre das reguläre Zeug ja schon unerforscht genug.

Am Ende des Kapitels wird die London Society for Psychical Research (SPR) gegründet, die es bis heute gibt. Die Gründer immerhin wirken wie relativ seriöse Leute, die es gut meinten, einen leidlich empirischen Ansatz verfolgten und offenbar (durch automatisches Schreiben) immerhin nebenbei das Unbewusste entdeckten. "Psychical researchers created a world in which individuals were clinging precariously to a safe harbor of rationality, able to exert only limited self-control, vulnerable as they were to waves from the mother sea, filled with imponderable energy, and to inner surgings from the depths of the unconscious." In der Sache scheint mir das auch heute noch der Stand der Dinge zu sein. Nur die SPR hat nicht mehr viel damit zu tun.


10.06.2010 / 19:52 / Kathrin Passig liest: Dark Light: Electricity and Anxiety From the Telegraph to the X-Ray (Linda Simon)

Grün (nicht zitiert), orange und rosa (96-167)

Was mir an der Lektüre bisher am besten gefällt: Ich verwende ein Werbegeschenk der Firma Siller, einen kleinen Block mit bunten Klebemarkerstreifen. Die Klebestreifen sind halbtransparent und in Farbe, Form und Oberflächenseidigkeit viel befriedigender als die Stückchen alter BVG-Fahrscheine oder Postit-Fetzen, die ich sonst verwende. Sie stecken in einer Art Streichholzbriefchen, das sich auch gut als Lesezeichen eignet.

Viel Verwendung habe ich allerdings nicht dafür gefunden. Es werden weiterhin diverse Biographien nacherzählt, das tut nicht weh, fühlt sich aber an wie Füllmaterial. Interessante Zustände herrschten offenbar in der amerikanischen Medizin des 19. Jahrhunderts. "Early in the nineteenth century, a medical examination consisted largely of observation: taking the pulse and observing skin color, manner of breathing, and appearance of urine. The stethoscope, invented in France in 1819, was only slowly accepted by physicians, who spurned the use of instruments. These artifices, they believed, would diminish, rather than enhance, their authority, because physicians would appear to be nothing more than surgeons, then at the lowest rung of the medical hierarchy."

George Beard, Besitzer von zwei sehr hübschen Bärten und Entdecker der Neurasthenie, führte diese neue Modekrankheit unter anderem auf tiring brain work, Übererregung und den kulturellen Stress zurück, der durch Zeitungen und Zeitschriften in die Welt gekommen war. Und auf die Wissenschaft: "[Beard] recognized that science created a culture of expertise which undermined people's belief in their own authority. Instead of trusting what they could see and hear, people were persuaded that their senses could deceive them. Only scientists, with their knowledge of theory and special access to invisible natural phenomena, were able to distinguish true from false. This undermining of a personal authority led to feelings of anxiety and powerlessness, two symptoms of neurasthenia." Ob man bis zum Auftauchen der Wissenschaft wirklich so grosses Zutrauen in die eigene Autorität hatte? Oder ob die Wissenschaft da nur schon mal die Lücke füllt, die die Religion demnächst freimachen wird? Eventuell müsste man mehr bunte Markerstreifen kleben, um das herauszufinden.


09.06.2010 / 16:15 / Kathrin Passig liest: Dark Light: Electricity and Anxiety From the Telegraph to the X-Ray (Linda Simon)

Ins Licht starren (48-95)

Jetzt geht es lange und breit um das Leben Thomas Edisons. Das ist nicht uninteressant und vermutlich auch fürs Verständnis irgendwie nötig, aber irgendeine neue Idee habe ich der Nacherzählung nicht entnommen. Immerhin weiss ich jetzt, dass es vor der Glühbirne Experimente mit öffentlicher Beleuchtung durch Bogenlampen gab, und dass dabei ein überraschendes Problem auftauchte:

"As Brush marketed his products, he realized that he needed to educate the public about how to avoid 'light blindness.' 'The principal difficulty arose,' he explained, 'from the propensity of everybody to stare directly at the arc, and then declare that everything else looked dark. It took years fully to outgrow this habit.'"

Vermutlich häufig zitiert wird die Überschrift auf der ersten Seite der New York Times vom 28. Dezember 1879: "Edison's Electric Light, Conflicting Statements As To Its Utility". Im August 1881 gab es Beschwerden über Pferde, die sich auf Strassen, unter denen Stromkabel verlegt waren, angeblich seltsam verhielten. Öffentliche Stromversorgung in Städten scheint erst mal ähnlich schwer durchsetzbar gewesen zu sein wie öffentliche WLAN-Versorgung heute; wer elektrisches Licht zu Hause haben wollte, blieb auf batteriebetriebene Lampen angewiesen. Nur die Superreichen konnten sich eigene Generatoren leisten. Alice Vanderbilt, die Frau von Cornelius Vanderbilt II, erschien auf einem Kostümball im Jahr 1883 als "Elektrisches Licht". Ausser Licht war mit Strom vorerst nichts zu erzeugen.

"Would electricity bring peace, ensure equality, free people from oppression, banish terror? Or would wires strung across public squares leak electricity into the atmosphere, upsetting the balance of nature? Would electricity have dire consequences to the body or the mind, as yet unforeseen? Those were the questions that remained, for the world in the 1880s, unanswered."


08.06.2010 / 15:41 / Kathrin Passig liest: Dark Light: Electricity and Anxiety From the Telegraph to the X-Ray (Linda Simon)

Eine Zeitreise (1-47)

Nachdem der Telegraf 1836 funktionierte, dauerte es noch zehn Jahre, bis die Welt wenigstens teilweise einsah, wozu das neumodische Ding gut sein sollte. Privatsphärenbedenken wurden vorgebracht, man fand das Telegrafieren zu teuer, und die Regierung wollte kein Geld dafür ausgeben, "on the ground that, however beneficial it might be as a private enterprise, and however advantageous to the Government in the rapid transmission of intelligence, yet it could never become a paying concern."

Bekannt auch das: "Outside of the marketplace, men and women had little experience with the reality of the telegraph; instead, they were subjected to contradictory views in newspaper and magazine articles, some complaining about the technology's problems, many more proclaiming its potential to transform social, political and cultural life." Die verbesserte Verständigung wird das gegenseitige Verstehen befördern, Kriege der Vergangenheit angehören, die Papierpost wird verschwinden, Geschäftsmänner werden weniger mit dem Zug reisen und ihre Geschäfte telegrafisch erledigen, die Sprache wird knapper und präziser werden, was manche gut und andere schlecht finden.

Die heutigen Privatsphärenfragen sind nicht neu (ich springe jetzt ein bisschen in der Zeit, die das Buch behandelt und zitiere aus dem Vorwort): "With the X-ray, which burst into the culture at the same time as psychoanalysis, popular fascination with the hidden mysteries of the self lessened the fears – of invasion, loss of privacy, and erosion of authority – with which people had responded to previous innovations."

Ein bisschen klüger sind wir in der Zwischenzeit geworden, aber die Grundsatzfragen ähneln sich doch sehr: "What were the risks of increased knowledge, not just of news and information but of other people? What were the risks of connecting with another person through electrical impulses conveyed by wires? What kind of relationship was possible through interactions by brief messages? What was one's responsibility to people who were voiceless and faceless? In a world teeming with news, what were the risks of insularity?"

Was kann man daraus jetzt lernen? Einfach nur "Alles schon mal dagewesen, immer dasselbe" greift sicher zu kurz. Mal abwarten, wie es weitergeht. (Das ist jetzt noch nicht der Lernvorschlag, sondern mein Plan für den Rest der Lektüre.)

(Danke an @AndreasPraefcke für den Lesetipp.)


11.01.2008 / 12:29 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Iwan Gontscharow: Oblomow (7-77)

Wenn man die Prokrastination einmal ernst nimmt und nicht immer nur nebenbei verfolgt, stellt man schnell fest, dass in dem, was man bisher für gefestige Prokrastinationskenntnisse hielt, beschämende Lücken klaffen. Weder Oblomow noch sein Autor waren mir bisher ein Begriff, dabei wird gleich auf den ersten Seiten lehrbuchmässig prokrastiniert: Der Protagonist liegt im Bett herum und versucht aufzustehen, was ihm nicht vor Seite 56 gelingt. Denkbar wäre allerdings – so früh im Buch kann ich mir dazu noch keine Meinung bilden – dass Oblomow gar nicht prokrastiniert, sondern schlicht faul ist. Ein Prokrastinierer wäre spätestens auf Seite 30 aus dem Bett gesprungen und hätte sich aufwändigen Beschäftigungen hingegeben, um den eigentlich anstehenden Aufgaben besser aus dem Weg gehen zu können. In Oblomows Fall sind diese Aufgaben besonders abschreckender Art: Rechnungen bezahlen, eine neue Wohnung suchen, unangenehme Briefe beantworten. Vielleicht befindet er sich angesichts dieses Dornengestrüpps der Anforderungen in einem fortgeschrittenen Lähmungszustand, in dem nur noch Liegenbleiben hilft.

Oblomows Diener Sachar hat es etwas leichter, denn er bekommt klare und überschaubare Anweisungen und wird dafür bezahlt, ihnen nachzukommen. Zudem ist er ein weiser Mann, der überlieferte Bräuche nicht einfach unhinterfragt übernimmt:

"Fege ordentlich, kehr den Schmutz aus den Winkeln, dann gibt es das alles nicht", belehrte ihn Oblomow.
"Heute kehrt man, morgen hat es sich wieder angesammelt."
"Nichts sammelt sich wieder an", unterbrach ihn sein Herr. "Das darf eben nicht geschehen."
"Es sammelt sich wieder an, ich weiss es", behauptete der Bediente.
"Und wenn es sich wieder ansammelt, kehrst du eben wieder aus."
"Wie? Jeden Tag alle Winkel ausfegen?" fragte Sachar. "Was für ein Leben wäre denn das? Lieber soll Gott meine Seele zu sich nehmen!"

Das ist vernünftig gedacht, und eine verwandte Argumentation findet sich in "How to Be Free", wenn Tom Hodgkinson dazu rät, zwecks Putzersparnis zu Hause nur Kerzen zu verwenden. Derselbe Effekt lässt sich noch preiswerter erzielen, indem man zu Hause die Brille ab- oder die Kontaktlinsen herausnimmt.

Oblomow bekommt Besuch von mehreren Freunden, die er nach ihrem Weggang bemitleidet. Zuerst den hauptberuflichen Partygast Wolkow: "Zehn Besuche an einem Tag, der Unglückliche! dachte Oblomow. Und das soll ein Leben sein! Er zuckte heftig die Schultern. Wo bleibt da der Mensch?" Sudbinskij ist Abteilungschef in einer Kanzlei: "Du steckst drin, lieber Freund, bis über die Ohren steckst du drin, dachte Oblomow, während er ihm mit den Augen folgte. Ist blind und taub und stumm für alles übrige in der Welt. (...) Wozu das alles? Luxus!" Penkin, der Autor: "Und immer schreiben, immer schreiben, wie ein Rad, wie eine Maschine: morgen schreiben, übermorgen; ein Feiertag kommt, es wird Sommer, und er schreibt und schreibt. Wann wird er aufhören und sich ausruhen? Der Unglückliche!"

Tatsächlich geht es Oblomow ganz gut: Er hat einen Diener, einige Tausend Papierrubel an jährlichen Einnahmen aus Landbesitz, und er bekommt im Bett liegend Besuch von seinen Freunden. Das ist mir im ganzen Leben noch nicht passiert, und dabei habe ich es weiss Gott nicht am Im-Bett-Herumliegen fehlen lassen. Er wirkt nicht glücklich, aber wer kann sich schon des Lebens freuen, wenn Zwangsräumung der Wohnung und anderes Ungemach drohen. Ich verlasse ihn, auf einem Diwan liegend, in der Hoffnung, dass die verbleibenden 580 Seiten nicht zu viele Unannehmlichkeiten für Oblomow mit sich bringen werden. Man ist den Launen des Erzählers so hilflos ausgeliefert, wenn man einfach nur im Bett herumliegen möchte, und wer weiss, was dieser Iwan Gontscharow für einer ist. Aber noch könnte alles gut werden.

Prokrastinationsbuch: 40 von 200 Seiten geschrieben.


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