10.03.2008 / 13:25 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

No strings attached (869-933)

Kapitel 31 ist der Beardmore-Gletscher der Penroseexpedition: Ein grosses, eisiges Hindernis, nach dem es nur noch geradeaus ins Ziel geht. Alle Ponies sind verzehrt, die Männer vor einen hunderte Kilo schweren Schlitten gespannt, Tunnelblick in Richtung Südpol. Mehr als sechzig Seiten, mit Abstand die längste Etappe, und gleichzeitig technisch eine der schwersten, voll mit Blizzards, D-branes, Skorbut, Superstrings, Erfrierungen. Vor lauter Eis und Schnee weiss niemand mehr, wieviele Dimensionen das Universum hat, und jeder ist froh, wenn er am Ende des Tages einen Calabi-Yau-Raum zum Ausruhen hat. Wer hier durchkommt, kann seinen Enkelkindern von Heldentaten berichten. A Man's a Man for A'That.

Hier werden keine Stilpunkte mehr vergeben, und jedes Versäumnis aus den vergangenen 900 Seiten wird gnadenlos bestraft. Der Text ist dauerhaft V55 und so dicht wie ein Neutronenstern. Ein willkürlich ausgewählter Absatz:

Calabi-Yau spaces have additional properties , deemed essential for the string programme: they possess metrics that are Ricci-flat, and are endowed with spinor fields that are constant with respect to the metric connection. These constant spinor fields play necessary roles as supersymmetry generators. Without them, supersymmetry would not be possible. The various such spinor fields, for a given choice of Calabi-Yau space, can be (formally) 'rotated into each other' by a symmetry-group action.

Für Roger Penrose ist das Kapitel ein Ausbruch ins Feindesland, das Land der Strings, und die Mehrzahl der fachlichen Kritiker des Buches befasst sich ausnahmslos mit diesen unverständlichen 65 Seiten. Es ist eine der Situationen, in denen man zunächst dem einen zuhört, alles für plausibel hält, dann wendet man sich den anderen zu und sie klingen auch vernünftig. 26 Dimensionen sind schlecht, so Penrose, stimmt natürlich. Aber wieso nicht 26, wenn es doch schon 4 sind? Auch wieder wahr. Stringtheorie, meint Penrose, sei anmassend und arrogant, was man nur missbilligen kann. Dann aber Edward Witten: String theory has the remarkable property of predicting gravity.* Und Joseph Polchinski: There are no alternatives... all good ideas are part of string theory. Ist das nicht andererseits eine Art grossartige Arroganz?

Wissenschaftler, wie ich sie kenne, sind nette Menschen. Sie hören höflich zu, wenn jemand ihrer Meinung nach unsinnigen Quatsch erzählt, trinken ein Glas Wein mit demjenigen, fahren nach Hause und schreiben aus Spass eine elaborierte Replik mit Tausenden von Fussnoten. Wissenschaftler erledigen ihre Arbeit aus Spass, was nur funktioniert, wenn man besessen ist. Niemand kann mehrere Jahrzehnte seines Lebens damit verbringen, ein paar Lichtpunkte möglichst genau kennenzulernen, wenn er nicht besessen davon ist. Das Problem dabei: Wer von seinem Beruf besessen ist, kann ihn nicht so einfach wechseln. Man kann seinen Gegnern nur aus dem Weg gehen, indem man irgendwann stirbt.

Wissenschaftler sind also im Allgemeinen nette Menschen. Aber dann wurde erst die Stringtheorie, dann das Internet und dann die Blogs erfunden. Die Folge: Nobelpreisträger Frank Wilczek verreisst das Buch für Science (kostenpflichtig). Jaron Lanier verteidigt Penrose im American Scientist. Peter Woit folgt ihm in seiner Kritik der Stringtheorie, kaum überraschend, ist doch sein Blog Not Even Wrong gerade der Kritik der Stringtheorie gewidmet. Und Lubos Motl, tschechischer Theoretiker mit einer Vorliebe für grauenvolles Webdesign, erfindet das Stringflamen und verbringt seine Zeit damit, das Internet vollzukommentieren, mit Schmähungen für jeden, der keinen String im Herzen herumträgt.

Am Ende wird es für eine der Parteien so ausgehen wie Anfang 1912 für die englische Terra-Nova-Expedition: Nach langen Qualen muss man erkennen, dass die Ponytheorie falsch war. Man kämpft sich mit Notlösungen weiter vorwärts, nur um am Ziel festzustellen, dass jemand anderes mit der deutlich besseren Hundetheorie mehr Erfolg hatte. Dieselbe Hundetheorie, die man kurz vorher noch mit Spott und Hohn bedachte.

I'm anxious, anxious about these animals of ours. So schrieb Scott in seinem Tagebuch schon im Dezember 1910 über seine Ponies, lange bevor sie eines nach dem anderen in der Antarktis ihren Geist aufgaben. Hoffentlich findet man später ein ähnliches Statement im Tagebuch eines Stringtheoretikers. Noch gut 100 Meilen zum Ziel.

* Dies war genau der allererste Satz, den ich im Penrose-Buch las. Es war im Sommer des Jahres 2006, die tiefstehende Sonne schien in die kanadische Dachkammer, der Baum vor dem Fenster rankte sich leise durch meinen Kopf. Eine Weile stand dieser Satz alleine und schillernd im Universum. Dann klappte ich das Buch wieder zu. Anderthalb Jahre vergingen ohne psychedelische Nebenwirkungen.

933 von 1049 Seiten

Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (8) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Aleks:

Das geht so nicht, was soll das? Man kämpft sich fast zu Tode und niemand nimmt es zur Kenntnis? Wofür mache ich das denn, wenn nicht für gesellschaftliche Anerkennung? Wollt ihr mich wirklich hier so sterben lassen?

11.03.2008 / 02:46

Kommentar #2 von Tim Brenner:

Respekt für die Leseleistung wird hiermit gezollt. Auf Schreibleistungsseite ist besonders gelungen der Absatz über die negative Wirkung von Internet und Blogs auf die reinen Kinderseelen besessener Wissenschaftler. Das sollte man aussbauen.

11.03.2008 / 09:33

Kommentar #3 von Michael:

Der Mensch lässt sich ausser mit Anerkennung sonst auch gern mit Geld oder körperlicher Liebe belohnen... mehr zieht leider nicht.
Der Mangel an Einträgen hat sicherlich nichts mit ihrer herausragenden Leistung als Blogger zu tun, stellt doch aber sehr fein die zerebrale Vernichtungskraft dieses Schmökers selbst für ambitionierte Zuleser heraus.
Ich erwarte sehnsüchtig das glückliche Ende oder lieber etwas unerwartet offenes als Anknüpfungspunkt für Teil II.

11.03.2008 / 23:11

Kommentar #4 von Aleks:

Ich verstehe nicht ganz, Teil II? Sex? Was?

12.03.2008 / 00:49

Kommentar #5 von Stefan:

Tschuldigung für die fehlende Anerkennung – dabei ist es so beeindruckend, wie die mutmasslich schwerste Kost der Leseliste (Krieg und Frieden ist ja nicht mehr im Rennen?) so unerschrocken und unermüdlich bewältigt wird! Ich wollte eigentlich Penrose parallel wenigestens endlich mal anlesen, kapitelweise, doch jetzt beschränke ich mich auf diese wunderbaren Exzerpte.
Naja, und das "stringflaming", ich glaub, das läuft sich allmählich tot, seit den Lubos Motl niemand mehr ernst nimmt.

12.03.2008 / 03:16

Kommentar #6 von Aleks:

Irgendwie ist die ganze Anerkennung nichts wert, wenn man darum gebeten hat.

12.03.2008 / 08:53

Kommentar #7 von d´accord:

Ist doch so: dass keiner wirklich mitreden kann, was die Sache mit den Strings usw. angeht. Die Einsamkeit des Fachmanns vor den Laien...

12.03.2008 / 12:06

Kommentar #8 von Laika:

Gut erkannt Herr Scholz, gut erkannt. Ich hatte schon einen Eintrag geschrieben, als mich mal wieder meine vorher Gedachten Gedanken einholten, als ich mir nämlich dachte: nee, wer fragt und bekommt, weil er darum gebeten hat, wird wieder nicht zufrieden sein. oder doch?

12.03.2008 / 18:46