22.06.2008 / 17:12

Descartes meets Penrose (175-175)


Descartes (rechts, alt), Penrose (links, neu und wuchtig), aufstrebend zur Wahrheit. (Bild: Ruben Schneider, Montreal)
Descartes studierte von 1607 bis 1615, also ganze 8 Jahre lang, bei den Jesuiten am Collège Royal in La Flèche. Auch wenn bekannt ist, dass er kein Freund des Frühaufstehens war und gerne Vorlesungen verpennte, genoss der gescheite Mann eine äusserst profunde Ausbildung in der scholastischen Philosophie. Ihm muss also wahrlich bekannt gewesen sein, dass Thomas von Aquin, eine wissenschaftliche Autorität mit einem Nimbus wie heute Albert Einstein, Gottesbeweise wie den der 5. Meditation für absolut lausig hielt.1

Es gibt viele Theorien über Sinn und Zweck der 5. Meditation. Z.B. wird behauptet, dieser Gottesbeweis stamme aus einer früheren Zeit und Descartes habe ihn nur deshalb noch mit reingepackt, weil er ihn doch ganz entzückend fand. Ich glaube das nicht. Meiner Meinung nach geht es hier um etwas ganz anderes als einfach einen neuen Gottesbeweis: Es geht um die Frage, wie man Theorie und Realität, bzw. Wesen und Existenz zusammenbringt. Bei der Lektüre von Roger Penroses "Road to Reality" sprang einem diese Frage bereits mit nacktem Hintern ins Gesicht:

"Warum mathematisch schöne Theorien am Ende auch so oft richtig sind, warum also Massstäbe des Denkens relevant sind für das Erkennen der Welt, das ist ein grosses Rätsel. Verwandte Frage: Warum gehorcht das Universum überhaupt mathematischen Strukturen, die doch, so möchte man naiv annehmen, unserem Denken entspringen?" (Wo liegt die Strasse zur Realität?)

Mathematische Wahrheiten sind Wesenswahrheiten: Aus dem Wesen des Dreiecks folgt, dass die Summe seiner Innenwinkel gleich 180° ist; aus dem Wesen des Vektorraums folgt, dass jeder Vektor Element einer Basis ist; aus dem Wesen der Primzahlen folgt, dass jede natürliche Zahl >1 Produkt von Primzahlen ist; aus dem Wesen differenzierbarer reeller Funktionen folgt ihre Stetigkeit, usw. Aber was hat das mit Realität bzw. Existenz zu tun? Mathematische Gesetze sind ziemlich sinnlos, wenn sie nicht mit etwas Existierendem zu tun haben – denn wenn sie ihre Geltung rein in sich tragen, fragt sich, wieso sie überhaupt für irgendetwas gelten sollen. Ich denke, man bekommt Mathematik und Existenz nur zusammen, wenn es etwas gibt, in dessen Wesen alle mathematischen Wahrheiten gründen und bei dem die Existenz in seinem Wesen analytisch enthalten ist. Und das ist Gott. Nur in Gott werden Wesenswahrheiten und Existenz letztlich in Einheit gebracht. Mathematik und Realität haben deswegen etwas miteinander zu tun, weil sie im Endeffekt in Gott die gemeinsame Letztursache haben.2

Der Verdacht, dass dieser Gedanke der eigentliche Sinn der 5. Meditation sein muss, legt sich mir durch die Struktur der Meditationen nahe, welche ich in folgendem hübschen Bildchen hingemalt habe:

Cartesisches Stagediving.

Es gibt im Text der Meditationen zwei Ebenen: Die Ebene der Existenz und die Ebene des Wesens. In der 1. Meditation zweifelt Descartes (rote Linie) Existenz an, dann springt er auf die neue Ebene der Wesenswahrheiten und zweifelt diese auch noch an durch die Hypothese des genius malignus. In der 2. Meditation springt er wieder zurück zur Frage nach der Realität, beweist dort die Existenz des Ich und in der 3. Meditation die Existenz Gottes. In der 5. Meditation hüpft er wieder auf die Ebene der Wesenszusammenhänge und führt sie jetzt in Gott mit der Ebene der Realität zusammen. So wie in der 3. Meditation die Selbstgewissheit des Ich und sein Denken letztlich in Gott begründet wurden, werden es jetzt auch die logisch-mathematischen geistigen Wahrheiten.

"Warum also ist es so, dass die physikalische Wirklichkeit so präzise der Mathematik folgt", wurde anderwärts bereits gefragt. Hier also die Antwort des alten Meisters: Weil beide, Realität und Mathematik, aus demselben Elternhaus stammen. Brüder sind sie, ungleiche zwar, aber ihre Verwandtschaft ist an charakteristischer Nasenform und am Umgangston eindeutig zu erkennen.

______

1 Vgl. Summa contra Gentiles, lib. 1, cap. 10, n. 4, und lib. 1, cap. 11, n.4.

2 Dass Existenz zum Wesen gehört, besagt wesensnotwendige Existenz. Das trifft nur auf Gott zu, alles andere, nehmen wir z.B. Stephen Fry, enthält seine Existenz nicht notwendig in seiner Wesensnatur, sondern nur der Möglichkeit nach, sei sein Wesen auch noch so göttlich. D.h. Stephen Fry kann auch irgendwann einmal nicht existieren, ohne dass dies dem Wesen von Stephen Fry widerstreiten würde. Vgl. Meiner-Ausgabe, S. 347- 351 (Bei Descartes gründen die Wesenswahrheiten jedoch im Willensakt Gottes, nicht direkt in seinem Wesen, eine These, die mir nicht schmeckt. Dennoch werden in ihm Sein und Wesenswahrheiten auf ihre gemeinsame Ursache gebracht).

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (4)


Kommentar #1 von RKS:

Schön diese (letzte) Schlacht des Descartes um "Einheit". Wer auf Einheit besteht, wird ihn und sein Bemühen loben und die Schönheit seines Strebens sehen, wird ihm also zustimmen, wird ihm folgen. Wer sich nicht scheut oder fürchtet vor der Differenz, der Abweichung, als Ausgang, als Wesen eben aller Unterscheidungen und allem Sichunterscheiden, der lässt "Einheit" als Einheit allen Paradoxen eben einfach fallen. Ich für mein Teil bleibe dabei: Und wenn der fleissige und gebildete Descart seine Bemühungen um die Plausibilität einer umfassenden Einheit in der Natur, in der Welt, einleuchtend absolviert, dann schafft er sich einen Gott, eine Einheit, für eine Sache, eine res, die selber gar nicht zur Einheit strebt, sondern zur Entfaltung. Ich denke, Gott, als Einheit, ist nicht der Ausgang der Natur, er ist viel eher ihr Ziel, ihr Telos. Wenn Gott sein soll, dann bitte als Telos allen menschlischen Strebens, nicht als sein Anfang. Nicht "ihr sollt sein wie Gott", sondern: Ihr sollt werden wie Gott, nämlich voller Liebe, wie die Liebe.

22.06.2008 / 20:04

Kommentar #2 von Ruben:

Hallo Herr Sander, schön, dass Sie die Sache mit dem Telos ansprechen. Da haben Sie natürlich völlig recht. Gott als Telos kommt bei Descartes nicht mehr vor, die Teleologie ist bei ihm rausgeflogen, was die ganze Sache erheblich schmälert. Das wäre im Zusammenhang mit der 4. Meditation zu nennen gewesen, aber die hatte ich ja ausgespart.

22.06.2008 / 20:14

Kommentar #3 von RKS:

Lieber Herr Schneider,
ich habe mir nun doch die grüne Meiner-Ausgabe von AMAZON zugelegt, weil mein bisschen Descart von Reclam nicht mehr reichte, um Ihren Gedankengängen zu folgen.
Jetzt sehe ich erst so richtig, welche Glättungs- und Verdeutlichungsarbeit Sie mit Ihren hier gegebenen Texten leisten. Ohne Ihre Hilfe könnte ich dem Descart gar nicht folgen, geschweige denn, ihn mit eigener Kraft entschlüsseln.
Ich warte jetzt wirklich gespannt auf Ihren Rest.
Beste Grüsse und gute Wünsche.

25.06.2008 / 16:16

Kommentar #4 von Ruben:

Vielen Dank für die aufmunternden Worte. Die grüne Meinerausgabe ist tatsächlich sehr wichtig, ich denke, ohne die ganzen Einwände und Erwiderungen mit einzubeziehen, kann man dem Werk gar nicht annähernd gerecht werden. Ich habe da auch nur eine Auswahl getroffen, es steht noch tausendmal mehr drin. Aber es wird noch einiges kommen an Beiträgen. Weiter unten ist übrigens aufgrund einer technischen Dummheit von mir einer meiner Beiträge verschwunden, wird demnächst wieder sichtbar sein.
Wenn sie übrigens Fragen, Anregungen, Einsprüche oder gar heftige Kritik an Descartes oder meinen Textchen haben, bitte nur raus damit, das hier soll nur eine kleine Lektüre von Descartes' Texten sein, es ist keine dogmatische Exegese.
Aber jetzt muss ich erstmal das Spiel weiterschauen.

25.06.2008 / 21:54