11.01.2008 / 12:29 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Iwan Gontscharow: Oblomow (7-77)

Wenn man die Prokrastination einmal ernst nimmt und nicht immer nur nebenbei verfolgt, stellt man schnell fest, dass in dem, was man bisher für gefestige Prokrastinationskenntnisse hielt, beschämende Lücken klaffen. Weder Oblomow noch sein Autor waren mir bisher ein Begriff, dabei wird gleich auf den ersten Seiten lehrbuchmässig prokrastiniert: Der Protagonist liegt im Bett herum und versucht aufzustehen, was ihm nicht vor Seite 56 gelingt. Denkbar wäre allerdings – so früh im Buch kann ich mir dazu noch keine Meinung bilden – dass Oblomow gar nicht prokrastiniert, sondern schlicht faul ist. Ein Prokrastinierer wäre spätestens auf Seite 30 aus dem Bett gesprungen und hätte sich aufwändigen Beschäftigungen hingegeben, um den eigentlich anstehenden Aufgaben besser aus dem Weg gehen zu können. In Oblomows Fall sind diese Aufgaben besonders abschreckender Art: Rechnungen bezahlen, eine neue Wohnung suchen, unangenehme Briefe beantworten. Vielleicht befindet er sich angesichts dieses Dornengestrüpps der Anforderungen in einem fortgeschrittenen Lähmungszustand, in dem nur noch Liegenbleiben hilft.

Oblomows Diener Sachar hat es etwas leichter, denn er bekommt klare und überschaubare Anweisungen und wird dafür bezahlt, ihnen nachzukommen. Zudem ist er ein weiser Mann, der überlieferte Bräuche nicht einfach unhinterfragt übernimmt:

"Fege ordentlich, kehr den Schmutz aus den Winkeln, dann gibt es das alles nicht", belehrte ihn Oblomow.
"Heute kehrt man, morgen hat es sich wieder angesammelt."
"Nichts sammelt sich wieder an", unterbrach ihn sein Herr. "Das darf eben nicht geschehen."
"Es sammelt sich wieder an, ich weiss es", behauptete der Bediente.
"Und wenn es sich wieder ansammelt, kehrst du eben wieder aus."
"Wie? Jeden Tag alle Winkel ausfegen?" fragte Sachar. "Was für ein Leben wäre denn das? Lieber soll Gott meine Seele zu sich nehmen!"

Das ist vernünftig gedacht, und eine verwandte Argumentation findet sich in "How to Be Free", wenn Tom Hodgkinson dazu rät, zwecks Putzersparnis zu Hause nur Kerzen zu verwenden. Derselbe Effekt lässt sich noch preiswerter erzielen, indem man zu Hause die Brille ab- oder die Kontaktlinsen herausnimmt.

Oblomow bekommt Besuch von mehreren Freunden, die er nach ihrem Weggang bemitleidet. Zuerst den hauptberuflichen Partygast Wolkow: "Zehn Besuche an einem Tag, der Unglückliche! dachte Oblomow. Und das soll ein Leben sein! Er zuckte heftig die Schultern. Wo bleibt da der Mensch?" Sudbinskij ist Abteilungschef in einer Kanzlei: "Du steckst drin, lieber Freund, bis über die Ohren steckst du drin, dachte Oblomow, während er ihm mit den Augen folgte. Ist blind und taub und stumm für alles übrige in der Welt. (...) Wozu das alles? Luxus!" Penkin, der Autor: "Und immer schreiben, immer schreiben, wie ein Rad, wie eine Maschine: morgen schreiben, übermorgen; ein Feiertag kommt, es wird Sommer, und er schreibt und schreibt. Wann wird er aufhören und sich ausruhen? Der Unglückliche!"

Tatsächlich geht es Oblomow ganz gut: Er hat einen Diener, einige Tausend Papierrubel an jährlichen Einnahmen aus Landbesitz, und er bekommt im Bett liegend Besuch von seinen Freunden. Das ist mir im ganzen Leben noch nicht passiert, und dabei habe ich es weiss Gott nicht am Im-Bett-Herumliegen fehlen lassen. Er wirkt nicht glücklich, aber wer kann sich schon des Lebens freuen, wenn Zwangsräumung der Wohnung und anderes Ungemach drohen. Ich verlasse ihn, auf einem Diwan liegend, in der Hoffnung, dass die verbleibenden 580 Seiten nicht zu viele Unannehmlichkeiten für Oblomow mit sich bringen werden. Man ist den Launen des Erzählers so hilflos ausgeliefert, wenn man einfach nur im Bett herumliegen möchte, und wer weiss, was dieser Iwan Gontscharow für einer ist. Aber noch könnte alles gut werden.

Prokrastinationsbuch: 40 von 200 Seiten geschrieben.


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Bitte, geschätzte Frau Passig, sagen Sie doch um alles in der Welt, was Prokrastination ist oder sein soll: Ich finde dieses Wort in keinem meiner Nachschlagwerke.

11.01.2008 / 18:12

Kommentar #2 von Emmanuelle C.:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich einer Suchmaschine ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel eines Internetzugangs, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere Google! Habe Mut, dich einer Suchmaschine zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Wikipedia: Prokrastination

11.01.2008 / 18:31

Kommentar #3 von Rudi K. Sander:

Unbekannte Emanuelle: ich hab's gewusst, ich hasse diesen Gang nach dem Besserwisser- und Alleswissercanossa. Warum genügen mir meine angeblich so klugen Bücher nicht? Der einzige Trost, der bleibt: Nichts Süsseres, als von einer Dame eines Besseren belehrt zu werden. Ich küsse Ihnen respektvoll die Hand, my Lady. Seien Sie mir dennoch wohlgesonnen.
Ihr Rudi K. Sander
http://luhmannius-differenztheorie.blogspot.com

12.01.2008 / 01:57

Kommentar #4 von J.Katz:

Novalis Fragmente: Von der geheimen Welt wären sicher auch eine hilfreiche Lektüre in Sachen Prokrastination.
"Jahreszeiten, Tageszeiten, Leben und Schicksale sind alle, merkwürdig genug, durchaus rhythmisch, metrisch, taktmässig. In allen Handwerken, und Künsten, allen Maschinen, den organischen Körpern, unsren täglichen Verrichtungen, überall: Rhythmus, Metrum, Taktschlag, Melodie. Alles, was wir mit einer gewissen Fertigkeit tun, machen wir unvermerkt rhythmisch. Rhythmus findet sich überall, schleicht sich überall ein. Aller Mechanism ist metrisch, rhythmisch. Hier muss noch mehr drin liegen. – Sollt' es bloss Einfluss der Trägheit sein?"

12.01.2008 / 23:46