25.12.2007 / 23:57 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Direttissima tabu (412-439)


Direkter Weg zur Unendlichkeit (Bildmitte)
Foto, Lizenz
Weihnachten ist ein schwieriger Sport: Im Stundentakt wechselt die Aufnahme fettreicher Substanzen und das Lesen über hungernde Menschen in den Büchern, die man mir so schenkt. Nach drei Tagen entscheidet sich der Körper für einen kontemplativen Gleichgültigkeitszustand zwischen aktivem Essen und passivem Hungern, ohne auf die Anfeindungen von draussen noch zu reagieren.

In der Zwischenzeit baut Penrose weiter, an dem Minkowski-Raum, der uns alle umgibt. Verlötet man den Raum, irgendeinen, mit einer x-beliebigen Zeit, dann sind Umwege im Raum immer auch Abkürzungen in der Zeit, weswegen der intragalaktisch weltreisende Zwilling, wenn man so einen hat, viel jünger ist, wenn er zurückkehrt. Die Zeit verläuft am langsamsten, wenn man sich auf dem geraden, gleichförmigen Weg befindet. Der kürzeste Weg ist immer der längste.

Lange dachte ich darüber nach, ob man mit dieser Erkenntnis reich und berühmt werden kann. Man könnte darauf bestehen, dreimal soviel Serpentinen wie nötig in den Berg zu hauen, und das Ganze dann "Wallfahrt zur ewigen Jugend" nennen. Man könnte lieber in Schlängellinien zum Mond fahren oder überhaupt prinzipiell nie in der Direktlinie auf die Eiger Nordwand steigen. Aber was bringt es? Dann kommt Weihnachten, wieder nimmt man drei ungesunde Mahlzeiten pro Stunde ein und der ganze Verjüngungseffekt ist dahin.

Stattdessen werde ich die paar verbleibenden unbeschleunigten Jahrzehnte verwenden, um die Penrose-Vision von einem Riemannschen Sternenhimmel umzusetzen. Die Himmelskugel, diese billige schwarze Litfasssäule für allen möglichen Unfug (aktuelles Beispiel: Gammablitz aus dem Nirgendwo, warum?), bisher in langweilige Planquadrate eingeteilt wie der Stadtplan von Murmansk, wird bei Penrose dargestellt durch die Riemannsche Zahlenkugel aus Kapitel 8, eine sphärische Ansammlung aller komplexen Zahlen also. Jeder Stern bekommt seine eindeutige komplexe Telefonvorwahl, unter der man ihn erreichen kann; endlich Schluss mit dem leidigen Switchboard-Chaos am Grossen Attraktor. Und das Beste: Eine Stelle am Himmel, zur Zeit benutzerfreundlich durch den Polarstern markiert, entspricht der Zahl "unendlich".

Kein ratloses Stammeln mehr, wenn man gefragt wird, wo sie denn wohl liegt, diese Unendlichkeit.

439 von 1049 Seiten

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19.12.2007 / 14:52 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Raumzeitschaltuhr (383-411)


O-Bus (Foto, Lizenz)
Seite 383 markiert den Beginn einer neuen Zeitrechnung: Physik statt Mathematik, der Urknall des Penrosebuchs – die Erschaffung einer physischen Welt aus einer abstrakten. Ich bin etwas unentschlossen, wie ich mit der neuen, herrlichen Welt umgehen soll; lieber infantil herumtapsen und Zeug faseln oder doch gleich hart an die Arbeit gehen? Ach, ich mache einfach beides gleichzeitig. Drei Säulen sind es, auf denen die Allgemeine Relativitätstheorie ruht, alle angedacht von Galileo, was bemerkenswert ist, weil er lange von Würmern zerfressen war, als endlich jemand das Patent für Einstein einreichte.

1) Das Prinzip der Relativität: Den Gesetzen der Physik ist es erschreckend egal, ob sie in einem ruhenden oder gleichförmig bewegten System Anwendung finden, sie funktionieren genau gleich. Während bei Aristoteles der unbewegte Punkt noch ein besonderer war, schafft Galilei diese Ausnahmestellung ab und vernichtet damit die Absolutheit des Raums. Der Raum wird in jedem Moment neu geschaffen, der Punkt auf diesem i hier ist im nächsten Moment schon ein ganz anderer (Reload gilt nicht), und es gibt keine Chance, ihn festzuhalten.


Äquivalenz (Foto,Lizenz)
2) Das Prinzip der Äquivalenz: Träge und schwere Masse sind gleich. Lässt man in einem geschlossenen Möbelwagen einen Stein fallen und bewegt er sich gehorsam zu Boden, so gibt es zwei Erklärungen: Der Möbelwagen befindet sich auf der Erde und bewegt sich nicht. Oder aber er fliegt in einem beschleunigten Raumschiff durchs All. Wenn man sehr vergesslich ist, gibt es keine Möglichkeit zu wissen, wie es wirklich ist, falls einen das überhaupt interessiert.

3) Licht bewegt sich zwar ziemlich schnell, aber immerhin mit einer endlichen, konstanten Geschwindigkeit. Mit ein paar Handgriffen sieht man schnell, was das für dramatische Folgen hat: Vorbei ist es mit der Absolutheit der Zeit. Was morgen heute ist, muss gestern nicht übermorgen gewesen sein. Auf Wiedersehen, absolute Zeit, es war schön mit dir. Minkowski, 1908:

Henceforth space by itself, and time by itself, are doomed to fade away into mere shadows, and only a kind of union of the two will preserve an independent reality.


Relativität (Foto , Lizenz)
Es ist mir schlichtem Gemüt vollkommen einsichtig, warum die drei Raumdimensionen und die Zeit zusammen gehören. Denn abgesehen davon, dass nur die Zeit eine festgelegte Richtung hat, sind Raum und Zeit gar nicht mal so unähnlich in ihrer Wirkung auf den menschlichen Organismus. Würde man sich genauso stur durch den Raum fortbewegen wie durch die Zeit, sagen wir 20 Kilometer pro Tag in eine festgelegte Richtung, ohne Chance auf Umkehr*, dann sähe man auch ziemlich schnell alt aus. Bewegung, egal ob in Ort oder Zeit, führt zum Altwerden der Persönlichkeit. Das Verharren an einem Ort bzw. die Rückkehr zu immer demselben und damit das ganze Konzept von Heimat ist ein elendiger newtonscher Versuch, Raum und Zeit künstlich zu trennen, in dem man die drei Raumkoordinaten festhält, während die Zeit unbeirrbar weiterrauscht. Die einzige Lebensweise, die nach Minkowski und der Verbindung von Raum und Zeit noch plausibel erscheint, ist das Nomadentum.

* Das Vergehen der Zeit ist räumlich betrachtet wie ein Zug nach Auschwitz: Man kann es nicht aufhalten und es endet mit dem Tod. Nazivergleiche in Fussnoten unterzubringen, ist heute der einzig legitime Weg, Godwin's Law zu umgehen.

411 von 1049 Seiten

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13.12.2007 / 16:35 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Why not? (383-383)


Credit: Roger Smith/NOAO/AURA/NSF (Quelle)
Mittlerweile ein grundlegendes Verständnis von TC Boyle erlangt. Seine neueren Bücher sind deshalb vor allem in Europa so beliebt, weil sie Amerika so präsentieren, wie wir es gerne sehen: Voll mit fettiger Nahrung, degenerierten Systemen und oberflächlichem Schund; beherrscht von Konsum, Bigotterie und Klimaanlagen, dem Untergang geweiht. Nur ab und zu begegnet man mal einem sympathischem Menschen. Das ist überhaupt die grösste Zumutung: die Vorstellung, dass dort offenbar auch noch Menschen leben müssen.

Die siebte Nacht auf Cerro Tololo. Vielleicht geht es immer so weiter: Abends wach, morgens müde. Mindestens ein perfekter Sonnenuntergang pro Tag. Nachts vor dem Teleskop stehen und minutenlang exakt gar nichts sehen, bis sich die Augen an den Mangel an Photonen gewöhnt haben. Umgeben von summenden weissen Kuppeln, darüber Milchstrasse, Magellansche Wolken, Kreuz des Südens, Kohlensack, der ganze Dreck. Alles dreht sich. Am Horizont die Lichter der restlichen Welt, weit weg. Die Vorstellung verlieren, dass man da unten auch irgendwie existieren kann.

Vielleicht aber auch nicht und morgen ist Schluss damit. Zwar blieb auf dem Berg keine Zeit für die Theorie der Raumzeit (Kapitel 17), stattdessen aber starte ich jetzt eine empirische Untersuchung des Themas: Zwischen mir und Santiago (Abflug Samstag halb sechs) liegen cirka 500 km, von denen ich bislang nur weiss, dass sie von oben langweilig aussehen: graue, faltige Landschaft, ein bisschen wie das Innere meines Hirns. Macht so zehn Kilometer pro Stunde, theoretisch also zu schaffen, wenn man sich einen Esel mietet. Am anderen Ende des Wurmlochs werde ich wieder im Alpha-Universum auftauchen. Aber warum?

383 von 1049 Seiten

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11.12.2007 / 21:31 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Der Gödel-Wettbewerb (357-382)


Besessenheit (Foto, Lizenz)
Zurück zu Penrose. Kapitel 16 darf auf keinen Fall ignoriert werden, denn es enthält zum einen Cantors Diagonalargument, mit dem man beweisen kann, dass es zwischen eins und zwei mehr als unendlich viele Zahlen gibt, was man immer mal wieder braucht. Leider verausgabt Penrose sich mit einer schwierigen Variante, obwohl es eine wunderschöne volkstümliche Version gibt, die einen im Geiste ein Kontinuum umarmen lässt.

Zum anderen sind wir jetzt endlich zurück bei Gödels Theorem. Mein privates Schicksalsband mit Gödel* wurde anderswo beschrieben; hier soll es um Gödels Rolle für die moderne Esoterik gehen: Gödel + esoteric = 27.600 Googletreffer. Gödels Theorem ist, was falsche Wiedergabe in der ausserfachlichen Sekundärliteratur angeht, etwa auf gleicher Höhe mit der speziellen Relativitätstheorie und der Unschärferelation und gehört damit zu den grossen Missverständnissen des 20. Jahrhunderts. Nun kann man, das behaupte ich jetzt mal, theoretische Physik und moderne Mathematik einem breiteren Leserkreis nicht richtig erklären. Immer wird man platte Vereinfachungen verwenden müssen, mit anderen Worten: Fehler. Populärwissenschaft ist eben ein schmutziges Geschäft und nur wenige sind dem gewachsen. Gödels Theorem jedoch bietet zusätzlich den Vorteil, dass es in platter Vereinfachung zu irrsinnig warmherzigen Welterklärungen Anlass gibt.

Oft liest man zum Beispiel, Gödel hätte bewiesen, dass man mathematische Sätze nicht beweisen kann. Anders ausgedrückt: Mathematik ist immer falsch. Noch eine Stufe weitergedreht: Rationales Denken, das zeigt Gödels Satz, funktioniert überhaupt gar nicht und man muss die Probleme der Welt anders angehen. Das ist natürlich totaler Quatsch, aber sehen Sie? In wenigen Sekunden von harter Mathematik zu einer neuen Religion, mit der man bei Frauen angeben kann. Das Problem mit Gödels Zeug: Wenn man es richtig hinschreibt, versteht es niemand.** Deshalb versuche ich es hier gar nicht erst, weise aber darauf hin, dass es nicht einfach ist.

Ich würde gern herausfinden, wie man Gödels Theorem noch anders falsch formulieren kann. Man muss es sich so vorstellen: Durch die Komplexität des Gödelschen Arguments wird ein vieldimensionaler Raum an fehlerhaften Interpretationen aufgespannt, der, so vermute ich hier, unendlich ist. Das bedeutet, es gibt unendlich viele, aber doch mindestens sehr viele falsche Interpretationen von Gödels Satz, von denen ich gern mehr wissen würde. Die bizarrste falsche Formulierung des Theorems gewinnt irgendwas, z.B. drei Bücher von TC Boyle (mathematisch einfach).

* "Als er noch ein kleiner Junge war, hatte man ihn »den Herrn Warum« genannt." (Quelle)

** "Niemand" im üblichen Sinne von "nur einige Mathematiker".

382 von 1049 Seiten

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10.12.2007 / 03:23 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Sklaven des Lichts (325-356)


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Nach vier Nächten mit dem Teleskop verwachsen. Die Geräusche der Kuppel gehen nicht mehr aus dem Ohr. Der Tagesablauf strikt nach dem Sonnenlauf geregelt. Nachts von neun bis sechs beobachten, nachmittags eine Stunde kalibrieren, dann von vier bis sechs felsklettern. Danach Tiere beobachten von acht bis neun, verbleibende Lücken mit Schlafen und Essen füllen. Es ist ein so einfaches Leben, wenn man präzise Anweisungen (hell! dunkel!) befolgt.

Mittlerweile hat die taube Dana Halter mit ihrem Freund Bridger Martin ihren Namensdieb Dana Halter aufgesucht, der allerdings mittlerweile Lunte gerochen hat, und deswegen seit ein paar Tagen Bridger Martin heisst. Obwohl Bridger Martin glaubt, Dana Halter zu suchen, sucht er in Wahrheit Bridger Martin, schreibt TC Boyle. That's some weak-ass bullshit right there, man. In ruhigen Nachtphasen durch Kapitel 15 geblättert, Penrose: "We get a bit serious!" Faserbündel, Clifford-Bündel, komplexe Vektorbündel, Tangentenbündel – das ist doch Code, oder? Ist Bundle vielleicht Package? Oder Muscle? Some tricky gangsters, them theoreticians.

Diesen ganzen Quatsch gibt es hier jedenfalls nicht: Die Atacama ist das Reich der Vizcachas.

356 von 1049 Seiten

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