22.01.2008 / 19:22 / Michaela Gruber liest: Über die Liebe (Stendhal)

Schön Hässlich (58-81)


Fürsten -man möchte keiner sein, noch möchte man sie auf der Liste seiner Anbeter haben Quelle: creativity+ auf Flickr
Es gibt viele Bilder, die beschreiben, wie Liebe entsteht, oft spielen sie mit dem Feuer, der Funke springt über, man entflammt und am Ende brennt man lichterloh. Bei Stendhal beginnt alles in kühler Dunkelheit. Wirft man einen kahlen Zweig in den tiefen Stollen eines Salzbergwerks und lässt ihn dort in Ruhe nachdenken, kann man ihn nach ein paar Wochen mit Tausenden winzigen Kristallen bedeckt wieder heraus ziehen. Der chemische Vorgang der "Kristallisation" wird für ihn zum Gleichnis für "die Tätigkeit des Geistes, in einem jeden Wesenzug eines geliebten Menschen neue Vorzüge zu entdecken." In einer sehr langen Fussnote verteidigt er den Begriff:

"...ohne den Gebrauch dieses Wortes, das immer wieder durch eine langatmige Umschreibung ersetzt werden müsste, würde die Erklärung, die ich für das finde, was im Kopf und im Herzen eines verliebten Menschen vorgeht, dunkel, schwerfällig und langatmig werden, sogar für mich als Autor: wie viel mehr für den Leser (...)"

Den Leser nicht durch Langatmigkeit langweilen zu wollen, ist ein lobenswerter Vorsatz. Wird ein Wort in kaum lesbar winzigen Buchstaben über mehrere Seiten lang gerechtfertigt, ist er als gescheitert anzusehen.

Doch dann kommt mir mein Rumgemeckere kleinlich vor angesichts der Erhabenheit des Gedankens, wie er in der Überschrift von Kapitel Siebzehn formuliert ist: Liebe entthront die Schönheit!
In Kostolanys Roman wird Lerche wegen ihrer Hässlichkeit zur alten Jungfer. In Stendhals Welt herrscht eine andere Logik.

"Geht man soweit, eine Hässliche vorzuziehen, zu lieben, dann bedeutet uns eben Hässlichkeit Schönheit."

"Ein anderer Mann lernt eine Frau kennen und wird von ihrer Hässlichkeit abgestossen; da sie sich nichts anmasst, lässt ihn ihr Gesichtsausdruck bald die Mängel ihrer Erscheinung vergessen: er findet sie liebenswürdig und findet, man könne sie auch lieben. Acht Tage später fasst er Hoffnung; acht Tage danach wird ihm diese wieder geraubt; nach einer Woche ist er toll." 1


Die nur so mittel bis eher gar nicht gut aussehenden haben es in vieler Hinsicht besser als die "aussergewöhnlich schönen Frauen":

"Weil die Vorzüge solcher Frauen jedermann sichtbare Schaustücke sind, haben sie auf der Liste ihrer Anbeter so viele Dummköpfe, Fürsten, Millionäre und andere."


Gut, dass Lerche sich nicht mit solchem Typen2 rumschlagen muss. Bleibt nur die Sache mit der Anmassung – diese lässt sich, meiner Erfahrung nach, manchmal nicht vermeiden. Muss man auch nicht, laut Boris Groys3:

Die Begrenzungen sind keine, weil die Grenzen des Aussehens, die organischen, körperlichen Grenzen, eine Frage der Interpretation sind. Kämpft jemand gegen die Grenzen in diesem Sinne, dann macht er schon einen Fehler (...) Es geht allein darum, jeden Nachteil, so wie er ist, und ohne Kompensation einfach zum Vorteil zu erklären. (...) Man muss bloss darauf achten, in welchem Kontext und unter welchen Bedingungen das, was zunächst einmal als Nachteil angesehen wird, wie ein Vorteil aussehen kann. Das erfordert eine gewisse Fähigkeit zur Imagination und ein strategisches Geschick, ist aber grundsätzlich machbar.

1 Der letzte Satz beschreibt eine Kristallisation im Schnelldurchlauf.

2Stendhal in einer Fussnote: "Man sieht, dass der Autor weder Fürst noch Millionär ist. Ich möchte diese Vorstellung bei meinem Leser nicht aufkommen lassen."

3Groys ist neben anderem Professor für Ästhetik und muss es wissen. Aus "Politik der Unsterblickeit", Carl Hanser Verlag, 2002


81 von 387 Seiten

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21.01.2008 / 20:32 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Der Einstein-Podolski-Rosen-Sturm (578-608)

Zahlreiche Komplikationen in der Welt entstehen erst dadurch, dass es mehr als ein Teilchen gibt. Eine Vielteilchenwelt wäre an sich noch nicht problematisch, wenn die einzelnen Partikel schön autistisch vor sich hin existieren würden; stattdessen aber bestehen die meisten unter ihnen auf Interaktion und Kommunikation. Wir kommen nun zum bösartigsten Vertreter der Wechselwirkungen zwischen Teilchen: die Quantenverschränkung, von Penrose euphemistisch Quanglement genannt, physikalische Grundlage für so alltägliche Dinge wie Quantencomputer, Teleportation, Quantenkryptographie, Zeitreisen und Anton Zeilinger.


Foto, Lizenz
QUANGLEMENT. Ein hinkendes Beispiel, damit man es auch versteht. Frau X, ein eher unscheinbares Wesen, besitzt zwei kleine Katzen, Geschwister gar, beide agil und freundlich in ihrer Natur und vom Äusseren nicht zu unterscheiden. Des Nachts liegen beide Katzen in ihren Schlafkisten, von aussen ist nicht erkennbar, ob sie leben oder tot sind. Frau X verkauft die eine an Physiker A, die andere an Zyniker B, in gutem Glauben, sie weiss es eben nicht besser. Nun fährt B mit seinem schlafenden Katzenkauf nach Kirgisien, während A sich nach Hause in sein Bachelor-Appartement begibt. Wohlig räkelt sich seine Katze auf der braunen Ledercouch, zufrieden mit dem neuen sozialen Umfeld. B inzwischen jedoch holt, kaum in Kirgisien angekommen, einen Vorschlaghammer und schlägt ihn seiner Katze aufs Hirn. Zumindest bei dieser Katze steht jetzt fest, dass sie tot ist. Soweit der normale Lauf der Welt. Jetzt jedoch geschähe das Aussergewöhnliche, wenn es sich nicht um Katzen, sondern um Photonen handeln würde: In dem Moment, im dem die kirgisische Katze stirbt, entschläft unvermittelt auch die im Hause von Physiker A.

An obengenannter Geschichte über verschränkte Teilchen, dem Einstein-Podolski-Rosen-Paradoxon, fallen mindestens zwei Seltsamkeiten auf. Zum einen wäre da die Frage zu untersuchen, warum das Ganze nie mit makroskopischen Teilchen wie Katzen abläuft, sondern eben nur mit Quanten. Wäre es anders, niemand könnte seines Lebens mehr sicher sein, ständig würden sich Dinge verändern, in Abhängigkeit von dem, was irgendeiner am anderen Ende der Galaxie gerade unternimmt. Verschränkungen werden jedoch aufgehoben, wenn man am Teilchen rumspielt, zum Beispiel mit einem Vorschlaghammer oder einer Fliegenklatsche, und so, man erinnert sich, die Wellenfunktion zum Kollabieren kommt. Würde niemand je Quanten manipulieren, unser gesamtes Universum wäre verschränkt und man könnte nicht mehr aus dem Haus gehen, ohne im Andromedanebel Weltkriege in Gang zu bringen. So gesehen eine gute Sache, dass unsere Teilchenbeschleuniger Tag und Nacht laufen, das sagen sowohl Roger Penrose als auch ich.


The world according to EPR (Foto, Lizenz)
Die andere Seltsamkeit: Wenn am einen Ende der Welt ein Teilchen verändert wird, woher erfährt das Zwillingsteilchen am anderen Ende davon? Und zwar unabhängig von der dazwischenliegenden Entfernung, also sofort, ohne Verzögerung? Es gibt nur einen Weg von einem Teilchen zum anderen, aber der führt leider über die Vergangenheit, als beide noch am selben Ort waren. Schicken Photonen ihre Post also erst ins Mittelalter, damit sie pünktlich sofort ankommt? Penrose lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Möglichkeit für unplausibel hält. Aber was steht dem im Wege? Irgendwas anderes abgesehen von der Gegenwart braucht man praktisch immer zum Miteinanderreden, und ob man Briefe jetzt in die Zukunft schickt (E+1 Briefpost) oder in die Vergangenheit, wo ist der Unterschied? Vielleicht ist es auch einfach zu teuer.

Die flickr-Galerie zum Buch:
(1) Entwicklung eines Quantenzustands – Schrödingerentwicklung (U) und Kollaps (R) der Wellenfunktion in stetem Wechsel;
(2) Quanglements – Say NO to drugs.

608 von 1049 Seiten

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19.01.2008 / 15:13 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Beim Googeln nach der verlorenen Zeit (202-202)

Kosztolányi schreibt "Lerche" im Jahr 1923, die geschilderten Ereignisse siedelt er allerdings im Spätsommer des Jahres 1899 an. Das ist eine augenfällige Parallele zu einem wesentlich berühmteren und umfangreicheren Werk; in der "Lerche" taucht sogar an zwei Stellen die Dreyfus-Affäre auf. Dazu später; erlauben Sie mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung.

Wenn Sie schon seit längerem planen, selbst eine Verlorene Zeit zu schreiben, wenn Sie öfter schon mit gespitztem Bleistift vor einem leeren Blatt Papier sassen und grübelten, ob Sie sich nicht doch zuerst Ihren "Moby Dick" schreiben, zum Eingrooven, so lassen Sie sich sagen: 2008 ist genau das richtige Jahr. Denn Proust hat ernsthaft mit seiner "Recherche" im Jahr 1908 angefangen. Das ist ein schönes Jubiläum und damit bekommt Ihr Projekt den richtigen astrologischen und jubilarischen Rückenwind. Naheliegenderweise würden Sie die ganze Geschichte genau um 100 Jahre verschieben müssen. Dazu möchte ich Ihnen auch einige chronologischen Handreichungen geben:


Die Welt der Guermantes
Ideal wäre es, wenn Sie 1971 geboren wären, aber natürlich hoffe ich, dass Sie das Jahr 2022 gesund und munter überleben. Die Handlungszeit Ihrer verlorenen Zeit spannt sich von 1990 bis 2019, davon ausgenommen ist Ihre Swann-Episode, mit der Sie auch das Buch anfangen lassen. Ihr Herr Schwann lernt Odette (Vorschlag: Sabine) 1979 auf einer Gorleben-Demo kennen. Sie müssen sich allerdings etwas einfallen lassen, warum Sabine eine mésalliance ist; vielleicht ist sie die Enkelin von Adolf Eichmann? Jedenfalls heiratet er sie erst 1989, was Sie dann schön mit dem Mauerfall zusammenkneten können. Ihre Tochter Gilberte (Daniela) lernt Ihr eigentlicher Held Marcel (beide sind Jahrgang 1980) im Jahr 1995 im Tiergarten kennen, seine erste grosse Liebe. Lassen Sie die beiden dann auch einmal auf die Love Parade tanzen und sich SMS schicken.

Wichtiger sind allerdings die Sommerferien 1997 auf Sylt inklusive junger Mädchenblüte und der jungen Albertine (Anja?). Beim anschliessenden Komplex mit den Guermantes und Monsieur Charlus müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Marcel lernt Charlus (vielleicht Jürgen Trittin) kennen und trifft die Guermantes (Claudia Roth, Joschka Fischer) auf dem Grünen-Parteitag 1999. Ja, das passt. Ein Jahr später zieht er mit Anja in eine Wohnung am Prenzlauer Berg. Die beiden nerven sich, wozu nicht unwesentlich Anjas lesbische Freundin Andrea beiträgt. Anja stirbt im Jahr darauf, ob durch Autounfall oder im World Trade Center, das müssen Sie selbst entscheiden. Danach verplätschert bekanntlich der Plot etwas, bevor Sie in einem grandiosen Fest 2019 alle Überlebenden noch einmal auftreten lassen.

Wenn Sie finden, das klingt alles mehr nach "Liegen lernen" als nach Proust, mögen Sie recht haben. Vielleicht sind unsere Zeiten nicht mehr so grandios, aber wer weiss, wie wir das nach dem Zweiten Ersten Weltkrieg (2014-2018) sehen. Und bis dahin haben Sie noch viel, viel Zeit.

202 von 299 Seiten

Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


18.01.2008 / 00:43 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

|DEAD> im Quantenshop (527-577)


Auch mal an was anderes denken
Foto, Lizenz
Wenn es einen Bedarfshandel für Quantenphysiker gäbe, so wie es auch Läden für Angler, Zahnärzte und Bergsteiger gibt, dann sähe das Sortiment ungefähr wie folgt aus: Zunächst benötigt man natürlich die Quanten selbst, also eine Auswahl an Photonen, Elektronen, Neutrinos in kleinen und grossen Dosen1. Dann eine grosse schwarze Kiste, mit Löchern, durch die Photonen rein- und rausfliegen können, braucht man ständig. Drittens Standardkram wie Reflektoren, Detektoren, Strahlteiler, alles mit oder auch ohne Masse2. Viertens, ganz wichtig, Katzen – aus seltsamen Gründen das traditionelle Versuchstier in den Gedankenexperimenten der Quantenphysik, keinesfalls Ratten oder Mäuse, so wie in allen anderen Branchen3. Und schliesslich eine Bombe, denn ohne Bombe funktioniert die moderne Physik nicht4.

Wäre eine Welt ohne Quantenmechanik eine bessere Welt? Vielleicht. Andererseits gäbe es in einer solchen Welt keine Atome. Anders als die Planeten, die ruhig um die Sonne trödeln, können Elektronen nicht einfach um einen positiv geladenen Atomkern kreisen, weil sie dabei Energie abstrahlen und folglich in unangenehm kurzer Zeit in den Kern stürzen würden. Kaputt ist das schöne Atom und man muss den Quantenmechaniker rufen. Der ersetzt das Elektron durch eine sauteure Wellenfunktion, so dass es praktisch gleichzeitig überall ist, jedenfalls, wenn man nicht hinsieht, und schon läuft das Atom wieder zur allgemeinen Zufriedenheit.

Aber was ist diese Wellenfunktion eigentlich? Hier wird es ein wenig beunruhigend, denn genaugenommen weiss das niemand so richtig. Es könnte ein dreckiger Workaround sein, eine Art Krücke, um mit der Realität klarzukommen, aber vielleicht ist es auch eben diese Realität. Man tauscht also mit dem Glauben an den Quanten-Shop eine verschwommene Vorstellung von Wirklichkeit gegen eine andere ein und erhält dafür eine Garantie auf die Existenz von Atomen. Meine Güte, man hat schon von schlechteren Geschäften gehört.

Der Mann von Quantendienst würde es vermutlich so erklären: Ein Quant muss man sich so vorstellen wie eine Mücke im dunklen Schlafzimmer. Ort und Bewegung sind reichlich unbestimmt, obwohl man den Eindruck gewinnt, dass sie sich meist in der Nähe der Lampe aufhält. Ausserdem nervt sie ein wenig, aber das war's auch schon, was man über die Mücke weiss. Genau wird man sie erst sehen, wenn man sie erschlagen hat, aber dann ist sie nicht mehr dieselbe. Oder wie es der Experte in seinem komischen Kauderwelsch ausdrücken würde: Die Wellenfunktion kollabiert zum Zustand |DEAD>. Mückenpsychoanalytiker haben vermutlich ganz ähnliche praktische Probleme wie Quantenphysiker.

Das alles kann einem natürlich vollkommen egal sein, wenn man zu denen gehört, denen es ausreicht zu wissen, dass das Auto fährt, egal wie. Wenn dann Rauch aus dem Atom, äh, Motorraum kommt, nun, darum sollen sich andere kümmern.

1Weiterhin nicht verfügbar ist das Zehnerpack Higgs-Bosonen. Reservieren Sie sich Ihr Exemplar jetzt und Sie erhalten es pünktlich zum Erscheinungstermin.

2Gerade hereingekommen: Das Partypaket mit vierdimensionalen Party-Scherzwürfeln und unsichtbarem Superstring mit 10 geheimen Dimensionen. Verblüffen Sie Ihre Freunde!

3Vor der Kasse dann noch ein Regal mit maxwellschen Heizhandschuhen (Dämon nicht im Lieferumfang enthalten) und makroskopischen Duplo-Quanten (leicht zu greifen für Anfänger).

4Im Angebot übrigens gerade das Heisenberg-Multitool ("Es misst den Ort! Es misst den Impuls! Jetzt neu mit Säge!").

577 von 1049 Seiten

Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


15.01.2008 / 01:15 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)

Attributionskonflikte (41-45)


Er wollte mir immer nur vorlesen
"Zur theoretischen Einleitung in die folgenden historischen Studien brauchen wir ein weiteres Kapitel." Lange machen wir diese Hinhalte-Taktik aber nicht mehr mit! Wann kommen endlich konkrete Hinweise, wie man sich einer Erwünschten gegenüber am vielversprechendsten ausdifferenziert?

Wir durchleuchten immer noch den "Kommunikationsvorgang", der "auf Begründung und laufende Reproduktion von Intimbeziehungen angelegt ist." Will man intim kommunizieren, müsse man "so weit individualisiert sein", dass man sich "lesbar" verhalte. Unter Beobachtung befinden wir uns auch bei den "nicht als Kommunikation intendierten Aspekten kommunikativen Handelns." Mein Körper, diese Plaudertasche! (Bin ich, wie ich wohne, wie ich tanze, worüber ich lache, mit wem er verkehre, wie ich mich anziehe und wie ich beim Gehen mit den Armen schlenkere? Oder ist das alles irrelevant und nur meine Sonette geben verlässlich über mich Auskunft?)

Beim Beobachten kommt es zu Attributionskonflikten: Ich handle, weil ich durch die Situation dazu veranlasst werde, der Beobachter rechnet meine Handlungen meinen Persönlichkeitsmerkmalen zu. (Dabei handle ich nie nach meinen Persönlichkeitsmerkmalen, dann würde ich ja auf einem Pferd in den Abendhorizont reiten. Jede andere Form von Handeln ist doch nur ein kompromissbeladenes, den Zwängen der Zeit geschuldetes Gewurschtel.)

Man beobachtet Verhalten, um "die Einstellung des Partners nach den Vorschriften eines Codes für Intimbeziehungen zu testen." Könnern gelingt es sogar, "das Verhalten selbst dem vorweg anzupassen." Das klingt diffizil und tatsächlich rückt unter solchen Voraussetzungen die Reproduktion von Intimität in weite Ferne. Ein Beispiel veranschaulicht die Schwierigkeiten beim Attribuieren, es spielt sich – wo sonst?-, im Auto ab, dem Panzer der bundesdeutschen Kleinfamilie: "Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander." Ich fahre, so gut ich kann, aber sie "fühlt sich durch die Fahrweise behandelt", und beginnt mit "kommentieren und kritisieren." (Sollten romantisch Liebende denn nur noch Taxi fahren? Oder immer einzeln ans Ziel gelangen? Oder sich möglichst gar nicht begegnen?) Dem Intimitätssuchenden empfiehlt es sich, die Frage zu kennen, die hinter ihrer Stirn ständig neu beantwortet wird: "Handelt er so, dass er meine Welt zu Grunde legt?"

Hoffnung kommt von gemeinsamem Situationswissen, das sich eignet "Nuancen des Verhaltens attributionsfähig zu profilieren." Geselligkeit und gesellschaftlicher Schliff boten früher Gelegenheit zum Vorbeobachten. Schwerer hat es Werther: "Der Dialog von Verführung, Widerstand und Hingabe, mit dem man bis dahin zurechtkommen zu müssen meinte, wird gesprengt, und die eigentliche Liebeserfahrung zieht sich – vom Werther bis zur Lucinde – ins liebende Subjekt zurück, das nicht mehr zureichend und vor allem nicht mit hinreichendem Erfolg kommunizieren kann."

Bei längeren Beziehungen stösst aber auch der Selbstmord als eigentlich ja einzig überzeugender Liebesbeweis an seine Grenzen. Wie schafft man "Reproduktion von Sinnüberschüssen, denen man entnehmen kann, dass die Liebe kontinuiert"? Mein In-seiner-Welt-vorkommen muss laufend reaktualisiert werde. Ich muss also für ihn beobachtbar machen, dass ich meine Gewohnheiten und Interessen überschreite. Aber Gruss, Geschenk und Abschiedskuss dürfen nicht zur Gewohnheit werden. "Es muss wiederholt werden, ohne die Merkmale des Wiederholtwerdens anzunehmen." Die klassische Liebessemantik schreibt vor, den anderen angestrengt zu beobachten und Hinweise auf Möglichkeiten auszumachen, ihm ein Zeichen der Liebe zu geben. Es wird aber noch komplizierter: "Man muss die eigene Identität als Garant für Dauer nämlich nicht statisch, sondern dynamisch einsetzen; nicht als so-wie-sie-immer-ist, sondern als an-der-Liebe-wachsend." Meine Identität macht mich ja eigentlich unabhängig von den Umständen. Nicht aber, wenn ich zum "Konzept der Identität-in-Transformation" greife. Wenn man also zeigt, dass man "durch ihn und durch die Liebe zu ihm das eigene Ich entfaltet." Ich stelle mir vor, wie ich mein zusammengefaltetes, geradezu zerknittertes Ich unter den kritischen Augen eines anderen Ichs auseinanderfalte und glattstreiche, und weiss für einen Moment, wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden.

45 von 230 Seiten

Jochen Schmidt / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


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