26.11.2007 / 03:02 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Unendlichkeitsrausch (103-121)


Road to potential infinity. (Bild: Matt Fetterley, Lizenz.)
Vom Bombenteppich der kurzatmigen Weltgeschichte nun wieder zurück in den luziden Metaräumen der Philosophie, Monsieur Descartes sitzt immer noch vor seinem Kamin, die Stirn mit den tiefen Runzeln angestrengten Denkens gefurcht, in einer mächtigen kognitiven Anstrengung hat er die Existenz der Aussenwelt und seines Körpers in Zweifel gezogen und alles Sein runtergezweifelt auf einen sicheren Punkt: Das eigene Ich existiert absolut sicher, solange ich denke. Wie kommt man jetzt von diesem Tiefengrund wieder weg und auf sicherem Wege rauf in die Welt, ohne dass einem irgendwelche zweifelhaften, zwielichtigen Annahmen die Suppe versauen?

Auf dem Tiefengrund meines Ich habe ich nur mein Denken. Kein äusseres Faktum kann mir helfen. Ich muss mir also mein Denken allein ansehen. Es enthält auf jedenfall Gedankeninhalte. Aber woher kommen diese Inhalte? Die empiristische Annahme, dass sie von aussen in mein Denken reinkommen, fällt flach, da die Aussenwelt als nichtexistent angenommen ist. Also müssten alle Gedankeninhalte aus mir selbst kommen, autarke Eigenproduktion, ein Traum, Rumspinnerei in luftleerem Raum. Wenn es jetzt aber einen Inhalt gibt, der meine Denkfähigkeiten dermassen übersteigt, dass er keinesfalls von mir selbst produziert sein kann, dann muss er von etwas ausserhalb meiner kommen. Dann wäre meine Isolation beendet, mein Denken wäre nicht mehr alles, was es gibt.

Nehmen wir mal irgendwelche unendlichen Mengen. Die Menge der natürlichen Zahlen beispielsweise, sowas habe ich als Gedanken im Kopf. Kann ich mir diese Menge nur ausgedacht haben? Selbst wenn ich unendlich lang leben sollte und jeden Tag nichts anderes mache als zu zählen, eine natürliche Zahl nach der anderen, Klötzchen für Klötzchen, und angenommen, ich würde dabei niemals wahnsinnig werden, ich käme dennoch nie zur ganzen Menge der natürlichen Zahlen. Sie wäre nie fertig. Jeden verdammten Tag meines grausam endlosen Lebens hätte ich nur eine beschränkte Anzahl von Zahlen durchgeleiert. Wenn natürliche Zahlen nur mental events sind und nicht ausserhalb meines Kopfes existieren, dann gibt es nur endlich viele von ihnen. Die Menge der natürlichen Zahlen wäre dann zwar potenziell unbeschränkt, aber faktisch bloss endlich – ihre Grenze wird nur immer weiter hinausgeschoben. Die Scholastik und die moderne Mathematik sprechen in dem Falle von "potenzieller Unendlichkeit" (indefinitum), im Gegensatz zu "aktualer Unendlichkeit" (infinitum = fertig existierende Unendlichkeit, in der alles als Ganzes zusammen ist). In der Mathematik gibt es daher die Finitisten, die sagen, es gibt bloss endlich viele mathematische Objekte in Form von Gedanken und jede Unendlichkeit ist nur potenziell, wohingegen die Platonisten sagen: Mathematische Objekte existieren ausserhalb unseres Kopfes und es gibt derer aktual unendlich viele. Sie wären aber stets nur unter einer bestimmten Hinsicht aktual unendlich, unter anderen Hinsichten aber endlich (z.B. unendlich in einer Dimension, in einer anderen nicht).1 Das kann man jetzt mit allen Formen von unendlichen Klassen durchspielen, mit überabzählbar-unendlichen Kontinua, unendlichen Kardinalzahlen, transfiniten Klassen, etc.

Potenzielle Unendlichkeit ist eigentlich endlich und immer durch etwas Grösseres überbietbar. Die Ursache potenziell unendlicher Gedanken kann mein endliches Denken alleine sein, dafür brauche ich keine äussere Ursache. Mathematische Unendlichkeiten kann ich mir nur zusammengesponnen haben.2 Was ist aber jetzt mit einem Gedankeninhalt, der per se unüberbietbare aktuale Unendlichkeit und Unendlichkeit in jeder Hinsicht besagt? Das ist der Gottesgedanke (das "Absolut-Unendliche", wie ihn der Mathematiker Georg Cantor nannte). 'Gott' bedeutet die Totalität aller Unendlichkeiten, die alle abstrakten, möglichen und realen Universen in eminenter Weise in sich enthält, er ist die Vollkommenheit aller Vollkommenheit, pure Perfektion, absolute Aufgipfelung aller positiven Sachgehalte, das transzendent-unendliche Sein, das absolut Unüberbietbare, das Hen.3 Woher stammt dieser Gedankeninhalt letztendlich? Kann er, wie Feuerbach sagte, eine blosse Projektion unseres im Vergleich dazu verschwindend kleinen, beschränkten Denkens sein? Für Descartes ist diese Annahme absurd. Die Gottesidee muss ihre Ursache in einer extramentalen Realität haben, die dieselbe Seinshöhe hat wie der Gedankeninhalt.

Vom Fleckenteppich der Historie zum transfiniten Gedankenknaller. Hier ist man fast im Herzen des cartesischen Gottesbeweises. Aber nur fast. Ich glaube, dahinter steckt nochmal ein Tiefenargument, das sich im Text nur verstreut findet, aber m.E. die eigentliche Antwort auf den universalen Zweifel der 1. Meditation ist. Doch dazu nächstes mal, sonst geht dieser Beitrag noch ad indefinitum.

1) Z.B. ein Abschnitt Nm,n = {k ε N: m≤k≤n} der natürlichen Zahlen ist endlich, während der gleiche Abschnitt unter reellen Zahlen unendlich wäre, da sind dann noch überabzählbar-unendlich viele Zahlen reingestopft. Man kann unendliche Zahlenmengen einander aufsteigend einverleiben, die natürlichen Zahlen N in die rationalen Q, diese in die reellen R, und R in die komplexen C = R2, C in die Quaternionenalgebra C2 = R4 und die in die Cayleyschen Zahlen R8.

2) Auch eventuelle physikalische Unendlichkeiten wie die von Raum und Zeit kann ich mir zusammengesponnen haben. Empirische Erfahrung von Raum und Zeit ist stets nur endlich. Es gibt keine Sinneserfahrung vom Unendlichen.

3) Also nicht einfach nur die Allklasse, die quasi nur ein Haufen aller Dinge ist, dem aber die perfectio pura der vollkommenen Einheit abgeht.

121 von 229 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Ach, mein geschätzter Ruben Schneider:
Zuerst eine ganz kleine Klarstellungsfrage zum Menschen Descartes: Stimmt es, dass er sich diese verblüffenden Wahnsinnsgedanken als Soldat irgendwo in Süddeutschland gemacht, im Winter, als der böse Krieg Pause machte?
Und zu Ihrer brillianten Anschaulichmachung des Geschehens im Kopfe des Philosophen: Jammerschade, dass in der Lesemaschine überwiegend Bücher in intellektueller Verkürzung, aber gedanklicher Erweiterung so schön "vor"gelesen werden, die ich alle schon habe. Hat aber auch sein Gutes, den als fast geisteskranker Büchernarr ginge ich ungebremst hin und kaufte sie alle und stürzte mich damit ins finanzielle Elend.
Ich freue mich auf die Fortsetzung: Mal sehen, ob ich den Gottesbeweis dann verstehe oder wenigstens den gedanklichen Fehler, der doch irgendwie dahinter stecken muss.
Gruss, Rudi Sander

26.11.2007 / 04:03