07.12.2007 / 16:02 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Totally Tololo (292-324)


Suchbild mit Autor
Seit zwei Tagen auf Cerro Tololo. Irgendwie sind diese Observatorien alle gleich: komplexe Abläufe, weisse Kuppeln, dünne Luft, ringsum Dürre, tagsüber Sonnenbrand, nachts nur mit Standlicht fahren. Dazu sprechen ausser mir alle spanisch. Einen Tag gebraucht, um zu begreifen, wie man hier an Essen kommt. Noch einen, um zu verstehen, welche Schalter am Teleskop nicht umgelegt werden dürfen. Jetzt geht es allmählich, nur das Internet ist kaputt.

Das Penrose-Buch hat 20 Stunden in diversen Flugzeugbäuchen verbracht. Stattdessen TC Boyle gelesen, "Talk Talk"; ein Mann namens Dana Halter ruiniert das Leben einer Frau namens Dana Halter. Seitdem mehrfach schlecht geträumt aus Angst davor, dass mir eine Frau meine Identität stiehlt. Billige amerikanische Schicksale mit kruden Metaphern. Aber hey, keine einzige Formel bisher. Vielleicht morgen mal in die Faserbündel in Kapitel 15 sehen. Oder vielleicht auch nicht und stattdessen mit dem Fuchs spielen. Oder mit einem Kaktus! Es gäbe soviel zu tun in der Wüste, wenn nur nicht das Problem mit meinem Kopf wäre. Grosse Müdigkeit, Jetlag und Nachtarbeit wirken leider in entgegengesetzte Richtungen. Muss schliessen, das Teleskop piept. Die Sterne sehen wie Eier aus.

324 von 1049 Seiten

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02.12.2007 / 01:54 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Schweine heilen (247-291)


Planck nach 300 Seiten
Symmetriegruppen also. Knapp 50 Seiten voll mit Symmetriegruppen; Rotationen, Spiegelungen, Matrizen, Determinanten, Eigenwerte, die komplette Lineare Algebra, Lie-Gruppen, Tensoren, orthogonale Gruppen, unitäre Gruppen, symplektische Gruppen, es hört nicht mehr auf. Das 13. Kapitel liest sich wie ein Zoo, in dem man die normalen Tiere (Löwen, Elefanten, Meerschweinchen) weggelassen und stattdessen nur Würgeschlangen, Schnabeltiere, Flughunde und Quastenflosser eingesperrt hat, also eigentlich ganz gut. Mehrere Stunden läuft man durchs Gelände und fragt entspannt: Warum?

Warum? Diese Frage steht mittlerweile auch wie ein dröhnendes Kampfflugzeug über meinem Unterfangen, die Wirklichkeit zu erklären. Warum, fragt sich der Leser, also nicht ich, sondern der Meta-Leser, warum haben wir diesem Menschen, also mir, jahrelang Steuergelder in den Hintern geblasen, wenn er uns dann nicht mal symplektische Gruppen erklären kann? Die Antwort ist relativ einfach: Für das Erklären der Wirklichkeit ist Roger Penrose zuständig, der es allerdings auch nicht schafft. Zum Glück wird er von englischen Steuergeldern bezahlt.

Ich dagegen bin lediglich dafür zuständig, mir die Wirklichkeit anzusehen. Davon wiederum hat Penrose hoffentlich keine Ahnung. Ansehen, das ist das Einzige, was ich kann (neben Treppensteigen), und wer glaubt, dass Ansehen nicht sehr schwer ist und wohl kaum zehn Jahre Studium und Promotion rechtfertigt, der soll bitte mal versuchen, ganz ohne Ausbildung Staubscheiben um Planemos anzusehen. Von mir dagegen zu verlangen, ich müsste mich mit symplektischen Gruppen und Lie-Algebra auskennen, das ist ungefähr so, als würde man von einem Metzger erwarten, dass er sich mit Veterinärmedizin auskennt.

Es ist doch so: Ein Grossteil des Universums funktioniert sehr gut ohne hyperkomplexe Zahlen. Ja, viele sind sogar der Ansicht, dass schon komplexe Zahlen nicht weiter wichtig sind, solange man nicht zu genau hinsieht, und wer macht das schon. Das komplizierteste Naturgesetz, das ich in den letzten Jahren verwendet habe, ist das Plancksche Strahlungsgesetz, vorgestellt im Jahr 1900. Alles, was danach kam, das gesamte 20. Jahrhundert der Physik, ist mir ein Rätsel. Ich sage das zwar mit Bedauern, aber ohne Schuldgefühl. Der zweite Weltkrieg zum Beispiel war zweifellos kein Kinderspiel, obwohl er (von zwei Ausnahmen abgesehen) vollständig nach den Regeln von Newton funktioniert hat; wirft man was runter, geht es kaputt, fertig.

Übermorgen fliege ich zum sechsten Mal innerhalb von vier Jahren nach Chile, allein zu dem Zweck, die Wirklichkeit anzusehen, bzw. einen sehr kleinen Teil von ihr, über den mir nicht erlaubt ist zu sprechen. Wegen der Sicherheitsbestimmungen im Flugverkehr darf Penrose nicht ins Handgepäck, sondern muss eingecheckt werden. Bis ich ihn wiederhabe, werde ich irgendwelche geistlosen Unterhaltungsbücher lesen, wobei es sich gut trifft, dass ich ohnehin vorhatte, die folgenden Kapitel 14 bis 16 komplett zu ignorieren. Sie handeln von der Unendlichkeit und von Faserbündeln, ein Thema, das in der Wikipedia mit einer Haarbürste illustriert wird. Ich verstehe weder von der Unendlichkeit noch von Haarbürsten mehr als ein durchschnittliches Hausschwein, genau der richtige Zeitpunkt also, um in ein anderes Buch zu emigrieren. Ich melde mich dann von dort aus.

291 von 1049 Seiten

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29.11.2007 / 10:56 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

How to be free: Manifolds of n dimensions (217-246)

Kapitel 12 und 13 lese ich im Ardenbeg Bunkhouse in einem Dorf am Westrand der Cairngorm Mountains. Es ist elf Uhr abends, der Wecker steht auf sieben, damit jede Sekunde Tageslicht zum Bergsteigen verwendet werden kann. Der Körper versteht allerdings nichts vom Tageslicht und weigert sich, zu so einer absurden Zeit einzuschlafen. Rechts liegen kann ich nicht, weil ich beim ersten Sturz an den Eishängen des Cairn Gorm auf die rechte Hüfte fiel; links liegen kann ich auch nicht, weil ich beim zweiten Sturz, man ahnt es. Auf dem Bauch liegen geht auch nicht, weil ich beide Male auch Knie und Ellenbogen demolierte. Mein verrückter Studienkollege Schliemann rief jedesmal, wenn er bei Glatteis ausrutschte: "Mü! Zu niedrig! Mü!", womit er den Reibungskoeffizienten meinte. Dann lachte er immer sein irres Lachen. Wegen niedrigem Mü gezwungen, sich mit n Dimensionen zu befassen. My life has gone Schliemann.

Die Cairngorms sind eine Art Mini-Sibirien in Ostschottland; ein grosser runder Fleck auf der Landkarte ohne Strasse, ohne Siedlung, nur Berge und Wüstenei im Umkreis von locker 50 Kilometern. Es ist dieselbe Gegend, in der Peter Higgs 1964 das Higgs-Boson einfiel, das hypothetische Teilchen also, das all den anderen Teilchen mitteilt, welche Masse sie haben. Irgendeiner muss es ja tun. Es ist leider nirgendwo vermerkt, an welcher Stelle in den Cairngorms Peter Higgs die Idee mit diesem Teilchen hatte, im Gegensatz zu den Quaterionen-Gleichungen von William Rowan Hamilton, die er sofort am Ort der Erleuchtung, auf der Brougham Bridge in Dublin, in einen Stein meisselte, wo sie seit 1843 nachzulesen sind. Es wäre grossartig, gäbe es eine Weltkarte, auf der die Orte genialer Einfälle verzeichnet sind; vielleicht bilden sie einen randlosen topologischen Raum, der sich durch eine Lineartransformation orthogonalisieren lässt oder so. Vielleicht entsteht so aber auch nur ein dekoratives Muster auf der Weltkarte, mit dem man T-Shirts für Nerds bedrucken kann.

Mir kommt in drei Tagen Cairngorms kein einziger richtig guter Einfall, mal abgesehen von Trivialitäten wie "Eis ist glatt", "Wasser ist nass", "Berge sind hoch", "November ist praktisch Winter" und "beim nächsten Mal vielleicht nachdenken, bevor man die (sehr schlechte) Wettervorhersage ignoriert". Es ist so dämlich, dumm zu sein.

Statistik zum Verständnis: (Erklärung)
V3 – multiple connectivity, fundamental theorem of calculus, integrals of forms, compactness
V4 – covectors, exterior derivative, summation convention
V5 – Hausdorff space, Grassmann products, diagrammatic tensor notation (letztere ein hoffnungsloses Gewirr von Symbolen und Linien, von Penrose eigenhändig erfunden, damit man ihn besser versteht – noch so ein Narr)

Fähigkeit, die ich manchmal gern besässe: shrinkability

246 von 1049 Seiten

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23.11.2007 / 16:39 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Lederne Zungen im Buch (198-216)


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Grassmann-Algebra führt vermutlich in den allermeisten Gehirnen nur zu einem Fragezeichen, bei mir jedoch führt es zu EKU Gross (und von dort zu einem Fragezeichen). EKU Gross, bei dem ich 1996/97 cirka zwei Semester Funktionentheorie aussitzen durfte, inklusive einer Vordiplomsprüfung, in der ich auf rätselhafte Art und Weise alles wusste*. EKU Gross ist ein kleiner, sehniger, sympathischer Mensch, der nach Abschluss von stundenlangen Beweisen oft minutenlang mit grossen Augen durch die Reihen blickte, auf der Suche nach Leben.

Zufällig ist dies genau auch die Tätigkeit, die mich jeden Abend mehrere angestrengte Sekunden kostet, nämlich wenn ich ins obere Stockwerk des Doppelstockbusses steige, der zurück ins Dorf fährt. Bei schlechtem Timing teilt man die Etage mit amerikanischen Touristen (später Nachmittag) oder besoffenen Russen (später Abend), bei gutem Timing ist man allein. Ich sitze hinter zwei grossen verglasten Busaugen, die deprimiert in die nasse, dunkle Welt starren:

Oder wenn ich in meinem Schädel bin, hinter den Augen stehe; und hinausgeschaut durch die Linsenhaut, sag mir, was ich dann sehe! Schau ich aus mir raus, schau ich in mich rein? Liegt die ganze Welt nur in mir zum Schein? Existiere ich, oder bin ich tot? Bin ich Teil der Welt, oder bin ich Gott? (Knorkator)

Oder ein Bus? Themawechsel. Spinoren gehören zu der abstrakten Klasse von Dingen, die die Wikipedia nicht erklären kann. Spinoren sind Objekte, die, dreht man sie einmal komplett um, sich in Negativum verkehren. Man nehme einen Gürtel, klemme seine Schnalle in ein dickes Buch ein und fixiere das andere Ende irgendwie. Dann drehe man das Buch einmal um 360 Grad um. Wenig überraschend: Das Gürtel-Buch-System (eine Art Spinor) sieht anders aus als vorher, denn zwar liegt das Buch wieder genauso da wie vor der Drehung, aber der Gürtel ist verdreht. NOW: Man drehe das Buch einfach nochmal in dieselbe Richtung wie vorhin um, wieder um 360 Grad. Wenn man jetzt den Gürtel um das Buch herumführt, dann – dann löst sich die Verdrehung auf und vor einem liegt Buch und Gürtel, als wäre die ganze Dreherei nicht geschehen. Einen Spinor also muss man zweimal komplett umdrehen, um ihn wieder in seinen Ausgangszustand versetzen zu können. Besser noch: Der Gürtel-Buch-Spinor weiss, ob ich ihn einmal oder zweimal verdreht habe.

Es war quälend zu warten, bis ich es zu Hause ausprobieren konnte, denn schottische Busse sind mit Überwachungskameras ausgestattet, so dass man sich ungern den Gürtel vom Leib reisst. Vermutlich wird meine Wohnung auch überwacht und die anschauliche Demonstration von Spinoren mit Hilfe von Gürtel und Buch gibt es jetzt auf Video im britischen Geheimdienst, wurde auch Zeit. Welche Erleuchtung! Es geht gar nicht darum zu verstehen, was Spinoren sind und wozu man sie braucht, das kann man alles erstmal vergessen. Wichtig ist hier lediglich, dass etwas komplett Absurdes – ein Gürtel kann gerade von ungerade unterscheiden – mit denkbar geringem Aufwand verständlich wird. Das ist das Beste an Physik – man muss sich nie etwas merken, einmal verstehen reicht. Besser als Biologie oder so allemal.

Seltsame Dinge: Quaternionen, die auf drei Dimensionen verallgemeinerten komplexen Zahlen.

* Gross prüfte streng nach Skript, er fing morgens mit den einfachen Dingen an und fragte sich zum Nachmittag hin zum unübersichtlichen hinteren Teil durch. Folglich nahm ich strahlend den Prüfungstermin früh um acht, bereitete mich nur auf die ersten vier Seiten vor und stand entsetzlich früh auf. Catch me if you can, Grassmann-Algebra.

216 von 1049 Seiten

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21.11.2007 / 01:34 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Oberflächliches (179-197)


Auf mehrfachen Wunsch: Die Penrose-Punktwolke, angewandt auf eine beinlose Ente.
Eigentlich das Schwierigste beim Umgang mit der Wirklichkeit ist das Management der eigenen Dummheit. Es ist ein diabolischer Balanceakt: Ganz schlecht ist es, mit der eigenen Dummheit hausieren zu gehen, sie als Feigenblatt für mangelnde Sekundärtugenden vor sich herzutragen oder, noch schlimmer, sie kokett als nächstes grosses Ding zu verkaufen. Ebenfalls schlecht aber auch das andere Extrem: Die eigene Dummheit derart ernst zu nehmen, dass man von ihrer Allgegenwart, und sie ist allgegenwärtig, man wird seinen Kopf ja nicht los, erdrückt wird. Man darf sich wegen der eigenen Dummheit weder besonders toll fühlen noch besonders schlecht; man darf sie weder gutfinden noch darüber klagen. Die Dummheit existiert vollkommen entkoppelt vom Versuch, sie zu verkaufen oder sich ihr zu unterwerfen. Dummheit ist eine leidenschaftslose, unmenschliche Substanz – etwa so wie Meer oder Bier.

Ich gebe zu, dass ich eher dazu neige, meine Dummheit als Last zu empfinden, was falsch ist, denn was man als Last empfindet, ist auch eine. Dann wiederum neige ich dazu, die eigenen Lasten in Leuchtfarben auf grosse Plakate zu schreiben und durch Fussgängerzonen zu tragen, sinnbildlich wenigstens. Die erstgenannte Neigung stört beim Penrose-Lesen, die zweite beim Schreiben über das Penrose-Lesen, so dass ich mir wie im Zweifrontenkrieg vorkomme. Make this three, denn Penrose selbst ist natürlich auch ein Problem. Zum Beispiel in seinem leichtsinnigen Umgang mit den Cauchy-Riemann-Gleichungen, die, man hörte bereits davon, die Bedingungen für die Differenzierbarkeit komplexer Funktionen liefern. Erst erwähnt Penrose die CR-Gleichungen in Kapitel 7, und zwar ohne sie hinzuschreiben. Und dann erwähnt er sie nochmal in Kapitel 10 aus einer anderen Perspektive, wieder ohne sie hinzuschreiben. Merke: Etwas von zwei verschiedenen Seiten betrachten hilft nicht, wenn man es in einem dunklen Raum tut.

Ansonsten handelt Kapitel 10 von Oberflächen. Es geht um Skalar- und Vektorfelder auf Oberflächen, was langweilig klingt, aber, ach, fuck it, ich erkläre es zur Abwechslung mal: Wenn man über einen schottischen Berg geht, sagen wir über Beinn Mheadhoin (gespr.: Behn Vion), dann nimmt man vom Berg normalerweise nur seine Oberfläche wahr, eine interessant gewölbte zweidimensionale Struktur. Jetzt kann man zum einen an jedem Punkt dieser Oberfläche die Temperatur messen. Im Moment zum Beispiel zwei Grad plus auf dem Gipfel, brütende Hitze. Da Temperaturen keine Richtungen haben, obwohl es sich manchmal so anfühlt, heissen sie skalare Grössen, die Verteilung der Temperaturen über Beinn Mheadhoin also ein Skalarfeld. Zum anderen aber hat der Berg an jedem Punkt des Weges eine Steigung. Diese allerdings hat eine Richtung, wie man unschwer durch Herumklettern feststellen kann. Dinge mit Richtungen heissen Vektoren: ein Vektorfeld. Genaugenommen sogar ein Vektorfeld, das das Differential eines Skalarfeldes ist, nämlich das der Höhe über dem Meeresspiegel. Total kompliziert, so ein Berg.

Ich war jetzt seit Samstag nicht mehr am Meer und zum Dudelsacküben kommt man auch kaum noch. Entweder ist es schon dunkel draussen oder es ist Nacht und der Nachbar schläft schon. Drecksjahreszeit.

Sekundärliteratur: Die Ableitung der Cauchy-Riemann-Gleichungen. Nicht etwa zum Abschrecken, auch nicht zum Ergötzen, sondern als Service.

197 von 1049 Seiten

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